Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

absprechen können. Zwar kann die Pflicht zur Selbsterhaltung -- auch für
einen Staat -- nicht als eine absolute sittliche Pflicht gelten, aber sie ist doch
zweifellos eine hohe und sehr vornehme Pflicht, jedenfalls mehr als stark genug,
um den veralteten Vertrag von 1839 beiseite zu schieben. Die Frage, ob der
militärische Durchzug durch Belgien für Deutschland tatsächlich ein Gebot der
Selbsterhaltung bedeutete, ist an und für sich ethisch indifferent, aber für eine
sittliche Beurteilung kommen nicht die Umstände einer Handlung an sich in
Betracht, sondern wie sie sich dem Handelnden selbst darstellen und ihn als
Motive beeinflussen. Also weil für Deutschland nun einmal der Aufmarsch
durch belgisches Gebiet unvermeidlich erschien für einen großen Schlag gegen
Frankreich, so kann es nicht sittlich verurteilt werden, wenn Deutschland sich durch
die neuen Umstände für berechtigt gehalten hat, die seit 1839 gegenüber England
bestehende Verpflichtung nicht mehr innezuhalten. Die Pflicht an sich, betont
Labberton, bestand aber einmal, es bestand ferner auch eine Pflicht gegenüber
Belgien selbst. Von der Mißachtung dieses Gelübdes an sich ist Deutschland
mithin nicht freizusprechen. Angesichts der Lage Deutschlands aber erscheint der
Gebrauch, den England von dem alten Vertragsinstrument machen zu dürfen
geglaubt hat, unsittlich, man kann sich kaum eine willkürlichere Handlungsweise,
ein krasseres Beispiel von Ausbeutung des Prinzips "summum jus 8umina
injuria" vorstellen als diese dem scheinheiligen englischen Legalismus, dieser
vielgerühmten "laxvabl<linAne88" entspringende typisch englische Stellungnahme
die auch in der Oxforder Professorenkundgebung ("tds via -- elf ver^ via
-- LnZIi8k fpolitical tkeor/ i8: tke lüiANt l8 our inters8t" usw.) ihr
pharisäisch Antlitz so fromm enthüllt. Gilt dies doch für die eigenen Interessen
Zurechtgemachte starre "Recht" auch dann, wenn es sich einmal nicht mit den
eigenen Interessen der beati pv88iclsntö8 deckt, so fragt Labberton, und
ist es ausgemacht, daß dies "positive" Recht auch das sittliche Recht ohne
weiteres immer zur Seite hat und nicht auch der Veränderung und Fort¬
entwicklung unterworfen ist, wie alles, was entsteht? "Soll allein in Deutsch¬
land Vernunft im Laufe der Zeit zu Unsinn werden?"

Die von England mit soviel Pathos vertretene Auffassung, daß der
wechselseitige Bestand der Staaten bedingt wird durch die ewige Geltung von
Verträgen, erachtet der Verfasser für unrichtig; dazu ist auch eine relative Geltung
Vorbedingung. Die Wirklichkeit, an der sich der historische Prozeß des ewigen
Werdens und der ewigen Entwicklung zu vollziehen hat, bedingt allerdings
einen gewissen Grad von Konsistenz, aber ebensosehr einen gewissen Grad von
Plastizität. Ohne letztere wird ein Stillstand, das heißt Tod eintreten. Für
Süllstand ist immer nur der beatus po88in!en8, für Fortschritt der Mann oder
das Volk, das im Aufstieg begriffen ist. Es ist dies eben, meint Labberton,
der ewig alte Streit, über den mit jenem Schlagwort von "Recht und Macht"
so viel und oft und so oberflächlich geredet wird, und der wieder einen so
prägnanten Ausdruck fand in der weltgeschichtlichen Aussprache des deutschen


Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung

absprechen können. Zwar kann die Pflicht zur Selbsterhaltung — auch für
