Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Belgiens Verfassung und Staatsleben

Dialekt war, und dann vor allem dadurch, daß seit der Herrschaft der
burgundischen Herzöge französisch die Sprache der Öffentlichkeit und der gebildeten
Klassen war. So war denn auch das vlämische Sprachgebiet mit einem dicken
französischen Firnis überzogen. Hatte doch gerade das Streben der holländischen
Regierung, der niederdeutschen Sprache mehr Eingang zu verschaffen, einen der
Gründe des Abfalls gebildet. So erschien denn Belgien äußerlich als ein rein
französisches Staatswesen. Erst allmählich setzte immer flinker die vlämische
Bewegung ein und brachte damit den Zwiespalt der Nationalitäten. Aber bis
zuletzt haben die Vlamen auch nicht eine von den vier Universitäten des Landes
für sich erringen können.

Sozial war Belgien schon im ausgehenden Mittelalter das Land der
Städte und bürgerlichen Gewerbefleißes. Schon in der berühmten Sporenschlacht
bei Kortryk am 11. Juli 1302 erlag die Blüte französischer Ritterschaft den
Streichen der Weber von Brügge. Mit ihren Städten hatten die burgundischen
Herzöge wie Kaiser Maximilian der Erste ihre politischen Machtkämpfe aus-
zufechten gehabt. Der Grundadel hatte hier immer nur wenig zu besagen.
Nirgends fand daher außerhalb des eigentlichen Frankreich die Egalitö der
französischen Revolution einen so wohl vorbei eitelen Boden wie in Belgien.
Unter der schützenden Hand der Kontinentalsperre entwickelte sich dann die
belgische Industrie. Der bedeutungslose Adel war in der allgemeinen Rechts¬
gleichheit untergegangen, die Forderungen der Arbeiterschaft ruhten noch in der
Zukunft Schoße. So war Belgien gleich dem Frankreich Louis Philippes, mit
dem es die größte Ähnlichkeit hatte, das klassische Land der Bourgeofie. Der
Adel war zu ihr herabgezogen, die unteren Schichten waren durch einen hohen
Zensus von allen politischen Rechten ausgeschlossen. Aber die allgemeine Rechts¬
gleichheit schien gewahrt. Denn niemand war verhindert, soviel Einkommen
und Vermögen zu erwerben, um den Zensus zu erreichen. Das Ergebnis war
jedenfalls: die reichen Bourgeofie herrschte allein, soziale Gegensätze spielten
politisch keine Rolle.

Auf religiösem Gebiete hatte es die spanisch-österreichische Herrschaft ver¬
standen, die Alleinherrschaft des Katholizismus festzuhalten. Die AuMrungs-
zeit des achtzehnten Jahrhunderts hatte einem großen Teile der gebildeten
Klassen die Voltairesche Philosophie gebracht und sie damit vom Glauben der
Kirche losgerissen. Diese Einflüsse verstärkten sich noch durch die französische
Revolution. Aber in romanischer Weise war dies die reine Negation, der
Protestantismus gewann durch diese Kirchenfeindschaft keinen Fuß breit Boden.
Je nach ihrer Stellung zur katholischen Kirche schied sich nun die herrschende
Bourgeoisie mit französischer Umgangssprache in die beiden Parteien der
Katholiken und Liberalen, wobei aber wohlgemerkt die Liberalen der katholischen
Kirche angehörten. Das war der einzige politische Parteigegensatz, den es in
Belgien zur Zeit seiner Gründung gab und Jahrzehnte hindurch allein
gegeben hat.


Belgiens Verfassung und Staatsleben

Dialekt war, und dann vor allem dadurch, daß seit der Herrschaft der
burgundischen Herzöge französisch die Sprache der Öffentlichkeit und der gebildeten
Klassen war. So war denn auch das vlämische Sprachgebiet mit einem dicken
französischen Firnis überzogen. Hatte doch gerade das Streben der holländischen
Regierung, der niederdeutschen Sprache mehr Eingang zu verschaffen, einen der
Gründe des Abfalls gebildet. So erschien denn Belgien äußerlich als ein rein
französisches Staatswesen. Erst allmählich setzte immer flinker die vlämische
Bewegung ein und brachte damit den Zwiespalt der Nationalitäten. Aber bis
zuletzt haben die Vlamen auch nicht eine von den vier Universitäten des Landes
für sich erringen können.

