Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vor Imperialismus in englischer Auffassung

Bruch der Neutralität eines kleinen Staates war gerechtfertigt, weil vitale
Interessen auf dem Spiele standen. Das englische Imperium ist bestimmt
-- so drückt sich ein anderer Schüler Seeleys, Charles Wentworth Dilke*), von
dem übrigens der so populäre Ausdruck "(Zreater Vritain" stammt, aus --
das "Oberimperium" der Welt zu werden, denn der englische Imperialismus
ist seinem Wesen nach "Überimperialismus", und auch der englische Nationalismus
ist ein besonderer Nationalismus -- ein "Übernationalismus". Nach Dilke
liegt die zukünftige Geschichte allein in der Macht des englischen Volksstammes,
nur noch die Vereinigten Staaten und Rußland läßt er neben England gelten.
Er untersucht die Bedingungen, unter denen die beiden angelsächsischen Reiche das
Übergewicht gegen Rußland bewahren können. China wird nach seiner Ansicht
später unter den Einfluß Indiens und der britischen Kronkolonien kommen.
Für Deutschland findet sich kein maßgebender Platz in der zukünftigen Welt¬
geschichte.

Die Entwicklung zum Weltreich bleibt aber den genannten Historikern
zufolge keineswegs ohne Einfluß auf das innerstaatliche Leben. Es muß, um
die Erhaltung des Weltreichs zu gewährleisten, seine Bürger zu tieferem
sozialen Bewußtsein erziehen. Es braucht imperialistisch und demokratisch
denkende und fühlende Staatsglieder. Die Weltmacht besteht nicht allein in
äußerster Ausdehnung des alten Nationalstaates, sondern in der Ausbreitung
britischen Geistes über die übrige Welt. Alle Menschen, die dem englischen
Imperium unterworfen sind, sollen in den Stand gesetzt werden, die Menschheit,
ihre Vergangenheit und ihre Zukunft von englischem Gesichtspunkt aus zu sehen.
Die unterworfenen Völker sollen religiöse Toleranz und Liebe zur sozialen
Freiheit von dem Mutterlande lernen. Für Lord Milner, einen der hervor¬
ragendsten Imperialisten, hat der Imperialismus die Tiefe und Bedeutung eines
religiösen Glaubens und in höherem Maße eine moralische als eine materielle
Bedeutung. Seiner Auffassung nach liegt das Prinzip des wahren Imperialismus
in der Bewahrung der Einigkeit und des Zusammenhaltens innerhalb eines
großen Volkes, so daß diese politische Einheit imstande ist, sich weiter frei zu
entwickeln, indem sie den Gesetzen ihres eigenen Wesens folgt.

Dieser englische Imperialismus war nicht immer ein bewußter. Seeleys
Buch bezeichnet von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet den Beginn einer neuen
Epoche. Daß gerade in den achtziger Jahren der Übergang vom unbewußten
zum bewußten imperialistischen Streben notwendig wurde, lag in dem Aufblühen
Deutschlands, des Konkurrenten Englands. Daneben machten sich im Innern
des englischen Weltstaates Zustände bemerkbar, die eine theoretische Behandlung
imperialistischer Probleme gebieterisch forderten.



*) Vergleiche Problems ok Qrester Lritain, London 1890. Auf ähnlichem Stand¬
punkt steht James Anthony Fronde in seinem Werke "Ocean" or LnMnä -mZ ner Lolonies"
(London 1886).
Vor Imperialismus in englischer Auffassung

Bruch der Neutralität eines kleinen Staates war gerechtfertigt, weil vitale
Interessen auf dem Spiele standen. Das englische Imperium ist bestimmt
— so drückt sich ein anderer Schüler Seeleys, Charles Wentworth Dilke*), von
dem übrigens der so populäre Ausdruck „(Zreater Vritain" stammt, aus —
das „Oberimperium" der Welt zu werden, denn der englische Imperialismus
ist seinem Wesen nach „Überimperialismus", und auch der englische Nationalismus
ist ein besonderer Nationalismus — ein „Übernationalismus". Nach Dilke
liegt die zukünftige Geschichte allein in der Macht des englischen Volksstammes,
nur noch die Vereinigten Staaten und Rußland läßt er neben England gelten.
Er untersucht die Bedingungen, unter denen die beiden angelsächsischen Reiche das
Übergewicht gegen Rußland bewahren können. China wird nach seiner Ansicht
später unter den Einfluß Indiens und der britischen Kronkolonien kommen.
Für Deutschland findet sich kein maßgebender Platz in der zukünftigen Welt¬
geschichte.