einen Staat — nicht als eine absolute sittliche Pflicht gelten, aber sie ist doch
zweifellos eine hohe und sehr vornehme Pflicht, jedenfalls mehr als stark genug,
um den veralteten Vertrag von 1839 beiseite zu schieben. Die Frage, ob der
militärische Durchzug durch Belgien für Deutschland tatsächlich ein Gebot der
Selbsterhaltung bedeutete, ist an und für sich ethisch indifferent, aber für eine
sittliche Beurteilung kommen nicht die Umstände einer Handlung an sich in
Betracht, sondern wie sie sich dem Handelnden selbst darstellen und ihn als
Motive beeinflussen. Also weil für Deutschland nun einmal der Aufmarsch
durch belgisches Gebiet unvermeidlich erschien für einen großen Schlag gegen
Frankreich, so kann es nicht sittlich verurteilt werden, wenn Deutschland sich durch
die neuen Umstände für berechtigt gehalten hat, die seit 1839 gegenüber England
bestehende Verpflichtung nicht mehr innezuhalten. Die Pflicht an sich, betont
Labberton, bestand aber einmal, es bestand ferner auch eine Pflicht gegenüber
Belgien selbst. Von der Mißachtung dieses Gelübdes an sich ist Deutschland
mithin nicht freizusprechen. Angesichts der Lage Deutschlands aber erscheint der
Gebrauch, den England von dem alten Vertragsinstrument machen zu dürfen
geglaubt hat, unsittlich, man kann sich kaum eine willkürlichere Handlungsweise,
ein krasseres Beispiel von Ausbeutung des Prinzips „summum jus 8umina
injuria" vorstellen als diese dem scheinheiligen englischen Legalismus, dieser
vielgerühmten „laxvabl<linAne88" entspringende typisch englische Stellungnahme
die auch in der Oxforder Professorenkundgebung („tds via — elf ver^ via
— LnZIi8k fpolitical tkeor/ i8: tke lüiANt l8 our inters8t" usw.) ihr
pharisäisch Antlitz so fromm enthüllt. Gilt dies doch für die eigenen Interessen
Zurechtgemachte starre „Recht" auch dann, wenn es sich einmal nicht mit den
eigenen Interessen der beati pv88iclsntö8 deckt, so fragt Labberton, und
ist es ausgemacht, daß dies „positive" Recht auch das sittliche Recht ohne
weiteres immer zur Seite hat und nicht auch der Veränderung und Fort¬
entwicklung unterworfen ist, wie alles, was entsteht? „Soll allein in Deutsch¬
land Vernunft im Laufe der Zeit zu Unsinn werden?"

Die von England mit soviel Pathos vertretene Auffassung, daß der
wechselseitige Bestand der Staaten bedingt wird durch die ewige Geltung von
Verträgen, erachtet der Verfasser für unrichtig; dazu ist auch eine relative Geltung
Vorbedingung. Die Wirklichkeit, an der sich der historische Prozeß des ewigen
Werdens und der ewigen Entwicklung zu vollziehen hat, bedingt allerdings
einen gewissen Grad von Konsistenz, aber ebensosehr einen gewissen Grad von
Plastizität. Ohne letztere wird ein Stillstand, das heißt Tod eintreten. Für
Süllstand ist immer nur der beatus po88in!en8, für Fortschritt der Mann oder
das Volk, das im Aufstieg begriffen ist. Es ist dies eben, meint Labberton,
der ewig alte Streit, über den mit jenem Schlagwort von „Recht und Macht"
so viel und oft und so oberflächlich geredet wird, und der wieder einen so
prägnanten Ausdruck fand in der weltgeschichtlichen Aussprache des deutschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0375" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323914"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1234" prev="#ID_1233"> absprechen können. Zwar kann die Pflicht zur Selbsterhaltung &#x2014; auch für<lb/>
einen Staat &#x2014; nicht als eine absolute sittliche Pflicht gelten, aber sie ist doch<lb/>
