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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

Diese dritte Kraft verkörpert nach Solowjow das russische Volk. Sie muß
kommen, denn "entweder ist dies das Ende aller Geschichte oder die unaus¬
bleibliche Enthüllung jener dritten unversehrten Kraft, deren einziger Träger
nur das Slawentum und das russische Volk sein kann". "Ein solches Volk ist
nicht mit irgendeiner beschränkten Spezialaufgabe betraut, es ist nicht berufen,
über den Formen und Elementen des menschlichen Daseins zu arbeiten, sondern
es ist dazu da, die lebendige Seele zu vermitteln, Leben und Ganzheit der
zerklüfteten und abgestorbenen Menschheit dadurch zu bringen, daß es sie
wiederum mit dem ewigen göttlichen Prinzip vereinigt".

In dieser "großen Synthese" zwischen Menschheit und Gott sah Solowjow
den Sinn der russischen Geschichte, den Sinn der allgemeinen Geschichte. Der
Gedanke steht ganz nahe dem der Slawophilen. Wenngleich schon damals in
anderen Werken Solowjow "das Russische bereits mit dem Universalen, allgemein
Menschlichen identifiziert", wie er es später immer mehr getan hat, so haben
wir doch bei ihm immer das bestimmte Gefühl, daß er dabei nicht seinen
Ausgangspunkt von diesem allgemein menschlichen, sondern vom spezifisch-
russischen nimmt.

Auch das Widerspiel der Slawophilen, Tschaadajew, kehrt doch im Grunde
immer zu dieser Formel des Denkens zurück. Er sieht den Unterschied zwischen
Westen und Osten darin, daß dort im Westen jede große neue Idee zur
Sensation, zur Parteisache wird, daß man sie hysterisch ergreift, um sie schließlich
wie unfruchtbaren Staub in die entfernten Sphären wandern zu lassen. Ru߬
land dagegen habe nicht "jene leidenschaftlichen Interessen, jene fertigen
Meinungen, jene festen Vorurteile". "Wir nehmen mit jungfräulichen Gemüte
jede große neue Idee auf." Und gerade aus diesem inneren Wesen des
russischen Volkes folgert auch Tschaadajew ebenso wie seine Zeitgenossen die
Mission Rußlands als die Mission des "Gewissensrichters der Menschheit".

Und wenn wir die Ideale Dostojewskis aus jener letzten Zeit nehmen,
wo er nicht mehr das Russische ohne weiteres dem Westlichen entgegensetzte,
sondern wie Solowjow das russische mit dem universalen gleichsetzte und vom
russischen Wesen geradezu verlangt, daß es nicht feindselig dem anderen, dem
westlichen gegenüberstehe, sondern "freundlich mit aller Liebe in seine Seele die
Genien der fremden Nationen in sich aufnehme", -- so finden wir doch hier --
nur etwas anders formuliert, denselben Messiasgedanken wieder. Rußlands
Aufgabe wird es nach Dostojewski sein:


"danach zu streben, endgültig eine Versöhnung in die europäischen Gegensätze
zu bringen, in der russischen allmenschlichen und alleinenden Seele der euro-
päischen Sehnsucht einen Ausweg zu zeigen, in sie mit brüderlicher Liebe
alle unsere Brüder aufzunehmen, und schließlich am Ende aller Enden das
endgültige Wort der großen allgemeinen Harmonie, des schließlichen brüder¬
lichen Zusammenschlusses aller Völker in dem evangelischen Gesetz Christi
auszusprechen."

Wohin geht Rußland?

Diese dritte Kraft verkörpert nach Solowjow das russische Volk. Sie muß
kommen, denn „entweder ist dies das Ende aller Geschichte oder die unaus¬
bleibliche Enthüllung jener dritten unversehrten Kraft, deren einziger Träger
nur das Slawentum und das russische Volk sein kann". „Ein solches Volk ist
nicht mit irgendeiner beschränkten Spezialaufgabe betraut, es ist nicht berufen,
über den Formen und Elementen des menschlichen Daseins zu arbeiten, sondern
es ist dazu da, die lebendige Seele zu vermitteln, Leben und Ganzheit der
zerklüfteten und abgestorbenen Menschheit dadurch zu bringen, daß es sie
wiederum mit dem ewigen göttlichen Prinzip vereinigt".

In dieser „großen Synthese" zwischen Menschheit und Gott sah Solowjow
den Sinn der russischen Geschichte, den Sinn der allgemeinen Geschichte. Der
Gedanke steht ganz nahe dem der Slawophilen. Wenngleich schon damals in
anderen Werken Solowjow „das Russische bereits mit dem Universalen, allgemein
Menschlichen identifiziert", wie er es später immer mehr getan hat, so haben
wir doch bei ihm immer das bestimmte Gefühl, daß er dabei nicht seinen
Ausgangspunkt von diesem allgemein menschlichen, sondern vom spezifisch-
russischen nimmt.

