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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Unterricht auf den Universitäten

sich selten als fruchtbar erwiesen, wie dies besonders deutlich die unglücklichen
Bemühungen, das geschichtliche Leben nach naturwissenschaftlicher Methode zu
bearbeiten, gezeigt haben. Der Versuch, die Literatur unserer ältesten Ver¬
gangenheit aus den spärlich vorhandenen Resten aufzubauen, verlangt es. auch
das kleinste Bruchstück mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit zu bewahren und zu
bewerten. Ganz anders ist uns die neuere Literatur übermittelt. Em Uber-
reichtum an Stoff drängt sich hier dem Forscher auf und die Andacht zum
Kleinen kann hier zur Überschätzung des Kleinlichen führen. Die höchsten
Tugenden der mit unendlicher Mühe, Scharfsinn und nachschaffender Phantasie
ein Bild der Vergangenheit aus anscheinend zusammenhangslosen Trümmern
aufbauenden Philologen können hier gar nicht zu voller Entfaltung kommen.
Weiteste Kreise vereinigen ihre Vorwürfe gegen diese Richtung in dem Worte
von der Goethephilologie. Sie empfanden allzusehr das Mißverhältnis zwischen
der Lebenswirklichkeit unseres größten Dichters, die sich ihnen unmittelbar zu
erkennen gab. und der peinlichen Aufzeichnung alltäglichster Vorgänge seines
Daseins und den bogenreichen Verzeichnissen oft wertloser Varianten aus seinen
Schriften. Kein geringerer als Mommsen hat vor diesen Abwegen gewarnt
und Erich Schmidt, als er ihn bei seinem Eintritt in die Berliner Akademie
begrüßte, gemahnt, "der Kleinmeisterei des Text- und Apparatemachens und
des Abdrückens seelenloser Epistolarien gebührende Schranken zu setzen".

Es ist nun ganz zweifellos, daß die neueste deutsche Literaturgeschichte
über diese Mängel hinauszuwachsen beginnt oder hinausgewachsen ist. Sie
mußte es. es konnte nicht anders sein. Wie in der Geschichte sich nichts
eigentlich wiederholt, so sind bei dem Werden unserer neueren deutschen Dich¬
tung andere Kräfte am Werke gewesen als in den frühesten Zeiten. Die
Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ist im Zusammenhang
einer eigentümlichen Geisteskultur entstanden und aus ihr zu begreifen. Aus
der Abhängigkeit von der Literatur und Ästhetik der anderen modernen Kultur¬
völker sich befreiend, gewinnt sie im Zusammenhang mit einer ihr eigentüm¬
lichen Bewertung und Belebung der antiken Kultur eine nationale Eigenart,
aus der sie doch dann wieder zur Höhe allgemein menschlicher Geltung strebt.
So ist ihr Verständnis nur zu erringen durch Betrachtung der gleichzeitigen Philo¬
sophie, zu der sie in das Verhältnis von Abhängigkeit und Beeinflussung tritt.
Und wie der einzelne Dichter um die eigene künstlerische Vollendung ringt, so
vollzieht sich seit den Tagen Gottscheds bis zu denen der Romantik und der
Gegenwart ein Zusammenarbeiten von künstlerischem Schaffen und ästhetischer
Theorie, wie vielleicht kaum in einer anderen Literatur. Wer wollte z. B. das
Werden Schillers begreifen ohne die Entwicklung seines Geistes von den Tagen
einer begeisterungstrunkenen Jugendphilosophie zu Kant und über ihn hinaus
zu der von ihm erreichten Synthese zwischen Kunst und Leben? Und welchen
Reichtum kann die neuere deutsche Literaturgeschichte nicht dem deutschen Volke
erhalten und beleben aus der Betrachtung der Persönlichkeiten unserer großen


Der deutsche Unterricht auf den Universitäten

sich selten als fruchtbar erwiesen, wie dies besonders deutlich die unglücklichen
Bemühungen, das geschichtliche Leben nach naturwissenschaftlicher Methode zu
bearbeiten, gezeigt haben. Der Versuch, die Literatur unserer ältesten Ver¬
gangenheit aus den spärlich vorhandenen Resten aufzubauen, verlangt es. auch
das kleinste Bruchstück mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit zu bewahren und zu
bewerten. Ganz anders ist uns die neuere Literatur übermittelt. Em Uber-
reichtum an Stoff drängt sich hier dem Forscher auf und die Andacht zum
Kleinen kann hier zur Überschätzung des Kleinlichen führen. Die höchsten
Tugenden der mit unendlicher Mühe, Scharfsinn und nachschaffender Phantasie
ein Bild der Vergangenheit aus anscheinend zusammenhangslosen Trümmern
aufbauenden Philologen können hier gar nicht zu voller Entfaltung kommen.
Weiteste Kreise vereinigen ihre Vorwürfe gegen diese Richtung in dem Worte
von der Goethephilologie. Sie empfanden allzusehr das Mißverhältnis zwischen
der Lebenswirklichkeit unseres größten Dichters, die sich ihnen unmittelbar zu
erkennen gab. und der peinlichen Aufzeichnung alltäglichster Vorgänge seines
Daseins und den bogenreichen Verzeichnissen oft wertloser Varianten aus seinen
Schriften. Kein geringerer als Mommsen hat vor diesen Abwegen gewarnt
und Erich Schmidt, als er ihn bei seinem Eintritt in die Berliner Akademie
begrüßte, gemahnt, „der Kleinmeisterei des Text- und Apparatemachens und
des Abdrückens seelenloser Epistolarien gebührende Schranken zu setzen".