zweifellos eine hohe und sehr vornehme Pflicht, jedenfalls mehr als stark genug,<lb/>
um den veralteten Vertrag von 1839 beiseite zu schieben. Die Frage, ob der<lb/>
militärische Durchzug durch Belgien für Deutschland tatsächlich ein Gebot der<lb/>
Selbsterhaltung bedeutete, ist an und für sich ethisch indifferent, aber für eine<lb/>
sittliche Beurteilung kommen nicht die Umstände einer Handlung an sich in<lb/>
Betracht, sondern wie sie sich dem Handelnden selbst darstellen und ihn als<lb/>
Motive beeinflussen. Also weil für Deutschland nun einmal der Aufmarsch<lb/>
durch belgisches Gebiet unvermeidlich erschien für einen großen Schlag gegen<lb/>
Frankreich, so kann es nicht sittlich verurteilt werden, wenn Deutschland sich durch<lb/>
die neuen Umstände für berechtigt gehalten hat, die seit 1839 gegenüber England<lb/>
bestehende Verpflichtung nicht mehr innezuhalten. Die Pflicht an sich, betont<lb/>
Labberton, bestand aber einmal, es bestand ferner auch eine Pflicht gegenüber<lb/>
Belgien selbst. Von der Mißachtung dieses Gelübdes an sich ist Deutschland<lb/>
mithin nicht freizusprechen. Angesichts der Lage Deutschlands aber erscheint der<lb/>
Gebrauch, den England von dem alten Vertragsinstrument machen zu dürfen<lb/>
geglaubt hat, unsittlich, man kann sich kaum eine willkürlichere Handlungsweise,<lb/>
ein krasseres Beispiel von Ausbeutung des Prinzips &#x201E;summum jus 8umina<lb/>
injuria" vorstellen als diese dem scheinheiligen englischen Legalismus, dieser<lb/>
vielgerühmten &#x201E;laxvabl&lt;linAne88" entspringende typisch englische Stellungnahme<lb/>
die auch in der Oxforder Professorenkundgebung (&#x201E;tds via &#x2014; elf ver^ via<lb/>
&#x2014; LnZIi8k fpolitical tkeor/ i8: tke lüiANt l8 our inters8t" usw.) ihr<lb/>
pharisäisch Antlitz so fromm enthüllt. Gilt dies doch für die eigenen Interessen<lb/>
Zurechtgemachte starre &#x201E;Recht" auch dann, wenn es sich einmal nicht mit den<lb/>
eigenen Interessen der beati pv88iclsntö8 deckt, so fragt Labberton, und<lb/>
ist es ausgemacht, daß dies &#x201E;positive" Recht auch das sittliche Recht ohne<lb/>
weiteres immer zur Seite hat und nicht auch der Veränderung und Fort¬<lb/>
entwicklung unterworfen ist, wie alles, was entsteht? &#x201E;Soll allein in Deutsch¬<lb/>
land Vernunft im Laufe der Zeit zu Unsinn werden?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1235" next="#ID_1236"> Die von England mit soviel Pathos vertretene Auffassung, daß der<lb/>
wechselseitige Bestand der Staaten bedingt wird durch die ewige Geltung von<lb/>
Verträgen, erachtet der Verfasser für unrichtig; dazu ist auch eine relative Geltung<lb/>
Vorbedingung. Die Wirklichkeit, an der sich der historische Prozeß des ewigen<lb/>
Werdens und der ewigen Entwicklung zu vollziehen hat, bedingt allerdings<lb/>
einen gewissen Grad von Konsistenz, aber ebensosehr einen gewissen Grad von<lb/>
Plastizität. Ohne letztere wird ein Stillstand, das heißt Tod eintreten. Für<lb/>
Süllstand ist immer nur der beatus po88in!en8, für Fortschritt der Mann oder<lb/>
das Volk, das im Aufstieg begriffen ist. Es ist dies eben, meint Labberton,<lb/>
der ewig alte Streit, über den mit jenem Schlagwort von &#x201E;Recht und Macht"<lb/>
so viel und oft und so oberflächlich geredet wird, und der wieder einen so<lb/>