Sozial war Belgien schon im ausgehenden Mittelalter das Land der
Städte und bürgerlichen Gewerbefleißes. Schon in der berühmten Sporenschlacht
bei Kortryk am 11. Juli 1302 erlag die Blüte französischer Ritterschaft den
Streichen der Weber von Brügge. Mit ihren Städten hatten die burgundischen
Herzöge wie Kaiser Maximilian der Erste ihre politischen Machtkämpfe aus-
zufechten gehabt. Der Grundadel hatte hier immer nur wenig zu besagen.
Nirgends fand daher außerhalb des eigentlichen Frankreich die Egalitö der
französischen Revolution einen so wohl vorbei eitelen Boden wie in Belgien.
Unter der schützenden Hand der Kontinentalsperre entwickelte sich dann die
belgische Industrie. Der bedeutungslose Adel war in der allgemeinen Rechts¬
gleichheit untergegangen, die Forderungen der Arbeiterschaft ruhten noch in der
Zukunft Schoße. So war Belgien gleich dem Frankreich Louis Philippes, mit
dem es die größte Ähnlichkeit hatte, das klassische Land der Bourgeofie. Der
Adel war zu ihr herabgezogen, die unteren Schichten waren durch einen hohen
Zensus von allen politischen Rechten ausgeschlossen. Aber die allgemeine Rechts¬
gleichheit schien gewahrt. Denn niemand war verhindert, soviel Einkommen
und Vermögen zu erwerben, um den Zensus zu erreichen. Das Ergebnis war
jedenfalls: die reichen Bourgeofie herrschte allein, soziale Gegensätze spielten
politisch keine Rolle.

