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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Nie koloniale Alternative

gehört, beträchtliche Teile des kontinentalen Europa in den Bereich seiner
Expansion zu ziehen. Kaum sind die inneren Schwierigkeiten des Reformations¬
zeitalters notdürftig überwunden, so greift England über die Meere. Durch
den breiten Wassergraben von den Mächten Europas geschieden, hatte man
fürderhin nur soweit ein Interesse an Europas Geschichte, als es notwendig
schien, heranwachsende Konkurrenten niederzuhalten. Die aktive Teilnahme
Englands an dem Ringen europäischer Staaten gleicht einer Reihe von Ausfalls¬
gefechten, nach deren Beendigung die Besatzung befriedigt und fast ungeschwächt
in ihre uneinnehmbare Festung zurückkehrt. Auch diese Kriege sind mindestens
zum Teil aus kolonialen Gesichtspunkte zu verstehen: die Beschränkung des
holländischen, die Zertrümmerung des französischen Kolonialreiches waren ihr
Ergebnis.

Während so die geographischen Verhältnisse es England erlaubten, in
stetiger Politik die Welt englisch zu machen, zeigt der Verlauf der französischen
Kolonialgeschichte bis ins neunzehnte Jahrhundert das Verhängnisvolle einer
zwei Zielen nachjagenden und darum keines erreichenden Politik., Auch sie ist
geographisch begründet, in der Zweigesichtigkeit Frankreichs, das sowohl auf der
kontinentalen als auf der ozeanischen Seite lockende Aufgaben vor sich sah.
Von vornherein war Frankreich als Festlandsmacht mit den Geschicken des
Kontinents viel inniger verflochten als der Inselstaat; hinzu trat das Streben
nach der Hegemonie in Europa, das seit der endgültigen Abwendung Englands
vom Festlande die französische Politik beherrschte. Daneben aber hatte Frank¬
reich nicht später den Weg kolonialer Ausdehnung betreten als England. Es
erkannte nicht die Alternative seiner geschichtlichen Stellung, die eine Entscheidung
forderte, und ist an dieser Zwiespältigkeit gescheitert*); 1815 ist es so gut wie
keine Kolonialmacht mehr.

So siegte in Westeuropa als Kolonialmacht derjenige Staat, dem sein
geschütztes Machtzentrum Freiheit des Handelns gewährte. Inzwischen hat im
Osten Rußland ebenso ungestört sein eigenes Ausbreitungssystem entwickelt, das
der reinen Überlandkolonisation. Auch hier ist es wieder die geographische
Lage, die das Vordringen bis zum Großen Ozean und darüber hinaus ermög¬
lichte. Da Rußland zunächst auf seinem Wege keinen Wettbewerb anderer
Kolonialvölker fand, konnte es die Weiterführung seines Werkes nach Belieben
zeitweilig einstellen und nach Erledigung dringenderer Geschäfte in Europa und



verfolgt die kolonisatorische Tätigkeit jedes Volkes im Zusammenhang und will so zu einer
vergleichenden Charakteristik der Kolonialvölker kommen. Man kann ihm den Politischen Blick
und die Fähigkeit zu geschickter knapper Gruppierung der Tatsachen nicht absprechen, wird
aber das Ziel doch nicht ganz als erreicht ansehen können. Die Kolonialgeschichte, die das
Verfahren der Kolonisation auf seine letzten Ursachen untersucht, das koloniale Ziel als
Resultante der Volksindividualität, des Ehrgeiz erregenden Vorbildes und der Wirtschaftslage
entwickelt, muß noch geschrieben werden.
") Valentin S. 70: "In diesem Dilemma beruht recht eigentlich das Problem der
französischen Geschichte in der Neuzeit."
Nie koloniale Alternative

gehört, beträchtliche Teile des kontinentalen Europa in den Bereich seiner
Expansion zu ziehen. Kaum sind die inneren Schwierigkeiten des Reformations¬
zeitalters notdürftig überwunden, so greift England über die Meere. Durch
den breiten Wassergraben von den Mächten Europas geschieden, hatte man
fürderhin nur soweit ein Interesse an Europas Geschichte, als es notwendig
schien, heranwachsende Konkurrenten niederzuhalten. Die aktive Teilnahme
Englands an dem Ringen europäischer Staaten gleicht einer Reihe von Ausfalls¬
gefechten, nach deren Beendigung die Besatzung befriedigt und fast ungeschwächt
in ihre uneinnehmbare Festung zurückkehrt. Auch diese Kriege sind mindestens
zum Teil aus kolonialen Gesichtspunkte zu verstehen: die Beschränkung des
holländischen, die Zertrümmerung des französischen Kolonialreiches waren ihr
Ergebnis.

Während so die geographischen Verhältnisse es England erlaubten, in
stetiger Politik die Welt englisch zu machen, zeigt der Verlauf der französischen
Kolonialgeschichte bis ins neunzehnte Jahrhundert das Verhängnisvolle einer
zwei Zielen nachjagenden und darum keines erreichenden Politik., Auch sie ist
geographisch begründet, in der Zweigesichtigkeit Frankreichs, das sowohl auf der
kontinentalen als auf der ozeanischen Seite lockende Aufgaben vor sich sah.
Von vornherein war Frankreich als Festlandsmacht mit den Geschicken des
Kontinents viel inniger verflochten als der Inselstaat; hinzu trat das Streben
nach der Hegemonie in Europa, das seit der endgültigen Abwendung Englands
vom Festlande die französische Politik beherrschte. Daneben aber hatte Frank¬
reich nicht später den Weg kolonialer Ausdehnung betreten als England. Es
erkannte nicht die Alternative seiner geschichtlichen Stellung, die eine Entscheidung
forderte, und ist an dieser Zwiespältigkeit gescheitert*); 1815 ist es so gut wie
keine Kolonialmacht mehr.