prägnanten Ausdruck fand in der weltgeschichtlichen Aussprache des deutschen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0375] Deutschland und die belgische Neutralität in ethischer Beleuchtung absprechen können. Zwar kann die Pflicht zur Selbsterhaltung — auch für einen Staat — nicht als eine absolute sittliche Pflicht gelten, aber sie ist doch zweifellos eine hohe und sehr vornehme Pflicht, jedenfalls mehr als stark genug, um den veralteten Vertrag von 1839 beiseite zu schieben. Die Frage, ob der militärische Durchzug durch Belgien für Deutschland tatsächlich ein Gebot der Selbsterhaltung bedeutete, ist an und für sich ethisch indifferent, aber für eine sittliche Beurteilung kommen nicht die Umstände einer Handlung an sich in Betracht, sondern wie sie sich dem Handelnden selbst darstellen und ihn als Motive beeinflussen. Also weil für Deutschland nun einmal der Aufmarsch durch belgisches Gebiet unvermeidlich erschien für einen großen Schlag gegen Frankreich, so kann es nicht sittlich verurteilt werden, wenn Deutschland sich durch die neuen Umstände für berechtigt gehalten hat, die seit 1839 gegenüber England bestehende Verpflichtung nicht mehr innezuhalten. Die Pflicht an sich, betont Labberton, bestand aber einmal, es bestand ferner auch eine Pflicht gegenüber Belgien selbst. Von der Mißachtung dieses Gelübdes an sich ist Deutschland mithin nicht freizusprechen. Angesichts der Lage Deutschlands aber erscheint der Gebrauch, den England von dem alten Vertragsinstrument machen zu dürfen geglaubt hat, unsittlich, man kann sich kaum eine willkürlichere Handlungsweise, ein krasseres Beispiel von Ausbeutung des Prinzips „summum jus 8umina injuria" vorstellen als diese dem scheinheiligen englischen Legalismus, dieser vielgerühmten „laxvabl<linAne88" entspringende typisch englische Stellungnahme die auch in der Oxforder Professorenkundgebung („tds via — elf ver^ via — LnZIi8k fpolitical tkeor/ i8: tke lüiANt l8 our inters8t" usw.) ihr pharisäisch Antlitz so fromm enthüllt. Gilt dies doch für die eigenen Interessen Zurechtgemachte starre „Recht" auch dann, wenn es sich einmal nicht mit den eigenen Interessen der beati pv88iclsntö8 deckt, so fragt Labberton, und ist es ausgemacht, daß dies „positive" Recht auch das sittliche Recht ohne weiteres immer zur Seite hat und nicht auch der Veränderung und Fort¬ entwicklung unterworfen ist, wie alles, was entsteht? „Soll allein in Deutsch¬ land Vernunft im Laufe der Zeit zu Unsinn werden?" Die von England mit soviel Pathos vertretene Auffassung, daß der wechselseitige Bestand der Staaten bedingt wird durch die ewige Geltung von Verträgen, erachtet der Verfasser für unrichtig; dazu ist auch eine relative Geltung Vorbedingung. Die Wirklichkeit, an der sich der historische Prozeß des ewigen Werdens und der ewigen Entwicklung zu vollziehen hat, bedingt allerdings einen gewissen Grad von Konsistenz, aber ebensosehr einen gewissen Grad von Plastizität. Ohne letztere wird ein Stillstand, das heißt Tod eintreten. Für Süllstand ist immer nur der beatus po88in!en8, für Fortschritt der Mann oder das Volk, das im Aufstieg begriffen ist. Es ist dies eben, meint Labberton, der ewig alte Streit, über den mit jenem Schlagwort von „Recht und Macht" so viel und oft und so oberflächlich geredet wird, und der wieder einen so prägnanten Ausdruck fand in der weltgeschichtlichen Aussprache des deutschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/375
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/375>, abgerufen am 20.05.2024.