Auch das Widerspiel der Slawophilen, Tschaadajew, kehrt doch im Grunde
immer zu dieser Formel des Denkens zurück. Er sieht den Unterschied zwischen
Westen und Osten darin, daß dort im Westen jede große neue Idee zur
Sensation, zur Parteisache wird, daß man sie hysterisch ergreift, um sie schließlich
wie unfruchtbaren Staub in die entfernten Sphären wandern zu lassen. Ru߬
land dagegen habe nicht „jene leidenschaftlichen Interessen, jene fertigen
Meinungen, jene festen Vorurteile". „Wir nehmen mit jungfräulichen Gemüte
jede große neue Idee auf." Und gerade aus diesem inneren Wesen des
russischen Volkes folgert auch Tschaadajew ebenso wie seine Zeitgenossen die
Mission Rußlands als die Mission des „Gewissensrichters der Menschheit".

Und wenn wir die Ideale Dostojewskis aus jener letzten Zeit nehmen,
wo er nicht mehr das Russische ohne weiteres dem Westlichen entgegensetzte,
sondern wie Solowjow das russische mit dem universalen gleichsetzte und vom
russischen Wesen geradezu verlangt, daß es nicht feindselig dem anderen, dem
westlichen gegenüberstehe, sondern „freundlich mit aller Liebe in seine Seele die
Genien der fremden Nationen in sich aufnehme", — so finden wir doch hier —
nur etwas anders formuliert, denselben Messiasgedanken wieder. Rußlands
Aufgabe wird es nach Dostojewski sein:


„danach zu streben, endgültig eine Versöhnung in die europäischen Gegensätze
zu bringen, in der russischen allmenschlichen und alleinenden Seele der euro-
päischen Sehnsucht einen Ausweg zu zeigen, in sie mit brüderlicher Liebe
alle unsere Brüder aufzunehmen, und schließlich am Ende aller Enden das
endgültige Wort der großen allgemeinen Harmonie, des schließlichen brüder¬
lichen Zusammenschlusses aller Völker in dem evangelischen Gesetz Christi
auszusprechen."

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[0117] Wohin geht Rußland? Diese dritte Kraft verkörpert nach Solowjow das russische Volk. Sie muß kommen, denn „entweder ist dies das Ende aller Geschichte oder die unaus¬ bleibliche Enthüllung jener dritten unversehrten Kraft, deren einziger Träger nur das Slawentum und das russische Volk sein kann". „Ein solches Volk ist nicht mit irgendeiner beschränkten Spezialaufgabe betraut, es ist nicht berufen, über den Formen und Elementen des menschlichen Daseins zu arbeiten, sondern es ist dazu da, die lebendige Seele zu vermitteln, Leben und Ganzheit der zerklüfteten und abgestorbenen Menschheit dadurch zu bringen, daß es sie wiederum mit dem ewigen göttlichen Prinzip vereinigt". In dieser „großen Synthese" zwischen Menschheit und Gott sah Solowjow den Sinn der russischen Geschichte, den Sinn der allgemeinen Geschichte. Der Gedanke steht ganz nahe dem der Slawophilen. Wenngleich schon damals in anderen Werken Solowjow „das Russische bereits mit dem Universalen, allgemein Menschlichen identifiziert", wie er es später immer mehr getan hat, so haben wir doch bei ihm immer das bestimmte Gefühl, daß er dabei nicht seinen Ausgangspunkt von diesem allgemein menschlichen, sondern vom spezifisch- russischen nimmt. Auch das Widerspiel der Slawophilen, Tschaadajew, kehrt doch im Grunde immer zu dieser Formel des Denkens zurück. Er sieht den Unterschied zwischen Westen und Osten darin, daß dort im Westen jede große neue Idee zur Sensation, zur Parteisache wird, daß man sie hysterisch ergreift, um sie schließlich wie unfruchtbaren Staub in die entfernten Sphären wandern zu lassen. Ru߬ land dagegen habe nicht „jene leidenschaftlichen Interessen, jene fertigen Meinungen, jene festen Vorurteile". „Wir nehmen mit jungfräulichen Gemüte jede große neue Idee auf." Und gerade aus diesem inneren Wesen des russischen Volkes folgert auch Tschaadajew ebenso wie seine Zeitgenossen die Mission Rußlands als die Mission des „Gewissensrichters der Menschheit". Und wenn wir die Ideale Dostojewskis aus jener letzten Zeit nehmen, wo er nicht mehr das Russische ohne weiteres dem Westlichen entgegensetzte, sondern wie Solowjow das russische mit dem universalen gleichsetzte und vom russischen Wesen geradezu verlangt, daß es nicht feindselig dem anderen, dem westlichen gegenüberstehe, sondern „freundlich mit aller Liebe in seine Seele die Genien der fremden Nationen in sich aufnehme", — so finden wir doch hier — nur etwas anders formuliert, denselben Messiasgedanken wieder. Rußlands Aufgabe wird es nach Dostojewski sein: „danach zu streben, endgültig eine Versöhnung in die europäischen Gegensätze zu bringen, in der russischen allmenschlichen und alleinenden Seele der euro- päischen Sehnsucht einen Ausweg zu zeigen, in sie mit brüderlicher Liebe alle unsere Brüder aufzunehmen, und schließlich am Ende aller Enden das endgültige Wort der großen allgemeinen Harmonie, des schließlichen brüder¬ lichen Zusammenschlusses aller Völker in dem evangelischen Gesetz Christi auszusprechen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/117>, abgerufen am 29.05.2024.