Die Entwicklung zum Weltreich bleibt aber den genannten Historikern
zufolge keineswegs ohne Einfluß auf das innerstaatliche Leben. Es muß, um
die Erhaltung des Weltreichs zu gewährleisten, seine Bürger zu tieferem
sozialen Bewußtsein erziehen. Es braucht imperialistisch und demokratisch
denkende und fühlende Staatsglieder. Die Weltmacht besteht nicht allein in
äußerster Ausdehnung des alten Nationalstaates, sondern in der Ausbreitung
britischen Geistes über die übrige Welt. Alle Menschen, die dem englischen
Imperium unterworfen sind, sollen in den Stand gesetzt werden, die Menschheit,
ihre Vergangenheit und ihre Zukunft von englischem Gesichtspunkt aus zu sehen.
Die unterworfenen Völker sollen religiöse Toleranz und Liebe zur sozialen
Freiheit von dem Mutterlande lernen. Für Lord Milner, einen der hervor¬
ragendsten Imperialisten, hat der Imperialismus die Tiefe und Bedeutung eines
religiösen Glaubens und in höherem Maße eine moralische als eine materielle
Bedeutung. Seiner Auffassung nach liegt das Prinzip des wahren Imperialismus
in der Bewahrung der Einigkeit und des Zusammenhaltens innerhalb eines
großen Volkes, so daß diese politische Einheit imstande ist, sich weiter frei zu
entwickeln, indem sie den Gesetzen ihres eigenen Wesens folgt.

Dieser englische Imperialismus war nicht immer ein bewußter. Seeleys
Buch bezeichnet von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet den Beginn einer neuen
Epoche. Daß gerade in den achtziger Jahren der Übergang vom unbewußten
zum bewußten imperialistischen Streben notwendig wurde, lag in dem Aufblühen
Deutschlands, des Konkurrenten Englands. Daneben machten sich im Innern
des englischen Weltstaates Zustände bemerkbar, die eine theoretische Behandlung
imperialistischer Probleme gebieterisch forderten.



