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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Die koloniale Alternative

am Schwarzen Meer wieder am verlassenen Punkte aufnehmen. Dies war nur
möglich, weil das Kolonisationsgebiet von der Hochstraße des Meeres seitab
lag und daher von keiner anderen Macht erreicht werden konnte.

Wir haben also zwei koloniale Systeme, die sich gleichzeitig, ohne einander
Zu kreuzen, durchgesetzt haben, das englische und das russische, das überseeische
und das kontinentale, das System der Streulage (mit der Tendenz freilich zur
Zusammenfassung) und das der Konzentration, das auf der Seebeherrschung
aufgebaute und das von ihr unabhängige, das vorwiegend merkantile und das
fast ganz agrarische. Der wesentliche Unterschied liegt bei alledem im Abstand
des kolonialen Besitzes vom Mutterland, einem Abstand, der im einen Falle
durch Meercsbreiten markiert ist, während im anderen das Mutterland unmerklich
in den Kolonialbesitz übergeht. Eine unwesentliche Verwischung erfährt der
Gegensatz nur dadurch, daß England seinen Seeverkehr auf das höchste Maß
der Leistung gebracht und dadurch den Abstand weniger fühlbar gemacht, Ru߬
land dagegen durch Vernachlässigung seiner Bahnverbindungen lange Zeit hin¬
durch einen künstlichen Abstand hervorgerufen hat.

Die Erwerbung eines transozeanischen Kolonialreiches war seit der un¬
beschränkten Suprematie der englischen Seemacht für keinen Staat mehr möglich,
der sich nicht Englands Bedingungen fügen oder es auf einen Seekampf an¬
kommen lassen wollte. Der einzige Staat, der die Gründung eines kolonialen
Imperiums im neunzehnten Jahrhundert noch unternommen hat, Frankreich,
glaubte sich dieser Notlage entwinden zu können, indem er, soweit die
geographischen Verhältnisse es zuließen, nach dem kontinentalen System verfuhr.
Die neuerworbenen Kolonien an der nordafrikanischen Küste liegen in ihren
wichtigsten Teilen dem Mutterlande nahe genug, daß man hoffen konnte, von
ihnen nicht leicht abgeschnitten zu werden; und an diese Teile schloß sich dann
das gewaltige westafrikanische Gebiet, dessen Ausbau bis in die letzten Jahre
durch Einbeziehung von Marokko gefördert worden ist. Aber die relative Be¬
herrschung des westlichen Mittelmeerbeckens ist dieses ganzen Baues Voraus¬
setzung und seine schwache Stelle. Man mußte empfinden, daß die Linie
Toulon--Biserta gegen das Übelwollen des Besitzers von Gibraltar und Malta
nicht offenzuhalten ist, und die Furcht vor dem Bruch mit England ließ das
stolze Frankreich sogar die Demütigung von Faschoda ertragen. Mehr und
mehr ist Frankreich nur von Englands Gnaden Kolonialmacht, weil ihm seine
geographische Lage die rein kontinentale Kolonisation, das russische System, nicht
erlaubt. Ähnliches gilt von Italien; denn die Besetzung von Tripolis ist,
geographisch betrachtet, nur eine schwache Wiederholung des französischen Vor¬
gehens in Nordafrika, und Erythräa liegt nach jeder Richtung unter den
englischen Kanonen.

Unter dem Mangel, daß der Beherrscher des Meeres es in der Hand
hat, die Kolonien vom Mutterlande abzuschneiden, leidet in besonderem Grade
die deutsche Kolonisation. Bei der Gründung der deutschen Kolonien stand


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Die koloniale Alternative

am Schwarzen Meer wieder am verlassenen Punkte aufnehmen. Dies war nur
möglich, weil das Kolonisationsgebiet von der Hochstraße des Meeres seitab
lag und daher von keiner anderen Macht erreicht werden konnte.

Wir haben also zwei koloniale Systeme, die sich gleichzeitig, ohne einander
Zu kreuzen, durchgesetzt haben, das englische und das russische, das überseeische
und das kontinentale, das System der Streulage (mit der Tendenz freilich zur
Zusammenfassung) und das der Konzentration, das auf der Seebeherrschung
aufgebaute und das von ihr unabhängige, das vorwiegend merkantile und das
fast ganz agrarische. Der wesentliche Unterschied liegt bei alledem im Abstand
des kolonialen Besitzes vom Mutterland, einem Abstand, der im einen Falle
durch Meercsbreiten markiert ist, während im anderen das Mutterland unmerklich
in den Kolonialbesitz übergeht. Eine unwesentliche Verwischung erfährt der
Gegensatz nur dadurch, daß England seinen Seeverkehr auf das höchste Maß
der Leistung gebracht und dadurch den Abstand weniger fühlbar gemacht, Ru߬
land dagegen durch Vernachlässigung seiner Bahnverbindungen lange Zeit hin¬
durch einen künstlichen Abstand hervorgerufen hat.

