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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Der Imperialismus in englischer Auffassung

Der Grundgedanke der Seeleyschen Geschichtsauffassung ist für das gesamte
englische Denken kennzeichnend: er will seiner Geschichtsschreibung eine praktische
Richtung geben, sie soll eine Vorbereitung sein zum politischen Handeln. Schon
in seiner Antrittsvorlesung in Cambridge sprach er über die Wechselbeziehungen
zwischen Geschichte und Politik. Die Geschichte nannte er die Politik der Ver¬
gangenheit und die Politik die Geschichte der Gegenwart. Die Geschichte muß
eine Schule der Staatskunst werden; ohne praktisches Ziel ist sie immer nur
ein Spiel, das höchstens kurzweilige Bücher hervorbringen kann.

Vielleicht erklärt gerade diese Tendenz des Werkes seine starke Verbreitung
auch in größeren Volkskreisen. Denn im allgemeinen ist ja der Engländer
stolz auf seine mangelnde theoretische Begabung, weil er glaubt, daß diese mit
sein enpraktischen Talenten unvereinbar ist. "In der Regel können wir" -- so
führt der Engländer Sydney Low gelegentlich aus -- "keinen Politiker ver¬
tragen, der Theoretiker ist, seine Anschauungen wirklich durchdenkt und sie
systematisch ordnet. Er erscheint uns zu akademisch und intellektuell. Wir
reden wohl mit Achtung von ihm, aber er hat keine Bedeutung in der poli¬
tischen und realen Wirklichkeit. Man hält nur den professionellen Parteipolitiker
für kompetent."

Die fünf Perioden, in die Seeley die neuere Geschichte Englands seit
1500 einteilt, bestätigen seine Grundanschauung über die Entwicklung Gro߬
britanniens zum Imperialismus. Das erste englische Imperium schließt mit
dem Abfall der nordamerikanischen Kolonie, aber das zweite schließt sich nach
Seeley an das erste an. Er studiert die Organisation, die Ursachen und die
Wurzeln des englischen Imperialismus, um daraus Schlüsse zu ziehen und
seine Erhaltung für die Zukunft zu ermöglichen. Er gehört zu den Politikern,
die einsehen, daß es viel leichter ist, ein Weltreich aufzubauen als es zusammen¬
zuhalten. Aus dieser Erkenntnis stammt die Forderung der allgemeinen Wehr¬
pflicht, für die schon vor dem Weltkrieg außer dem alten Feldmarschall Lord
Roberts der Schüler Seeleys, der Historiker Cramb, mit großer Energie
eintrat.

Der englische Staat beruht von Anfang an ^- wie Seeley darlegt -- nicht
auf friedlicher Arbeit, sondern auf Eroberungen: der angelsächsischen, nor-
manischen und irischen. Milde gegen die Eingeborenen kannte er niemals.
Schlimmer als andere Nationen befleckte sich die englische mit den Grausamkeiten
des Sklavenhandels. Aber Seeley wie seine Schüler machen wegen dieser Tat¬
sachen ihrem Vaterlande keinen Vorwurf, denn immer wieder betonen sie, daß
ein so gewaltiger Organismus wie ein Weltreich seinen eigenen Entwicklungs¬
gesetzen folgt. Nach Cramb ist der Entwicklungsgang der Imperien den Wünschen
und Absichten einzelner unzugänglich, für sie ist das Wort Napoleons charak¬
teristisch: I^a politique est la kataütö. Auf dieselbe Weise wird von Conan
Doyle die Politik Englands im Jahre 1807, das Bombardement Kopenhagens
und die Wegnahme der dänischen Flotte entschuldigt. Mit andern Worten: der


Der Imperialismus in englischer Auffassung

Der Grundgedanke der Seeleyschen Geschichtsauffassung ist für das gesamte
englische Denken kennzeichnend: er will seiner Geschichtsschreibung eine praktische
Richtung geben, sie soll eine Vorbereitung sein zum politischen Handeln. Schon
in seiner Antrittsvorlesung in Cambridge sprach er über die Wechselbeziehungen
zwischen Geschichte und Politik. Die Geschichte nannte er die Politik der Ver¬
gangenheit und die Politik die Geschichte der Gegenwart. Die Geschichte muß
eine Schule der Staatskunst werden; ohne praktisches Ziel ist sie immer nur
ein Spiel, das höchstens kurzweilige Bücher hervorbringen kann.

Vielleicht erklärt gerade diese Tendenz des Werkes seine starke Verbreitung
auch in größeren Volkskreisen. Denn im allgemeinen ist ja der Engländer
stolz auf seine mangelnde theoretische Begabung, weil er glaubt, daß diese mit
sein enpraktischen Talenten unvereinbar ist. „In der Regel können wir" — so
führt der Engländer Sydney Low gelegentlich aus — „keinen Politiker ver¬
tragen, der Theoretiker ist, seine Anschauungen wirklich durchdenkt und sie
systematisch ordnet. Er erscheint uns zu akademisch und intellektuell. Wir
reden wohl mit Achtung von ihm, aber er hat keine Bedeutung in der poli¬
tischen und realen Wirklichkeit. Man hält nur den professionellen Parteipolitiker
für kompetent."