So siegte in Westeuropa als Kolonialmacht derjenige Staat, dem sein
geschütztes Machtzentrum Freiheit des Handelns gewährte. Inzwischen hat im
Osten Rußland ebenso ungestört sein eigenes Ausbreitungssystem entwickelt, das
der reinen Überlandkolonisation. Auch hier ist es wieder die geographische
Lage, die das Vordringen bis zum Großen Ozean und darüber hinaus ermög¬
lichte. Da Rußland zunächst auf seinem Wege keinen Wettbewerb anderer
Kolonialvölker fand, konnte es die Weiterführung seines Werkes nach Belieben
zeitweilig einstellen und nach Erledigung dringenderer Geschäfte in Europa und



verfolgt die kolonisatorische Tätigkeit jedes Volkes im Zusammenhang und will so zu einer
vergleichenden Charakteristik der Kolonialvölker kommen. Man kann ihm den Politischen Blick
und die Fähigkeit zu geschickter knapper Gruppierung der Tatsachen nicht absprechen, wird
aber das Ziel doch nicht ganz als erreicht ansehen können. Die Kolonialgeschichte, die das
Verfahren der Kolonisation auf seine letzten Ursachen untersucht, das koloniale Ziel als
Resultante der Volksindividualität, des Ehrgeiz erregenden Vorbildes und der Wirtschaftslage
entwickelt, muß noch geschrieben werden.
") Valentin S. 70: „In diesem Dilemma beruht recht eigentlich das Problem der
französischen Geschichte in der Neuzeit."
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[0206] Nie koloniale Alternative gehört, beträchtliche Teile des kontinentalen Europa in den Bereich seiner Expansion zu ziehen. Kaum sind die inneren Schwierigkeiten des Reformations¬ zeitalters notdürftig überwunden, so greift England über die Meere. Durch den breiten Wassergraben von den Mächten Europas geschieden, hatte man fürderhin nur soweit ein Interesse an Europas Geschichte, als es notwendig schien, heranwachsende Konkurrenten niederzuhalten. Die aktive Teilnahme Englands an dem Ringen europäischer Staaten gleicht einer Reihe von Ausfalls¬ gefechten, nach deren Beendigung die Besatzung befriedigt und fast ungeschwächt in ihre uneinnehmbare Festung zurückkehrt. Auch diese Kriege sind mindestens zum Teil aus kolonialen Gesichtspunkte zu verstehen: die Beschränkung des holländischen, die Zertrümmerung des französischen Kolonialreiches waren ihr Ergebnis. Während so die geographischen Verhältnisse es England erlaubten, in stetiger Politik die Welt englisch zu machen, zeigt der Verlauf der französischen Kolonialgeschichte bis ins neunzehnte Jahrhundert das Verhängnisvolle einer zwei Zielen nachjagenden und darum keines erreichenden Politik., Auch sie ist geographisch begründet, in der Zweigesichtigkeit Frankreichs, das sowohl auf der kontinentalen als auf der ozeanischen Seite lockende Aufgaben vor sich sah. Von vornherein war Frankreich als Festlandsmacht mit den Geschicken des Kontinents viel inniger verflochten als der Inselstaat; hinzu trat das Streben nach der Hegemonie in Europa, das seit der endgültigen Abwendung Englands vom Festlande die französische Politik beherrschte. Daneben aber hatte Frank¬ reich nicht später den Weg kolonialer Ausdehnung betreten als England. Es erkannte nicht die Alternative seiner geschichtlichen Stellung, die eine Entscheidung forderte, und ist an dieser Zwiespältigkeit gescheitert*); 1815 ist es so gut wie keine Kolonialmacht mehr. So siegte in Westeuropa als Kolonialmacht derjenige Staat, dem sein geschütztes Machtzentrum Freiheit des Handelns gewährte. Inzwischen hat im Osten Rußland ebenso ungestört sein eigenes Ausbreitungssystem entwickelt, das der reinen Überlandkolonisation. Auch hier ist es wieder die geographische Lage, die das Vordringen bis zum Großen Ozean und darüber hinaus ermög¬ lichte. Da Rußland zunächst auf seinem Wege keinen Wettbewerb anderer Kolonialvölker fand, konnte es die Weiterführung seines Werkes nach Belieben zeitweilig einstellen und nach Erledigung dringenderer Geschäfte in Europa und verfolgt die kolonisatorische Tätigkeit jedes Volkes im Zusammenhang und will so zu einer vergleichenden Charakteristik der Kolonialvölker kommen. Man kann ihm den Politischen Blick und die Fähigkeit zu geschickter knapper Gruppierung der Tatsachen nicht absprechen, wird aber das Ziel doch nicht ganz als erreicht ansehen können. Die Kolonialgeschichte, die das Verfahren der Kolonisation auf seine letzten Ursachen untersucht, das koloniale Ziel als Resultante der Volksindividualität, des Ehrgeiz erregenden Vorbildes und der Wirtschaftslage entwickelt, muß noch geschrieben werden. ") Valentin S. 70: „In diesem Dilemma beruht recht eigentlich das Problem der französischen Geschichte in der Neuzeit."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/206>, abgerufen am 17.06.2024.