Die Erwerbung eines transozeanischen Kolonialreiches war seit der un¬
beschränkten Suprematie der englischen Seemacht für keinen Staat mehr möglich,
der sich nicht Englands Bedingungen fügen oder es auf einen Seekampf an¬
kommen lassen wollte. Der einzige Staat, der die Gründung eines kolonialen
Imperiums im neunzehnten Jahrhundert noch unternommen hat, Frankreich,
glaubte sich dieser Notlage entwinden zu können, indem er, soweit die
geographischen Verhältnisse es zuließen, nach dem kontinentalen System verfuhr.
Die neuerworbenen Kolonien an der nordafrikanischen Küste liegen in ihren
wichtigsten Teilen dem Mutterlande nahe genug, daß man hoffen konnte, von
ihnen nicht leicht abgeschnitten zu werden; und an diese Teile schloß sich dann
das gewaltige westafrikanische Gebiet, dessen Ausbau bis in die letzten Jahre
durch Einbeziehung von Marokko gefördert worden ist. Aber die relative Be¬
herrschung des westlichen Mittelmeerbeckens ist dieses ganzen Baues Voraus¬
setzung und seine schwache Stelle. Man mußte empfinden, daß die Linie
Toulon—Biserta gegen das Übelwollen des Besitzers von Gibraltar und Malta
nicht offenzuhalten ist, und die Furcht vor dem Bruch mit England ließ das
stolze Frankreich sogar die Demütigung von Faschoda ertragen. Mehr und
mehr ist Frankreich nur von Englands Gnaden Kolonialmacht, weil ihm seine
geographische Lage die rein kontinentale Kolonisation, das russische System, nicht
erlaubt. Ähnliches gilt von Italien; denn die Besetzung von Tripolis ist,
geographisch betrachtet, nur eine schwache Wiederholung des französischen Vor¬
gehens in Nordafrika, und Erythräa liegt nach jeder Richtung unter den
englischen Kanonen.

Unter dem Mangel, daß der Beherrscher des Meeres es in der Hand
hat, die Kolonien vom Mutterlande abzuschneiden, leidet in besonderem Grade
die deutsche Kolonisation. Bei der Gründung der deutschen Kolonien stand


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[0207] Die koloniale Alternative am Schwarzen Meer wieder am verlassenen Punkte aufnehmen. Dies war nur möglich, weil das Kolonisationsgebiet von der Hochstraße des Meeres seitab lag und daher von keiner anderen Macht erreicht werden konnte. Wir haben also zwei koloniale Systeme, die sich gleichzeitig, ohne einander Zu kreuzen, durchgesetzt haben, das englische und das russische, das überseeische und das kontinentale, das System der Streulage (mit der Tendenz freilich zur Zusammenfassung) und das der Konzentration, das auf der Seebeherrschung aufgebaute und das von ihr unabhängige, das vorwiegend merkantile und das fast ganz agrarische. Der wesentliche Unterschied liegt bei alledem im Abstand des kolonialen Besitzes vom Mutterland, einem Abstand, der im einen Falle durch Meercsbreiten markiert ist, während im anderen das Mutterland unmerklich in den Kolonialbesitz übergeht. Eine unwesentliche Verwischung erfährt der Gegensatz nur dadurch, daß England seinen Seeverkehr auf das höchste Maß der Leistung gebracht und dadurch den Abstand weniger fühlbar gemacht, Ru߬ land dagegen durch Vernachlässigung seiner Bahnverbindungen lange Zeit hin¬ durch einen künstlichen Abstand hervorgerufen hat. Die Erwerbung eines transozeanischen Kolonialreiches war seit der un¬ beschränkten Suprematie der englischen Seemacht für keinen Staat mehr möglich, der sich nicht Englands Bedingungen fügen oder es auf einen Seekampf an¬ kommen lassen wollte. Der einzige Staat, der die Gründung eines kolonialen Imperiums im neunzehnten Jahrhundert noch unternommen hat, Frankreich, glaubte sich dieser Notlage entwinden zu können, indem er, soweit die geographischen Verhältnisse es zuließen, nach dem kontinentalen System verfuhr. Die neuerworbenen Kolonien an der nordafrikanischen Küste liegen in ihren wichtigsten Teilen dem Mutterlande nahe genug, daß man hoffen konnte, von ihnen nicht leicht abgeschnitten zu werden; und an diese Teile schloß sich dann das gewaltige westafrikanische Gebiet, dessen Ausbau bis in die letzten Jahre durch Einbeziehung von Marokko gefördert worden ist. Aber die relative Be¬ herrschung des westlichen Mittelmeerbeckens ist dieses ganzen Baues Voraus¬ setzung und seine schwache Stelle. Man mußte empfinden, daß die Linie Toulon—Biserta gegen das Übelwollen des Besitzers von Gibraltar und Malta nicht offenzuhalten ist, und die Furcht vor dem Bruch mit England ließ das stolze Frankreich sogar die Demütigung von Faschoda ertragen. Mehr und mehr ist Frankreich nur von Englands Gnaden Kolonialmacht, weil ihm seine geographische Lage die rein kontinentale Kolonisation, das russische System, nicht erlaubt. Ähnliches gilt von Italien; denn die Besetzung von Tripolis ist, geographisch betrachtet, nur eine schwache Wiederholung des französischen Vor¬ gehens in Nordafrika, und Erythräa liegt nach jeder Richtung unter den englischen Kanonen. Unter dem Mangel, daß der Beherrscher des Meeres es in der Hand hat, die Kolonien vom Mutterlande abzuschneiden, leidet in besonderem Grade die deutsche Kolonisation. Bei der Gründung der deutschen Kolonien stand 13*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/207>, abgerufen am 17.06.2024.