Die fünf Perioden, in die Seeley die neuere Geschichte Englands seit
1500 einteilt, bestätigen seine Grundanschauung über die Entwicklung Gro߬
britanniens zum Imperialismus. Das erste englische Imperium schließt mit
dem Abfall der nordamerikanischen Kolonie, aber das zweite schließt sich nach
Seeley an das erste an. Er studiert die Organisation, die Ursachen und die
Wurzeln des englischen Imperialismus, um daraus Schlüsse zu ziehen und
seine Erhaltung für die Zukunft zu ermöglichen. Er gehört zu den Politikern,
die einsehen, daß es viel leichter ist, ein Weltreich aufzubauen als es zusammen¬
zuhalten. Aus dieser Erkenntnis stammt die Forderung der allgemeinen Wehr¬
pflicht, für die schon vor dem Weltkrieg außer dem alten Feldmarschall Lord
Roberts der Schüler Seeleys, der Historiker Cramb, mit großer Energie
eintrat.

Der englische Staat beruht von Anfang an ^- wie Seeley darlegt — nicht
auf friedlicher Arbeit, sondern auf Eroberungen: der angelsächsischen, nor-
manischen und irischen. Milde gegen die Eingeborenen kannte er niemals.
Schlimmer als andere Nationen befleckte sich die englische mit den Grausamkeiten
des Sklavenhandels. Aber Seeley wie seine Schüler machen wegen dieser Tat¬
sachen ihrem Vaterlande keinen Vorwurf, denn immer wieder betonen sie, daß
ein so gewaltiger Organismus wie ein Weltreich seinen eigenen Entwicklungs¬
gesetzen folgt. Nach Cramb ist der Entwicklungsgang der Imperien den Wünschen
und Absichten einzelner unzugänglich, für sie ist das Wort Napoleons charak¬
teristisch: I^a politique est la kataütö. Auf dieselbe Weise wird von Conan
Doyle die Politik Englands im Jahre 1807, das Bombardement Kopenhagens
und die Wegnahme der dänischen Flotte entschuldigt. Mit andern Worten: der


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[0211] Der Imperialismus in englischer Auffassung Der Grundgedanke der Seeleyschen Geschichtsauffassung ist für das gesamte englische Denken kennzeichnend: er will seiner Geschichtsschreibung eine praktische Richtung geben, sie soll eine Vorbereitung sein zum politischen Handeln. Schon in seiner Antrittsvorlesung in Cambridge sprach er über die Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Politik. Die Geschichte nannte er die Politik der Ver¬ gangenheit und die Politik die Geschichte der Gegenwart. Die Geschichte muß eine Schule der Staatskunst werden; ohne praktisches Ziel ist sie immer nur ein Spiel, das höchstens kurzweilige Bücher hervorbringen kann. Vielleicht erklärt gerade diese Tendenz des Werkes seine starke Verbreitung auch in größeren Volkskreisen. Denn im allgemeinen ist ja der Engländer stolz auf seine mangelnde theoretische Begabung, weil er glaubt, daß diese mit sein enpraktischen Talenten unvereinbar ist. „In der Regel können wir" — so führt der Engländer Sydney Low gelegentlich aus — „keinen Politiker ver¬ tragen, der Theoretiker ist, seine Anschauungen wirklich durchdenkt und sie systematisch ordnet. Er erscheint uns zu akademisch und intellektuell. Wir reden wohl mit Achtung von ihm, aber er hat keine Bedeutung in der poli¬ tischen und realen Wirklichkeit. Man hält nur den professionellen Parteipolitiker für kompetent." Die fünf Perioden, in die Seeley die neuere Geschichte Englands seit 1500 einteilt, bestätigen seine Grundanschauung über die Entwicklung Gro߬ britanniens zum Imperialismus. Das erste englische Imperium schließt mit dem Abfall der nordamerikanischen Kolonie, aber das zweite schließt sich nach Seeley an das erste an. Er studiert die Organisation, die Ursachen und die Wurzeln des englischen Imperialismus, um daraus Schlüsse zu ziehen und seine Erhaltung für die Zukunft zu ermöglichen. Er gehört zu den Politikern, die einsehen, daß es viel leichter ist, ein Weltreich aufzubauen als es zusammen¬ zuhalten. Aus dieser Erkenntnis stammt die Forderung der allgemeinen Wehr¬ pflicht, für die schon vor dem Weltkrieg außer dem alten Feldmarschall Lord Roberts der Schüler Seeleys, der Historiker Cramb, mit großer Energie eintrat. Der englische Staat beruht von Anfang an ^- wie Seeley darlegt — nicht auf friedlicher Arbeit, sondern auf Eroberungen: der angelsächsischen, nor- manischen und irischen. Milde gegen die Eingeborenen kannte er niemals. Schlimmer als andere Nationen befleckte sich die englische mit den Grausamkeiten des Sklavenhandels. Aber Seeley wie seine Schüler machen wegen dieser Tat¬ sachen ihrem Vaterlande keinen Vorwurf, denn immer wieder betonen sie, daß ein so gewaltiger Organismus wie ein Weltreich seinen eigenen Entwicklungs¬ gesetzen folgt. Nach Cramb ist der Entwicklungsgang der Imperien den Wünschen und Absichten einzelner unzugänglich, für sie ist das Wort Napoleons charak¬ teristisch: I^a politique est la kataütö. Auf dieselbe Weise wird von Conan Doyle die Politik Englands im Jahre 1807, das Bombardement Kopenhagens und die Wegnahme der dänischen Flotte entschuldigt. Mit andern Worten: der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/211>, abgerufen am 06.05.2024.