Auf religiösem Gebiete hatte es die spanisch-österreichische Herrschaft ver¬
standen, die Alleinherrschaft des Katholizismus festzuhalten. Die AuMrungs-
zeit des achtzehnten Jahrhunderts hatte einem großen Teile der gebildeten
Klassen die Voltairesche Philosophie gebracht und sie damit vom Glauben der
Kirche losgerissen. Diese Einflüsse verstärkten sich noch durch die französische
Revolution. Aber in romanischer Weise war dies die reine Negation, der
Protestantismus gewann durch diese Kirchenfeindschaft keinen Fuß breit Boden.
Je nach ihrer Stellung zur katholischen Kirche schied sich nun die herrschende
Bourgeoisie mit französischer Umgangssprache in die beiden Parteien der
Katholiken und Liberalen, wobei aber wohlgemerkt die Liberalen der katholischen
Kirche angehörten. Das war der einzige politische Parteigegensatz, den es in
Belgien zur Zeit seiner Gründung gab und Jahrzehnte hindurch allein
gegeben hat.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0411" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323950"/>
          <fw type="header" place="top"> Belgiens Verfassung und Staatsleben</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1346" prev="#ID_1345"> Dialekt war, und dann vor allem dadurch, daß seit der Herrschaft der<lb/>
burgundischen Herzöge französisch die Sprache der Öffentlichkeit und der gebildeten<lb/>
Klassen war. So war denn auch das vlämische Sprachgebiet mit einem dicken<lb/>
französischen Firnis überzogen. Hatte doch gerade das Streben der holländischen<lb/>
Regierung, der niederdeutschen Sprache mehr Eingang zu verschaffen, einen der<lb/>
Gründe des Abfalls gebildet. So erschien denn Belgien äußerlich als ein rein<lb/>
französisches Staatswesen. Erst allmählich setzte immer flinker die vlämische<lb/>
Bewegung ein und brachte damit den Zwiespalt der Nationalitäten. Aber bis<lb/>
zuletzt haben die Vlamen auch nicht eine von den vier Universitäten des Landes<lb/>
für sich erringen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1347"> Sozial war Belgien schon im ausgehenden Mittelalter das Land der<lb/>
Städte und bürgerlichen Gewerbefleißes. Schon in der berühmten Sporenschlacht<lb/>
bei Kortryk am 11. Juli 1302 erlag die Blüte französischer Ritterschaft den<lb/>
Streichen der Weber von Brügge. Mit ihren Städten hatten die burgundischen<lb/>
Herzöge wie Kaiser Maximilian der Erste ihre politischen Machtkämpfe aus-<lb/>
zufechten gehabt. Der Grundadel hatte hier immer nur wenig zu besagen.<lb/>
Nirgends fand daher außerhalb des eigentlichen Frankreich die Egalitö der<lb/>
französischen Revolution einen so wohl vorbei eitelen Boden wie in Belgien.<lb/>
Unter der schützenden Hand der Kontinentalsperre entwickelte sich dann die<lb/>
belgische Industrie. Der bedeutungslose Adel war in der allgemeinen Rechts¬<lb/>
gleichheit untergegangen, die Forderungen der Arbeiterschaft ruhten noch in der<lb/>
Zukunft Schoße. So war Belgien gleich dem Frankreich Louis Philippes, mit<lb/>
dem es die größte Ähnlichkeit hatte, das klassische Land der Bourgeofie. Der<lb/>
Adel war zu ihr herabgezogen, die unteren Schichten waren durch einen hohen<lb/>
Zensus von allen politischen Rechten ausgeschlossen. Aber die allgemeine Rechts¬<lb/>
gleichheit schien gewahrt. Denn niemand war verhindert, soviel Einkommen<lb/>
und Vermögen zu erwerben, um den Zensus zu erreichen. Das Ergebnis war<lb/>
jedenfalls: die reichen Bourgeofie herrschte allein, soziale Gegensätze spielten<lb/>
politisch keine Rolle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1348"> Auf religiösem Gebiete hatte es die spanisch-österreichische Herrschaft ver¬<lb/>
standen, die Alleinherrschaft des Katholizismus festzuhalten. Die AuMrungs-<lb/>
zeit des achtzehnten Jahrhunderts hatte einem großen Teile der gebildeten<lb/>
Klassen die Voltairesche Philosophie gebracht und sie damit vom Glauben der<lb/>
Kirche losgerissen. Diese Einflüsse verstärkten sich noch durch die französische<lb/>
Revolution. Aber in romanischer Weise war dies die reine Negation, der<lb/>
Protestantismus gewann durch diese Kirchenfeindschaft keinen Fuß breit Boden.<lb/>
Je nach ihrer Stellung zur katholischen Kirche schied sich nun die herrschende<lb/>
Bourgeoisie mit französischer Umgangssprache in die beiden Parteien der<lb/>
Katholiken und Liberalen, wobei aber wohlgemerkt die Liberalen der katholischen<lb/>
Kirche angehörten. Das war der einzige politische Parteigegensatz, den es in<lb/>
Belgien zur Zeit seiner Gründung gab und Jahrzehnte hindurch allein<lb/>
gegeben hat.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0411] Belgiens Verfassung und Staatsleben Dialekt war, und dann vor allem dadurch, daß seit der Herrschaft der burgundischen Herzöge französisch die Sprache der Öffentlichkeit und der gebildeten Klassen war. So war denn auch das vlämische Sprachgebiet mit einem dicken französischen Firnis überzogen. Hatte doch gerade das Streben der holländischen Regierung, der niederdeutschen Sprache mehr Eingang zu verschaffen, einen der Gründe des Abfalls gebildet. So erschien denn Belgien äußerlich als ein rein französisches Staatswesen. Erst allmählich setzte immer flinker die vlämische Bewegung ein und brachte damit den Zwiespalt der Nationalitäten. Aber bis zuletzt haben die Vlamen auch nicht eine von den vier Universitäten des Landes für sich erringen können. Sozial war Belgien schon im ausgehenden Mittelalter das Land der Städte und bürgerlichen Gewerbefleißes. Schon in der berühmten Sporenschlacht bei Kortryk am 11. Juli 1302 erlag die Blüte französischer Ritterschaft den Streichen der Weber von Brügge. Mit ihren Städten hatten die burgundischen Herzöge wie Kaiser Maximilian der Erste ihre politischen Machtkämpfe aus- zufechten gehabt. Der Grundadel hatte hier immer nur wenig zu besagen. Nirgends fand daher außerhalb des eigentlichen Frankreich die Egalitö der französischen Revolution einen so wohl vorbei eitelen Boden wie in Belgien. Unter der schützenden Hand der Kontinentalsperre entwickelte sich dann die belgische Industrie. Der bedeutungslose Adel war in der allgemeinen Rechts¬ gleichheit untergegangen, die Forderungen der Arbeiterschaft ruhten noch in der Zukunft Schoße. So war Belgien gleich dem Frankreich Louis Philippes, mit dem es die größte Ähnlichkeit hatte, das klassische Land der Bourgeofie. Der Adel war zu ihr herabgezogen, die unteren Schichten waren durch einen hohen Zensus von allen politischen Rechten ausgeschlossen. Aber die allgemeine Rechts¬ gleichheit schien gewahrt. Denn niemand war verhindert, soviel Einkommen und Vermögen zu erwerben, um den Zensus zu erreichen. Das Ergebnis war jedenfalls: die reichen Bourgeofie herrschte allein, soziale Gegensätze spielten politisch keine Rolle. Auf religiösem Gebiete hatte es die spanisch-österreichische Herrschaft ver¬ standen, die Alleinherrschaft des Katholizismus festzuhalten. Die AuMrungs- zeit des achtzehnten Jahrhunderts hatte einem großen Teile der gebildeten Klassen die Voltairesche Philosophie gebracht und sie damit vom Glauben der Kirche losgerissen. Diese Einflüsse verstärkten sich noch durch die französische Revolution. Aber in romanischer Weise war dies die reine Negation, der Protestantismus gewann durch diese Kirchenfeindschaft keinen Fuß breit Boden. Je nach ihrer Stellung zur katholischen Kirche schied sich nun die herrschende Bourgeoisie mit französischer Umgangssprache in die beiden Parteien der Katholiken und Liberalen, wobei aber wohlgemerkt die Liberalen der katholischen Kirche angehörten. Das war der einzige politische Parteigegensatz, den es in Belgien zur Zeit seiner Gründung gab und Jahrzehnte hindurch allein gegeben hat.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/411
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/411>, abgerufen am 24.05.2024.