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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Bette Alliance

So weit war es nun glücklich auf dem Wiener Kongreß bei dem Streit
um Polen und Sachsen gekommen: noch war kein Jahr verflossen, daß die
verbündeten Mächte den Friedensstörer Europas gestürzt hatten -- da rüsteten
sie schon heimlich zum Kriege gegeneinander! Preußen und Rußland auf der
einen, Österreich, Frankreich, England auf der anderen Seite. Da schlug die
Kunde von der Rückkehr Napoleons in das Elend "dieser sonderbaren Ver¬
sammlung, die bis jetzt unter dem Namen der bevollmächtigten Minister Europa
beherrschte" *), wie ein reinigendes Gewitter. Mit zornigem Staunen und nicht
ohne Entsetzen vernahm die Welt die pompöse Proklamation, die der von Elba
geflüchtete Imperator aus Cannes am 1. März 1815 an seine schlachtergrauten
Veteranen erließ: "Der Adler mit den Nationalfarben wird von Turm zu
Turm fliegen bis zu den Türmen von Notre Dame." . .. Mit einem Schlage
war aller Zank und Hader unter den vier Großmächten vergessen: am 25. März
erneuerten Preußen, Österreich. England und Rußland das Bündnis von
Chaumont. Napoleon selbst wurde feierlich geächtet. Vier Heere -- in erster
Linie 600000 Mann -- wurden gegen ihn aufgeboten, gegen den noch vor
Jahresfrist in Frankreich Allmächtigen, der jetzt trotz aller Zugeständnisse an
die öffentliche Meinung im Lande nur 271000 Mann aufzubringen vermochte.
Das vierte Heer, aus das allein es hier ankommt, wurde in den Niederlanden
aufgestilli: 90000 Mann -- Engländer**). Holländer und norddeutsche --
unter Wellington in der Gegend von Brüssel, 112000 Preußen an der Sambre
und Maas unter Blücher, der wieder Gneisenau als Chef seines General¬
stabes hatte!

Napoleons Proklamation hatte in Frankreich zunächst nur bei seinen alten
Soldaten, die die Erinnerung an die Gloire unter dem vergötterten Imperator
nicht aus dem Herzen reißen konnten, den erwarteten Widerhall gefunden. Die
Mehrzahl der Franzosen blieb kalt: sie hatte seit mehr als zwei Jahrzehnten
nur einen Wunsch: den Frieden! Napoleon erkannte das wohl. Nur durch
einen glänzenden Erfolg hätte er die Masse der Nation noch einmal mit sich
fortreißen können. Einen solchen Erfolg -- auf dem Schlachtfelde natürlich --
galt es jetzt zu erreichen. Mit einem Blick übersah er die strategische Lage:
außer der vierten Armee der Verbündeten in Belgien waren die Feinde noch
im weiten Felde. Die beiden Gruppen der vierten Armee aber, in Wahrheit
zwei selbständige Heere, standen nicht mehr weit voneinander. Aber ihre
einzelnen Teile waren noch nicht annähernd konzentriert.

Napoleon hatte zunächst 128000 Mann seiner alten Truppen zusammen¬
raffen können. Gelang es ihm, sich mit jähem Ursprung zwischen Blücher und
Wellington zu "werfen und sie einzeln zu schlagen, dann hatte er gewonnen.
Dann ging der Rest von Wellingtons Truppen in Antwerpen auf die Schiffe
zurück -- die Koalition war zersprengt, Frankreich wieder in seiner Hand.




*) Worte Blüchers an Friedrich Wilhelm den Dritten vom 20. November 1816.
--) Engländer waren davon nur 2S000 Mann.
Bette Alliance

So weit war es nun glücklich auf dem Wiener Kongreß bei dem Streit
um Polen und Sachsen gekommen: noch war kein Jahr verflossen, daß die
verbündeten Mächte den Friedensstörer Europas gestürzt hatten — da rüsteten
sie schon heimlich zum Kriege gegeneinander! Preußen und Rußland auf der
einen, Österreich, Frankreich, England auf der anderen Seite. Da schlug die
Kunde von der Rückkehr Napoleons in das Elend „dieser sonderbaren Ver¬
sammlung, die bis jetzt unter dem Namen der bevollmächtigten Minister Europa
beherrschte" *), wie ein reinigendes Gewitter. Mit zornigem Staunen und nicht
ohne Entsetzen vernahm die Welt die pompöse Proklamation, die der von Elba
geflüchtete Imperator aus Cannes am 1. März 1815 an seine schlachtergrauten
Veteranen erließ: „Der Adler mit den Nationalfarben wird von Turm zu
Turm fliegen bis zu den Türmen von Notre Dame." . .. Mit einem Schlage
war aller Zank und Hader unter den vier Großmächten vergessen: am 25. März
erneuerten Preußen, Österreich. England und Rußland das Bündnis von
Chaumont. Napoleon selbst wurde feierlich geächtet. Vier Heere — in erster
Linie 600000 Mann — wurden gegen ihn aufgeboten, gegen den noch vor
Jahresfrist in Frankreich Allmächtigen, der jetzt trotz aller Zugeständnisse an
die öffentliche Meinung im Lande nur 271000 Mann aufzubringen vermochte.
Das vierte Heer, aus das allein es hier ankommt, wurde in den Niederlanden
aufgestilli: 90000 Mann — Engländer**). Holländer und norddeutsche —
unter Wellington in der Gegend von Brüssel, 112000 Preußen an der Sambre
und Maas unter Blücher, der wieder Gneisenau als Chef seines General¬
stabes hatte!

