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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Deutschland und die Koalition

Gleichgewichts konnten wir wieder in Europa ans Licht kommen. Auf dieser
Weltkarte, die der Wiener Kongreß uns als Erbschaft hinterließ, war für uns
kein Platz und hätte sich niemals Platz gefunden. Diese für uns hundertfach
unglückliche Erbschaft überzog uns mit Schimmel, wie der Friedhofsrasen einen
vergessenen Hügel überwuchert. Deutschland, das mit seinem eisernen Pfluge
ganz Europa kreuz und quer durchpflügte, hat auch die Geschichte eines ganzen
Jahrhunderts gründlich umgepflügt und indem es sein Gewebe zerriß, sprengte
es auch die Netze, die uns erwürgen sollten. Das darf nicht vergessen werden
angesichts der Größe der Ereignisse, hinter denen alles zurücktreten muß, was
nicht Maß und Gewicht mindestens eines Jahrhunderts hat.

Obwohl unser Los zum Teil das Werk unserer eigenen Hände sein wird,
wird wohl unsere Generation die Wohltaten dieses Krieges selbst bei seinem für
uns günstigsten Ausgang in ganzer Fülle nicht mehr genießen. Zu viel Trauer
liegt über die Felder ausgebreitet, zu viel Leid ist in unsere Seelen eingedrungen,
zu viele Wunden werden zu heilen sein. Aber die Trauer über das jetzige
Geschick darf nicht die Aussichten eines besseren Loses verschließen, das wir
unseren Kindern und Enkeln erkämpfen könnten und zu erkämpfen verpflichtet
sind. Unser Geschick ist hart. Aber wer über die Schlagbäume Warschaus
und über die Grenzen des Landes hinaussah, weiß, daß sich fast ganz Europa
in einem Chaos von Blut, Tränen und Mühsal badet. Ich sah in Deutsch¬
land einen Greis, dessen vier Söhne im Kriege auf verschiedenen Fronten ge¬
fallen sind, und der fünfte -- der letzte -- ging aus der schon leeren Hütte
in den Krieg als Kriegsfreiwilliger. Ich sah den Alten täglich bei Tages¬
anbruch, wie er an den Zaun des Lagers gelehnt schweigend in den fernen
Abgrund des Ostens sah. Ein wie schreckliches Echo muß ihm von den öden
Wänden des väterlichen Hauses entgegengeklungen sein, wie muß ihm die
steigende Öde entgegengeklafft haben, wenn die schwarze kalte Nacht für ihn
eine Trösterin war! Und doch habe ich aus seinem Munde keine Klage, keinen
Vorwurf gehört. Sein Unglück blieb ein Geheimnis zwischen ihm und dem
Schweigen der Nacht. Wer die Furchtbarkeit des Krieges verstehen will, möge
das Leiden eines einzigen zerschmetterten Opfers durchdenken. Aber die Opfer
des Krieges erreichen Ziffern, bei denen das Blut erstarrt. Unlängst eröffnete
man in Berlin ein Heim für elftausend Schwerverletzte. Welch eine gestählte
Seele muß die Nation haben, die den Anblick solcher Leiden erträgt, und die
nach den Worten seines Dichters Gerhart Hauptmann dieses unermeßliche Opfer
segnet, wenn es für das Vaterland erforderlich ist.

Wir, die wir in diesem Kriege als Nation am wenigsten zu verlieren
hatten und dafür alles zu gewinnen haben, müssen bei den Beschwerden der
Alltäglichkeit noch fester und andauernder als andere Völker die Zähne zusammen¬
beißen. Mit der Achtung für die fremden Opfer bestätigen wir die eigene
Opferbereitschaft, die uns schnell vorübergehende Unannehmlichkeiten zu vergessen
gebietet angesichts der Beseitigung der einzigen Unbill, die für uns das größte


Deutschland und die Koalition

Gleichgewichts konnten wir wieder in Europa ans Licht kommen. Auf dieser
Weltkarte, die der Wiener Kongreß uns als Erbschaft hinterließ, war für uns
kein Platz und hätte sich niemals Platz gefunden. Diese für uns hundertfach
unglückliche Erbschaft überzog uns mit Schimmel, wie der Friedhofsrasen einen
vergessenen Hügel überwuchert. Deutschland, das mit seinem eisernen Pfluge
ganz Europa kreuz und quer durchpflügte, hat auch die Geschichte eines ganzen
Jahrhunderts gründlich umgepflügt und indem es sein Gewebe zerriß, sprengte
es auch die Netze, die uns erwürgen sollten. Das darf nicht vergessen werden
angesichts der Größe der Ereignisse, hinter denen alles zurücktreten muß, was
nicht Maß und Gewicht mindestens eines Jahrhunderts hat.

Obwohl unser Los zum Teil das Werk unserer eigenen Hände sein wird,
wird wohl unsere Generation die Wohltaten dieses Krieges selbst bei seinem für
uns günstigsten Ausgang in ganzer Fülle nicht mehr genießen. Zu viel Trauer
liegt über die Felder ausgebreitet, zu viel Leid ist in unsere Seelen eingedrungen,
zu viele Wunden werden zu heilen sein. Aber die Trauer über das jetzige
Geschick darf nicht die Aussichten eines besseren Loses verschließen, das wir
unseren Kindern und Enkeln erkämpfen könnten und zu erkämpfen verpflichtet
sind. Unser Geschick ist hart. Aber wer über die Schlagbäume Warschaus
und über die Grenzen des Landes hinaussah, weiß, daß sich fast ganz Europa
in einem Chaos von Blut, Tränen und Mühsal badet. Ich sah in Deutsch¬
land einen Greis, dessen vier Söhne im Kriege auf verschiedenen Fronten ge¬
fallen sind, und der fünfte — der letzte — ging aus der schon leeren Hütte
in den Krieg als Kriegsfreiwilliger. Ich sah den Alten täglich bei Tages¬
anbruch, wie er an den Zaun des Lagers gelehnt schweigend in den fernen
Abgrund des Ostens sah. Ein wie schreckliches Echo muß ihm von den öden
Wänden des väterlichen Hauses entgegengeklungen sein, wie muß ihm die
steigende Öde entgegengeklafft haben, wenn die schwarze kalte Nacht für ihn
eine Trösterin war! Und doch habe ich aus seinem Munde keine Klage, keinen
Vorwurf gehört. Sein Unglück blieb ein Geheimnis zwischen ihm und dem
Schweigen der Nacht. Wer die Furchtbarkeit des Krieges verstehen will, möge
das Leiden eines einzigen zerschmetterten Opfers durchdenken. Aber die Opfer
des Krieges erreichen Ziffern, bei denen das Blut erstarrt. Unlängst eröffnete
man in Berlin ein Heim für elftausend Schwerverletzte. Welch eine gestählte
Seele muß die Nation haben, die den Anblick solcher Leiden erträgt, und die
nach den Worten seines Dichters Gerhart Hauptmann dieses unermeßliche Opfer
segnet, wenn es für das Vaterland erforderlich ist.

Wir, die wir in diesem Kriege als Nation am wenigsten zu verlieren
hatten und dafür alles zu gewinnen haben, müssen bei den Beschwerden der
Alltäglichkeit noch fester und andauernder als andere Völker die Zähne zusammen¬
beißen. Mit der Achtung für die fremden Opfer bestätigen wir die eigene
Opferbereitschaft, die uns schnell vorübergehende Unannehmlichkeiten zu vergessen
gebietet angesichts der Beseitigung der einzigen Unbill, die für uns das größte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/30>, abgerufen am 26.05.2024.