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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Frankreich für seine kriegerischen Operationen bieten sollte; in zweiter Linie
wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß der Vertrag nicht sowohl im
Interesse Belgiens selbst als vielmehr in demjenigen der ihm beigetretenen
Großmächte abgeschlossen wurde; also diese verpflichteten sich wechelseitig.
Die von anderer Seite vertretene Ansicht, daß durch den Kriegszustand zwischen
Deutschland, Rußland und Frankreich Anfang August 1914 der Vertrag schon
Zy8v ksLto aufgehoben worden sei, teilt Labberton nicht; es bestand vielmehr
noch eine Verpflichtung Deutschlands zur Schonung Belgiens gegenüber England.
Ebenfalls läßt sich kaum behaupten, meint er, daß der Vertrag nach seiner
historischen Bedeutung überhaupt von vornherein nur Frankreich, aber nicht
Deutschland band. Also es ist als Faktum festzuhalten: Deutschland war gezen"
über England verpflichtet, und dieser Pflicht ist es nicht nachgekommen.

Mit der einfachen Konstatierung dieser formalen Rechtsverletzung, ist indes,
nach Labberton, die Sache denn doch noch nicht erledigt. Allerdings ist die
Lehre von dem "rsbu8 sie 8wntibu8", die den Vertrag durch die Verschieden¬
heit der ihn bedingenden Umstände im Jahre 1839 und im Jahre 1914 als
ohne weiteres hinfällig betrachten möchte, nicht befriedigend. Die die Verträge
bindende Kraft ist nämlich nicht eine juridische, sondern eine rein ethische.

Labberton behandelt nun in sehr eingehenden und scharfsinnigen Be¬
trachtungen das Problem von Recht und Sittlichkeit allgemein und im besonderen
die Frage, inwieweit Politik mit Moral zu tun hat, ob das sittliche Bewußt¬
sein auch für Staaten und völkerrechtliche Abmachungen gilt, und ob und wann
für Staaten der Fall eintreten kann, daß eine Nichtinnehaltung vertraglicher
Verpflichtungen entschuldbar ist. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die
Beiseiteschiebung einer solchen Verpflichtung nur dann gerechtfertigt erscheinen
kann, wenn eine höhere sittliche Pflicht den Staat hierzu zwingt. Hierbei nutz
eben berücksichtigt werden, daß sich ein Staat in einer weit schwierigeren Rechts¬
lage befindet als ein Individuum, insofern es einerseits für den ersteren
unendlich viel schwerer ist, die Tragweite einzugehender Verpflichtungen gegen¬
über anderen Staaten auch nur annähernd abzuschätzen, und es anderseits
für ihn aus politischen Gründen oft geradezu unmöglich ist, rechtzeitig von
solchen Verpflichtungen in aller Form zurückzutreten.

Somit kommt der Versasser zu dem Ergebnis: Deutschland war nicht
länger an den Vertrag vom Jahre 1839 sür gebunden zu erachten, wenn
nachgewiesen wird, daß eine höhere sittliche Pflicht, als welche natürlich rein
selbstsüchtige Erwägungen nicht gelten können, entgegenstand. Die Frage, ob
eine solche höhere sittliche Pflicht für Deutschland im August 1914 vorlag,
beantwortet er "unter voller Verantwortung seines sittlichen Bewußtseins"
bejahend. Denn, so führt er aus, Deutschland befand sich am 2. August in
einer denkbar gefahrvollen politischen Lage, es stand einem Kampf auf Leben
und Tod gegenüber, und einem Kampf um die Existenz überhaupt wird man
im Ernst unmöglich den Charakter einer sittlichen Pflicht gegen sich selbst


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

Frankreich für seine kriegerischen Operationen bieten sollte; in zweiter Linie
wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß der Vertrag nicht sowohl im
Interesse Belgiens selbst als vielmehr in demjenigen der ihm beigetretenen
Großmächte abgeschlossen wurde; also diese verpflichteten sich wechelseitig.
Die von anderer Seite vertretene Ansicht, daß durch den Kriegszustand zwischen
Deutschland, Rußland und Frankreich Anfang August 1914 der Vertrag schon
Zy8v ksLto aufgehoben worden sei, teilt Labberton nicht; es bestand vielmehr
noch eine Verpflichtung Deutschlands zur Schonung Belgiens gegenüber England.
Ebenfalls läßt sich kaum behaupten, meint er, daß der Vertrag nach seiner
historischen Bedeutung überhaupt von vornherein nur Frankreich, aber nicht
Deutschland band. Also es ist als Faktum festzuhalten: Deutschland war gezen»
über England verpflichtet, und dieser Pflicht ist es nicht nachgekommen.

Mit der einfachen Konstatierung dieser formalen Rechtsverletzung, ist indes,
nach Labberton, die Sache denn doch noch nicht erledigt. Allerdings ist die
Lehre von dem „rsbu8 sie 8wntibu8", die den Vertrag durch die Verschieden¬
heit der ihn bedingenden Umstände im Jahre 1839 und im Jahre 1914 als
ohne weiteres hinfällig betrachten möchte, nicht befriedigend. Die die Verträge
bindende Kraft ist nämlich nicht eine juridische, sondern eine rein ethische.

Labberton behandelt nun in sehr eingehenden und scharfsinnigen Be¬
trachtungen das Problem von Recht und Sittlichkeit allgemein und im besonderen
die Frage, inwieweit Politik mit Moral zu tun hat, ob das sittliche Bewußt¬
sein auch für Staaten und völkerrechtliche Abmachungen gilt, und ob und wann
für Staaten der Fall eintreten kann, daß eine Nichtinnehaltung vertraglicher
Verpflichtungen entschuldbar ist. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die
Beiseiteschiebung einer solchen Verpflichtung nur dann gerechtfertigt erscheinen
kann, wenn eine höhere sittliche Pflicht den Staat hierzu zwingt. Hierbei nutz
eben berücksichtigt werden, daß sich ein Staat in einer weit schwierigeren Rechts¬
lage befindet als ein Individuum, insofern es einerseits für den ersteren
unendlich viel schwerer ist, die Tragweite einzugehender Verpflichtungen gegen¬
über anderen Staaten auch nur annähernd abzuschätzen, und es anderseits
für ihn aus politischen Gründen oft geradezu unmöglich ist, rechtzeitig von
solchen Verpflichtungen in aller Form zurückzutreten.

Somit kommt der Versasser zu dem Ergebnis: Deutschland war nicht
länger an den Vertrag vom Jahre 1839 sür gebunden zu erachten, wenn
nachgewiesen wird, daß eine höhere sittliche Pflicht, als welche natürlich rein
selbstsüchtige Erwägungen nicht gelten können, entgegenstand. Die Frage, ob
eine solche höhere sittliche Pflicht für Deutschland im August 1914 vorlag,
beantwortet er „unter voller Verantwortung seines sittlichen Bewußtseins"
bejahend. Denn, so führt er aus, Deutschland befand sich am 2. August in
einer denkbar gefahrvollen politischen Lage, es stand einem Kampf auf Leben
und Tod gegenüber, und einem Kampf um die Existenz überhaupt wird man
im Ernst unmöglich den Charakter einer sittlichen Pflicht gegen sich selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/374>, abgerufen am 09.05.2024.