*) Vergleiche Problems ok Qrester Lritain, London 1890. Auf ähnlichem Stand¬
punkt steht James Anthony Fronde in seinem Werke „Ocean» or LnMnä -mZ ner Lolonies"
(London 1886).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0212" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323751"/>
          <fw type="header" place="top"> Vor Imperialismus in englischer Auffassung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_677" prev="#ID_676"> Bruch der Neutralität eines kleinen Staates war gerechtfertigt, weil vitale<lb/>
Interessen auf dem Spiele standen. Das englische Imperium ist bestimmt<lb/>
&#x2014; so drückt sich ein anderer Schüler Seeleys, Charles Wentworth Dilke*), von<lb/>
dem übrigens der so populäre Ausdruck &#x201E;(Zreater Vritain" stammt, aus &#x2014;<lb/>
das &#x201E;Oberimperium" der Welt zu werden, denn der englische Imperialismus<lb/>
ist seinem Wesen nach &#x201E;Überimperialismus", und auch der englische Nationalismus<lb/>
ist ein besonderer Nationalismus &#x2014; ein &#x201E;Übernationalismus". Nach Dilke<lb/>
liegt die zukünftige Geschichte allein in der Macht des englischen Volksstammes,<lb/>
nur noch die Vereinigten Staaten und Rußland läßt er neben England gelten.<lb/>
Er untersucht die Bedingungen, unter denen die beiden angelsächsischen Reiche das<lb/>
Übergewicht gegen Rußland bewahren können. China wird nach seiner Ansicht<lb/>
später unter den Einfluß Indiens und der britischen Kronkolonien kommen.<lb/>
Für Deutschland findet sich kein maßgebender Platz in der zukünftigen Welt¬<lb/>
geschichte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_678"> Die Entwicklung zum Weltreich bleibt aber den genannten Historikern<lb/>
zufolge keineswegs ohne Einfluß auf das innerstaatliche Leben. Es muß, um<lb/>
die Erhaltung des Weltreichs zu gewährleisten, seine Bürger zu tieferem<lb/>
sozialen Bewußtsein erziehen. Es braucht imperialistisch und demokratisch<lb/>
denkende und fühlende Staatsglieder. Die Weltmacht besteht nicht allein in<lb/>
äußerster Ausdehnung des alten Nationalstaates, sondern in der Ausbreitung<lb/>
britischen Geistes über die übrige Welt. Alle Menschen, die dem englischen<lb/>
Imperium unterworfen sind, sollen in den Stand gesetzt werden, die Menschheit,<lb/>
ihre Vergangenheit und ihre Zukunft von englischem Gesichtspunkt aus zu sehen.<lb/>
Die unterworfenen Völker sollen religiöse Toleranz und Liebe zur sozialen<lb/>
Freiheit von dem Mutterlande lernen. Für Lord Milner, einen der hervor¬<lb/>
ragendsten Imperialisten, hat der Imperialismus die Tiefe und Bedeutung eines<lb/>
religiösen Glaubens und in höherem Maße eine moralische als eine materielle<lb/>
Bedeutung. Seiner Auffassung nach liegt das Prinzip des wahren Imperialismus<lb/>
in der Bewahrung der Einigkeit und des Zusammenhaltens innerhalb eines<lb/>
großen Volkes, so daß diese politische Einheit imstande ist, sich weiter frei zu<lb/>
entwickeln, indem sie den Gesetzen ihres eigenen Wesens folgt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_679"> Dieser englische Imperialismus war nicht immer ein bewußter. Seeleys<lb/>
Buch bezeichnet von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet den Beginn einer neuen<lb/>
Epoche. Daß gerade in den achtziger Jahren der Übergang vom unbewußten<lb/>
zum bewußten imperialistischen Streben notwendig wurde, lag in dem Aufblühen<lb/>
Deutschlands, des Konkurrenten Englands. Daneben machten sich im Innern<lb/>
des englischen Weltstaates Zustände bemerkbar, die eine theoretische Behandlung<lb/>
imperialistischer Probleme gebieterisch forderten.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_56" place="foot"> *) Vergleiche Problems ok Qrester Lritain, London 1890. Auf ähnlichem Stand¬<lb/>
punkt steht James Anthony Fronde in seinem Werke &#x201E;Ocean» or LnMnä -mZ ner Lolonies"<lb/>
(London 1886).</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0212] Vor Imperialismus in englischer Auffassung Bruch der Neutralität eines kleinen Staates war gerechtfertigt, weil vitale Interessen auf dem Spiele standen. Das englische Imperium ist bestimmt — so drückt sich ein anderer Schüler Seeleys, Charles Wentworth Dilke*), von dem übrigens der so populäre Ausdruck „(Zreater Vritain" stammt, aus — das „Oberimperium" der Welt zu werden, denn der englische Imperialismus ist seinem Wesen nach „Überimperialismus", und auch der englische Nationalismus ist ein besonderer Nationalismus — ein „Übernationalismus". Nach Dilke liegt die zukünftige Geschichte allein in der Macht des englischen Volksstammes, nur noch die Vereinigten Staaten und Rußland läßt er neben England gelten. Er untersucht die Bedingungen, unter denen die beiden angelsächsischen Reiche das Übergewicht gegen Rußland bewahren können. China wird nach seiner Ansicht später unter den Einfluß Indiens und der britischen Kronkolonien kommen. Für Deutschland findet sich kein maßgebender Platz in der zukünftigen Welt¬ geschichte. Die Entwicklung zum Weltreich bleibt aber den genannten Historikern zufolge keineswegs ohne Einfluß auf das innerstaatliche Leben. Es muß, um die Erhaltung des Weltreichs zu gewährleisten, seine Bürger zu tieferem sozialen Bewußtsein erziehen. Es braucht imperialistisch und demokratisch denkende und fühlende Staatsglieder. Die Weltmacht besteht nicht allein in äußerster Ausdehnung des alten Nationalstaates, sondern in der Ausbreitung britischen Geistes über die übrige Welt. Alle Menschen, die dem englischen Imperium unterworfen sind, sollen in den Stand gesetzt werden, die Menschheit, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft von englischem Gesichtspunkt aus zu sehen. Die unterworfenen Völker sollen religiöse Toleranz und Liebe zur sozialen Freiheit von dem Mutterlande lernen. Für Lord Milner, einen der hervor¬ ragendsten Imperialisten, hat der Imperialismus die Tiefe und Bedeutung eines religiösen Glaubens und in höherem Maße eine moralische als eine materielle Bedeutung. Seiner Auffassung nach liegt das Prinzip des wahren Imperialismus in der Bewahrung der Einigkeit und des Zusammenhaltens innerhalb eines großen Volkes, so daß diese politische Einheit imstande ist, sich weiter frei zu entwickeln, indem sie den Gesetzen ihres eigenen Wesens folgt. Dieser englische Imperialismus war nicht immer ein bewußter. Seeleys Buch bezeichnet von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet den Beginn einer neuen Epoche. Daß gerade in den achtziger Jahren der Übergang vom unbewußten zum bewußten imperialistischen Streben notwendig wurde, lag in dem Aufblühen Deutschlands, des Konkurrenten Englands. Daneben machten sich im Innern des englischen Weltstaates Zustände bemerkbar, die eine theoretische Behandlung imperialistischer Probleme gebieterisch forderten. *) Vergleiche Problems ok Qrester Lritain, London 1890. Auf ähnlichem Stand¬ punkt steht James Anthony Fronde in seinem Werke „Ocean» or LnMnä -mZ ner Lolonies" (London 1886).

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/212
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/212>, abgerufen am 26.05.2024.