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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs innere Lage

mit der Überlieferung der religionslosen Republik. Außerdem braucht sie die
nationalistischen Stimmungsmach er, um die Bevölkerung an den Gedanken eines
zweiten Winterfeldzuges zu gewöhnen; auf der anderen Seite ist sie aber von
der Kammermehrheit abhängig. Der Gedanke liegt nahe, sich durch Neuwahlen
trotz des Krieges eine festere Basis zu verschaffen, aber was die Regierung als
Losung zu bieten hat, ist die Fortsetzung des Krieges und diese wird von allen
Parteien gleichmäßig gefordert. Einstweilen auch noch von den äußersten
Radikalen und Sozialisten. Wenn also, wie zu erwarten ist, das jetzige
Ministerium fällt, so dürfte eine Änderung des Systems darum nicht folgen.
Die neuen Männer werden in der gleichen schwierigen Lage den alten Faden
weiterspinnen. Auch sie werden versuchen, das Heer durch Taten, die Kammer
durch Worte zu befriedigen, und höchstens ihre Beziehungen zu England dürften
sich etwas anders gestalten, das jeden Wechsel in der Regierung Frankreichs mit
Mißtrauen aufnehmen muß, mit dem Mißtrauen, daß der gallische Bundes¬
genosse nicht bei der Stange bleibt.

Das Verhältnis zu England ist heute einer der Angelpunkte der inneren
Politik Frankreichs. Ob die Herren von jenseits des Kanals sich schon so verhaßt
gemacht haben, wie es einzelne neutrale Beobachter schildern, erscheint zweifelhaft;
aber die Tatsache steht fest, daß die französische Presse die Engländer außer in
den amtlichen Berichten kaum noch erwähnt; sie weiß täglich von den fernen
Russen und Italienern die ungeheuersten Heldentaten zu berichten, aber nichts
von den Briten, die man doch so nahe hat. Die Begeisterung ist auf jeden
Fall verflogen, und damit schwindet die letzte Stütze des Ministeriums
Viviani--Delcassö, dessen einziger, jetzt fadenscheinig gewordener Ruhm in der
völligen Hingabe an England besteht.

Es wäre aber verkehrt, von einem Ministerwechsel eine Lösung des eng¬
lischen Bündnisses und einen Austritt Frankreichs aus dem Vierverband zu
erwarten. Ein dringendes Friedensbedürfnis ist in weiten Kreisen vorhanden,
wenn es auch infolge der sehr strengen Zensur nirgends zum Ausdruck gelangt,
aber es hat auch noch nicht die Stärke gewonnen, daß eine der politischen
Parteien darauf zu setzen wagte. Der Augenblick dürfte allerdings nicht mehr
fern sein, da Frankreichs Friedenssehnsucht in den Beratungen der geschäftigen
Entente den Ausschlag gibt. Im Lande wollen breite Schichten ein Ende des
Krieges um jeden Preis, und auch der Führer steht schon in Bereitschaft, der
listenreiche Parlamentarier, der seit Monaten nach dem Ruhme geizt, seinem
Lande den Frieden zu bringen. Er und seine Gefolgschaft werden sich bald
zusammenfinden. Dazu bedarf es keiner neuen französischen Niederlage; die
Zeit arbeitet für uns, wenn wir uns nur dort behaupten, wo wir seit einem
Jahre stehen.




Frankreichs innere Lage

mit der Überlieferung der religionslosen Republik. Außerdem braucht sie die
nationalistischen Stimmungsmach er, um die Bevölkerung an den Gedanken eines
zweiten Winterfeldzuges zu gewöhnen; auf der anderen Seite ist sie aber von
der Kammermehrheit abhängig. Der Gedanke liegt nahe, sich durch Neuwahlen
trotz des Krieges eine festere Basis zu verschaffen, aber was die Regierung als
Losung zu bieten hat, ist die Fortsetzung des Krieges und diese wird von allen
Parteien gleichmäßig gefordert. Einstweilen auch noch von den äußersten
Radikalen und Sozialisten. Wenn also, wie zu erwarten ist, das jetzige
Ministerium fällt, so dürfte eine Änderung des Systems darum nicht folgen.
Die neuen Männer werden in der gleichen schwierigen Lage den alten Faden
weiterspinnen. Auch sie werden versuchen, das Heer durch Taten, die Kammer
durch Worte zu befriedigen, und höchstens ihre Beziehungen zu England dürften
sich etwas anders gestalten, das jeden Wechsel in der Regierung Frankreichs mit
Mißtrauen aufnehmen muß, mit dem Mißtrauen, daß der gallische Bundes¬
genosse nicht bei der Stange bleibt.

Das Verhältnis zu England ist heute einer der Angelpunkte der inneren
Politik Frankreichs. Ob die Herren von jenseits des Kanals sich schon so verhaßt
gemacht haben, wie es einzelne neutrale Beobachter schildern, erscheint zweifelhaft;
aber die Tatsache steht fest, daß die französische Presse die Engländer außer in
den amtlichen Berichten kaum noch erwähnt; sie weiß täglich von den fernen
Russen und Italienern die ungeheuersten Heldentaten zu berichten, aber nichts
von den Briten, die man doch so nahe hat. Die Begeisterung ist auf jeden
Fall verflogen, und damit schwindet die letzte Stütze des Ministeriums
Viviani—Delcassö, dessen einziger, jetzt fadenscheinig gewordener Ruhm in der
völligen Hingabe an England besteht.

Es wäre aber verkehrt, von einem Ministerwechsel eine Lösung des eng¬
lischen Bündnisses und einen Austritt Frankreichs aus dem Vierverband zu
erwarten. Ein dringendes Friedensbedürfnis ist in weiten Kreisen vorhanden,
wenn es auch infolge der sehr strengen Zensur nirgends zum Ausdruck gelangt,
aber es hat auch noch nicht die Stärke gewonnen, daß eine der politischen
Parteien darauf zu setzen wagte. Der Augenblick dürfte allerdings nicht mehr
fern sein, da Frankreichs Friedenssehnsucht in den Beratungen der geschäftigen
Entente den Ausschlag gibt. Im Lande wollen breite Schichten ein Ende des
Krieges um jeden Preis, und auch der Führer steht schon in Bereitschaft, der
listenreiche Parlamentarier, der seit Monaten nach dem Ruhme geizt, seinem
Lande den Frieden zu bringen. Er und seine Gefolgschaft werden sich bald
zusammenfinden. Dazu bedarf es keiner neuen französischen Niederlage; die
Zeit arbeitet für uns, wenn wir uns nur dort behaupten, wo wir seit einem
Jahre stehen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/372>, abgerufen am 17.06.2024.