Napoleons Proklamation hatte in Frankreich zunächst nur bei seinen alten
Soldaten, die die Erinnerung an die Gloire unter dem vergötterten Imperator
nicht aus dem Herzen reißen konnten, den erwarteten Widerhall gefunden. Die
Mehrzahl der Franzosen blieb kalt: sie hatte seit mehr als zwei Jahrzehnten
nur einen Wunsch: den Frieden! Napoleon erkannte das wohl. Nur durch
einen glänzenden Erfolg hätte er die Masse der Nation noch einmal mit sich
fortreißen können. Einen solchen Erfolg — auf dem Schlachtfelde natürlich —
galt es jetzt zu erreichen. Mit einem Blick übersah er die strategische Lage:
außer der vierten Armee der Verbündeten in Belgien waren die Feinde noch
im weiten Felde. Die beiden Gruppen der vierten Armee aber, in Wahrheit
zwei selbständige Heere, standen nicht mehr weit voneinander. Aber ihre
einzelnen Teile waren noch nicht annähernd konzentriert.

Napoleon hatte zunächst 128000 Mann seiner alten Truppen zusammen¬
raffen können. Gelang es ihm, sich mit jähem Ursprung zwischen Blücher und
Wellington zu «werfen und sie einzeln zu schlagen, dann hatte er gewonnen.
Dann ging der Rest von Wellingtons Truppen in Antwerpen auf die Schiffe
zurück — die Koalition war zersprengt, Frankreich wieder in seiner Hand.




*) Worte Blüchers an Friedrich Wilhelm den Dritten vom 20. November 1816.
—) Engländer waren davon nur 2S000 Mann.
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[0340] Bette Alliance So weit war es nun glücklich auf dem Wiener Kongreß bei dem Streit um Polen und Sachsen gekommen: noch war kein Jahr verflossen, daß die verbündeten Mächte den Friedensstörer Europas gestürzt hatten — da rüsteten sie schon heimlich zum Kriege gegeneinander! Preußen und Rußland auf der einen, Österreich, Frankreich, England auf der anderen Seite. Da schlug die Kunde von der Rückkehr Napoleons in das Elend „dieser sonderbaren Ver¬ sammlung, die bis jetzt unter dem Namen der bevollmächtigten Minister Europa beherrschte" *), wie ein reinigendes Gewitter. Mit zornigem Staunen und nicht ohne Entsetzen vernahm die Welt die pompöse Proklamation, die der von Elba geflüchtete Imperator aus Cannes am 1. März 1815 an seine schlachtergrauten Veteranen erließ: „Der Adler mit den Nationalfarben wird von Turm zu Turm fliegen bis zu den Türmen von Notre Dame." . .. Mit einem Schlage war aller Zank und Hader unter den vier Großmächten vergessen: am 25. März erneuerten Preußen, Österreich. England und Rußland das Bündnis von Chaumont. Napoleon selbst wurde feierlich geächtet. Vier Heere — in erster Linie 600000 Mann — wurden gegen ihn aufgeboten, gegen den noch vor Jahresfrist in Frankreich Allmächtigen, der jetzt trotz aller Zugeständnisse an die öffentliche Meinung im Lande nur 271000 Mann aufzubringen vermochte. Das vierte Heer, aus das allein es hier ankommt, wurde in den Niederlanden aufgestilli: 90000 Mann — Engländer**). Holländer und norddeutsche — unter Wellington in der Gegend von Brüssel, 112000 Preußen an der Sambre und Maas unter Blücher, der wieder Gneisenau als Chef seines General¬ stabes hatte! Napoleons Proklamation hatte in Frankreich zunächst nur bei seinen alten Soldaten, die die Erinnerung an die Gloire unter dem vergötterten Imperator nicht aus dem Herzen reißen konnten, den erwarteten Widerhall gefunden. Die Mehrzahl der Franzosen blieb kalt: sie hatte seit mehr als zwei Jahrzehnten nur einen Wunsch: den Frieden! Napoleon erkannte das wohl. Nur durch einen glänzenden Erfolg hätte er die Masse der Nation noch einmal mit sich fortreißen können. Einen solchen Erfolg — auf dem Schlachtfelde natürlich — galt es jetzt zu erreichen. Mit einem Blick übersah er die strategische Lage: außer der vierten Armee der Verbündeten in Belgien waren die Feinde noch im weiten Felde. Die beiden Gruppen der vierten Armee aber, in Wahrheit zwei selbständige Heere, standen nicht mehr weit voneinander. Aber ihre einzelnen Teile waren noch nicht annähernd konzentriert. Napoleon hatte zunächst 128000 Mann seiner alten Truppen zusammen¬ raffen können. Gelang es ihm, sich mit jähem Ursprung zwischen Blücher und Wellington zu «werfen und sie einzeln zu schlagen, dann hatte er gewonnen. Dann ging der Rest von Wellingtons Truppen in Antwerpen auf die Schiffe zurück — die Koalition war zersprengt, Frankreich wieder in seiner Hand. *) Worte Blüchers an Friedrich Wilhelm den Dritten vom 20. November 1816. —) Engländer waren davon nur 2S000 Mann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/340>, abgerufen am 28.04.2024.