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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

die sittliche, geistige und wirtschaftliche Kraft und Tüchtigkeit des ganzen deutschen
Volkes, über unsere friedfertige Politik in den verflossenen Jahrzehnten, unser
Recht in diesem Kriege, unsere so unglaublich beschimpfte Kultur, unsere ganze
"deutsche Art" überhaupt -- von Holländern geschrieben worden.

Zu dieser Gruppe gehört das neue Buch des bekannten niederländischen
Juristen Dr. Labberton "Die Verletzung der belgischen Neutralität". Gelegentliche,
mehr oder weniger eingehende holländische Betrachtungen dieses Problems ver¬
danken wir ja schon unter anderen Colyn, Staat und besonders Vatter ("Bei¬
träge zur Entstehungsgeschichte des Großen Krieges"), aber die erste ausführliche
Behandlung dieser wohl zum Lieblingsthema der heutigen und künftigen Welt¬
kriegsliteratur berufenen Streitfrage von holländischer Seite, vielleicht von feiten
der ganzen neutralen Welt bringt das Labbertonsche Buch.

Das Werk ist in einem ganz neuen Rahmen gehalten, es stellt eine eigen¬
artige, höchst interessante Variation in der Behandlung der schon so und so oft, je
nach der subjektiven Auffassung der "Parteien" verschieden beleuchteten Frage dar,
indem es sie, von den allgemein bekannten Tatsachen ausgehend und über Tages¬
meinungen und Leidenschaften sich hinaushebend, als Problem von einer Seite
angreift, die nach Ansicht des Verfassers in all dem Hin und Her der
Debatten bisher wenig oder gar nicht zur Geltung gekommen ist, nämlich von
der rechts philosophischen, der ethischen Seite. Bei einer solchen Betrachtungs¬
weise ergibt es sich indes von selbst, daß das Werk über das in der Aufschrift
gesetzte Thema doch hinausgehen muß, und so stellt es sich in der Tat auch dar
nicht nur als ein Versuch der Rechtfertigung der deutschen Politik im Falle
Belgien vom ethischen Standpunkt, sondern auch als eine ethische Charakterisierung
des deutschen Staatsgedankens und im weiteren Sinne der deutschen Volls-
psvche, des "deutschen Geistes" überhaupt. Was die Lektüre im einzelnen so
sehr interessant macht, ist die erstaunliche Beherrschung der mannigfachen in die
Betrachtungen einbezogenen Gebiete durch den Verfasser, die aus jeder Zeile
sprechende tiefgründige, lebensvolle Weisheit und die überaus reiche Belesenheit,
die die Ausführungen mit zahlreichen Zitaten aus der ganzen einschlägigen
Weltliteratur würzt. Bewundernswert ist ferner die bei aller Sachlichkeit und
abwägenden Vorsicht des echten Juristen, bei aller wissenschaftlichen Gründlichkeit,
welche die zum Teil sehr schwierigen und abstrakten Deduktionen erfordern, klare,
fast klassisch einfache und dabei nie nüchterne, stets fesselnde Sprache und --
was uns Deutsche besonders erfreulich berührt -- das tiefe Verständnis für
Deutschland, für deutsches Wesen und das mutige Bekenntnis zu unserem guten Recht
in diesem Kriege. Wir können hier natürlich nur in größeren Zügen die Gedanken¬
gänge des Buches wiedergeben, dürfen aber hoffen, daß es den deutschen Lesern
später auch in einer Übersetzung zugänglich gemacht werden wird.

Zunächst stellt der Verfasser fest, daß der belgische Vertrag von 1839 in
erster Linie eine Gewähr gegen einen Mißbrauch belgischen Gebietes durch


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

die sittliche, geistige und wirtschaftliche Kraft und Tüchtigkeit des ganzen deutschen
Volkes, über unsere friedfertige Politik in den verflossenen Jahrzehnten, unser
Recht in diesem Kriege, unsere so unglaublich beschimpfte Kultur, unsere ganze
„deutsche Art" überhaupt — von Holländern geschrieben worden.

Zu dieser Gruppe gehört das neue Buch des bekannten niederländischen
Juristen Dr. Labberton „Die Verletzung der belgischen Neutralität". Gelegentliche,
mehr oder weniger eingehende holländische Betrachtungen dieses Problems ver¬
danken wir ja schon unter anderen Colyn, Staat und besonders Vatter („Bei¬
träge zur Entstehungsgeschichte des Großen Krieges"), aber die erste ausführliche
Behandlung dieser wohl zum Lieblingsthema der heutigen und künftigen Welt¬
kriegsliteratur berufenen Streitfrage von holländischer Seite, vielleicht von feiten
der ganzen neutralen Welt bringt das Labbertonsche Buch.