Es ist nun ganz zweifellos, daß die neueste deutsche Literaturgeschichte
über diese Mängel hinauszuwachsen beginnt oder hinausgewachsen ist. Sie
mußte es. es konnte nicht anders sein. Wie in der Geschichte sich nichts
eigentlich wiederholt, so sind bei dem Werden unserer neueren deutschen Dich¬
tung andere Kräfte am Werke gewesen als in den frühesten Zeiten. Die
Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ist im Zusammenhang
einer eigentümlichen Geisteskultur entstanden und aus ihr zu begreifen. Aus
der Abhängigkeit von der Literatur und Ästhetik der anderen modernen Kultur¬
völker sich befreiend, gewinnt sie im Zusammenhang mit einer ihr eigentüm¬
lichen Bewertung und Belebung der antiken Kultur eine nationale Eigenart,
aus der sie doch dann wieder zur Höhe allgemein menschlicher Geltung strebt.
So ist ihr Verständnis nur zu erringen durch Betrachtung der gleichzeitigen Philo¬
sophie, zu der sie in das Verhältnis von Abhängigkeit und Beeinflussung tritt.
Und wie der einzelne Dichter um die eigene künstlerische Vollendung ringt, so
vollzieht sich seit den Tagen Gottscheds bis zu denen der Romantik und der
Gegenwart ein Zusammenarbeiten von künstlerischem Schaffen und ästhetischer
Theorie, wie vielleicht kaum in einer anderen Literatur. Wer wollte z. B. das
Werden Schillers begreifen ohne die Entwicklung seines Geistes von den Tagen
einer begeisterungstrunkenen Jugendphilosophie zu Kant und über ihn hinaus
zu der von ihm erreichten Synthese zwischen Kunst und Leben? Und welchen
Reichtum kann die neuere deutsche Literaturgeschichte nicht dem deutschen Volke
erhalten und beleben aus der Betrachtung der Persönlichkeiten unserer großen


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[0037] Der deutsche Unterricht auf den Universitäten sich selten als fruchtbar erwiesen, wie dies besonders deutlich die unglücklichen Bemühungen, das geschichtliche Leben nach naturwissenschaftlicher Methode zu bearbeiten, gezeigt haben. Der Versuch, die Literatur unserer ältesten Ver¬ gangenheit aus den spärlich vorhandenen Resten aufzubauen, verlangt es. auch das kleinste Bruchstück mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit zu bewahren und zu bewerten. Ganz anders ist uns die neuere Literatur übermittelt. Em Uber- reichtum an Stoff drängt sich hier dem Forscher auf und die Andacht zum Kleinen kann hier zur Überschätzung des Kleinlichen führen. Die höchsten Tugenden der mit unendlicher Mühe, Scharfsinn und nachschaffender Phantasie ein Bild der Vergangenheit aus anscheinend zusammenhangslosen Trümmern aufbauenden Philologen können hier gar nicht zu voller Entfaltung kommen. Weiteste Kreise vereinigen ihre Vorwürfe gegen diese Richtung in dem Worte von der Goethephilologie. Sie empfanden allzusehr das Mißverhältnis zwischen der Lebenswirklichkeit unseres größten Dichters, die sich ihnen unmittelbar zu erkennen gab. und der peinlichen Aufzeichnung alltäglichster Vorgänge seines Daseins und den bogenreichen Verzeichnissen oft wertloser Varianten aus seinen Schriften. Kein geringerer als Mommsen hat vor diesen Abwegen gewarnt und Erich Schmidt, als er ihn bei seinem Eintritt in die Berliner Akademie begrüßte, gemahnt, „der Kleinmeisterei des Text- und Apparatemachens und des Abdrückens seelenloser Epistolarien gebührende Schranken zu setzen". Es ist nun ganz zweifellos, daß die neueste deutsche Literaturgeschichte über diese Mängel hinauszuwachsen beginnt oder hinausgewachsen ist. Sie mußte es. es konnte nicht anders sein. Wie in der Geschichte sich nichts eigentlich wiederholt, so sind bei dem Werden unserer neueren deutschen Dich¬ tung andere Kräfte am Werke gewesen als in den frühesten Zeiten. Die Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ist im Zusammenhang einer eigentümlichen Geisteskultur entstanden und aus ihr zu begreifen. Aus der Abhängigkeit von der Literatur und Ästhetik der anderen modernen Kultur¬ völker sich befreiend, gewinnt sie im Zusammenhang mit einer ihr eigentüm¬ lichen Bewertung und Belebung der antiken Kultur eine nationale Eigenart, aus der sie doch dann wieder zur Höhe allgemein menschlicher Geltung strebt. So ist ihr Verständnis nur zu erringen durch Betrachtung der gleichzeitigen Philo¬ sophie, zu der sie in das Verhältnis von Abhängigkeit und Beeinflussung tritt. Und wie der einzelne Dichter um die eigene künstlerische Vollendung ringt, so vollzieht sich seit den Tagen Gottscheds bis zu denen der Romantik und der Gegenwart ein Zusammenarbeiten von künstlerischem Schaffen und ästhetischer Theorie, wie vielleicht kaum in einer anderen Literatur. Wer wollte z. B. das Werden Schillers begreifen ohne die Entwicklung seines Geistes von den Tagen einer begeisterungstrunkenen Jugendphilosophie zu Kant und über ihn hinaus zu der von ihm erreichten Synthese zwischen Kunst und Leben? Und welchen Reichtum kann die neuere deutsche Literaturgeschichte nicht dem deutschen Volke erhalten und beleben aus der Betrachtung der Persönlichkeiten unserer großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/37>, abgerufen am 26.05.2024.