Das Werk ist in einem ganz neuen Rahmen gehalten, es stellt eine eigen¬
artige, höchst interessante Variation in der Behandlung der schon so und so oft, je
nach der subjektiven Auffassung der „Parteien" verschieden beleuchteten Frage dar,
indem es sie, von den allgemein bekannten Tatsachen ausgehend und über Tages¬
meinungen und Leidenschaften sich hinaushebend, als Problem von einer Seite
angreift, die nach Ansicht des Verfassers in all dem Hin und Her der
Debatten bisher wenig oder gar nicht zur Geltung gekommen ist, nämlich von
der rechts philosophischen, der ethischen Seite. Bei einer solchen Betrachtungs¬
weise ergibt es sich indes von selbst, daß das Werk über das in der Aufschrift
gesetzte Thema doch hinausgehen muß, und so stellt es sich in der Tat auch dar
nicht nur als ein Versuch der Rechtfertigung der deutschen Politik im Falle
Belgien vom ethischen Standpunkt, sondern auch als eine ethische Charakterisierung
des deutschen Staatsgedankens und im weiteren Sinne der deutschen Volls-
psvche, des „deutschen Geistes" überhaupt. Was die Lektüre im einzelnen so
sehr interessant macht, ist die erstaunliche Beherrschung der mannigfachen in die
Betrachtungen einbezogenen Gebiete durch den Verfasser, die aus jeder Zeile
sprechende tiefgründige, lebensvolle Weisheit und die überaus reiche Belesenheit,
die die Ausführungen mit zahlreichen Zitaten aus der ganzen einschlägigen
Weltliteratur würzt. Bewundernswert ist ferner die bei aller Sachlichkeit und
abwägenden Vorsicht des echten Juristen, bei aller wissenschaftlichen Gründlichkeit,
welche die zum Teil sehr schwierigen und abstrakten Deduktionen erfordern, klare,
fast klassisch einfache und dabei nie nüchterne, stets fesselnde Sprache und —
was uns Deutsche besonders erfreulich berührt — das tiefe Verständnis für
Deutschland, für deutsches Wesen und das mutige Bekenntnis zu unserem guten Recht
in diesem Kriege. Wir können hier natürlich nur in größeren Zügen die Gedanken¬
gänge des Buches wiedergeben, dürfen aber hoffen, daß es den deutschen Lesern
später auch in einer Übersetzung zugänglich gemacht werden wird.

Zunächst stellt der Verfasser fest, daß der belgische Vertrag von 1839 in
erster Linie eine Gewähr gegen einen Mißbrauch belgischen Gebietes durch


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[0373] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung die sittliche, geistige und wirtschaftliche Kraft und Tüchtigkeit des ganzen deutschen Volkes, über unsere friedfertige Politik in den verflossenen Jahrzehnten, unser Recht in diesem Kriege, unsere so unglaublich beschimpfte Kultur, unsere ganze „deutsche Art" überhaupt — von Holländern geschrieben worden. Zu dieser Gruppe gehört das neue Buch des bekannten niederländischen Juristen Dr. Labberton „Die Verletzung der belgischen Neutralität". Gelegentliche, mehr oder weniger eingehende holländische Betrachtungen dieses Problems ver¬ danken wir ja schon unter anderen Colyn, Staat und besonders Vatter („Bei¬ träge zur Entstehungsgeschichte des Großen Krieges"), aber die erste ausführliche Behandlung dieser wohl zum Lieblingsthema der heutigen und künftigen Welt¬ kriegsliteratur berufenen Streitfrage von holländischer Seite, vielleicht von feiten der ganzen neutralen Welt bringt das Labbertonsche Buch. Das Werk ist in einem ganz neuen Rahmen gehalten, es stellt eine eigen¬ artige, höchst interessante Variation in der Behandlung der schon so und so oft, je nach der subjektiven Auffassung der „Parteien" verschieden beleuchteten Frage dar, indem es sie, von den allgemein bekannten Tatsachen ausgehend und über Tages¬ meinungen und Leidenschaften sich hinaushebend, als Problem von einer Seite angreift, die nach Ansicht des Verfassers in all dem Hin und Her der Debatten bisher wenig oder gar nicht zur Geltung gekommen ist, nämlich von der rechts philosophischen, der ethischen Seite. Bei einer solchen Betrachtungs¬ weise ergibt es sich indes von selbst, daß das Werk über das in der Aufschrift gesetzte Thema doch hinausgehen muß, und so stellt es sich in der Tat auch dar nicht nur als ein Versuch der Rechtfertigung der deutschen Politik im Falle Belgien vom ethischen Standpunkt, sondern auch als eine ethische Charakterisierung des deutschen Staatsgedankens und im weiteren Sinne der deutschen Volls- psvche, des „deutschen Geistes" überhaupt. Was die Lektüre im einzelnen so sehr interessant macht, ist die erstaunliche Beherrschung der mannigfachen in die Betrachtungen einbezogenen Gebiete durch den Verfasser, die aus jeder Zeile sprechende tiefgründige, lebensvolle Weisheit und die überaus reiche Belesenheit, die die Ausführungen mit zahlreichen Zitaten aus der ganzen einschlägigen Weltliteratur würzt. Bewundernswert ist ferner die bei aller Sachlichkeit und abwägenden Vorsicht des echten Juristen, bei aller wissenschaftlichen Gründlichkeit, welche die zum Teil sehr schwierigen und abstrakten Deduktionen erfordern, klare, fast klassisch einfache und dabei nie nüchterne, stets fesselnde Sprache und — was uns Deutsche besonders erfreulich berührt — das tiefe Verständnis für Deutschland, für deutsches Wesen und das mutige Bekenntnis zu unserem guten Recht in diesem Kriege. Wir können hier natürlich nur in größeren Zügen die Gedanken¬ gänge des Buches wiedergeben, dürfen aber hoffen, daß es den deutschen Lesern später auch in einer Übersetzung zugänglich gemacht werden wird. Zunächst stellt der Verfasser fest, daß der belgische Vertrag von 1839 in erster Linie eine Gewähr gegen einen Mißbrauch belgischen Gebietes durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/373>, abgerufen am 27.04.2024.