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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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wohin geht Rußland?

vom Westen, Rußland soll alle geistigen Werte des Westens in sich aufnehmen.
In erster Linie ist der Westen "wichtig als technische Schule, deren Mangel
das russische geistige Schaffen paralysiert hat. Der Westen ist für Rußland
aber als Schatzkammer der geistigen Kultur der echten schöpferischen Werte not¬
wendig". Aber das ist für Bulgakow kein Endzweck, sondern nur ein Mittel
zum Zweck. Rußland soll ihn benutzen, um seine eigenen geistigen Werte voller
und reiner zum Ausdruck zu bringen. Denn gerade die westliche Kultur enthält
die Keime für die Gefahr eines Unterganges jeder Kultur, diese Gefahr möchte
Bulgakow für Nußland vermieden fehen. Den amor loci, diese Liebe zur
Technik, zum Komfort, wie er im Westen herrscht, den soll dieser Krieg über¬
winden helfen. Dieses Ergebnis, wenn es Rußland mit fördern hilft, wird an
sich schon eine große Rechtfertigung des Krieges bedeuten. Was dann noch
Bulgakow von dem anderen großen Ziele des Krieges, die Herbeiführung des
endgültigen Zusammenschlusses der europäischen Staaten spricht, ist in diesem
Zusammenhange weniger wichtig. Der erste Gedanke ist die Hauptsache. Die
Vermeidung der Ideale des Westens, die Vermeidung des Loslösens von Gott,
das ist es, was Bulgakow für sein Land wünscht.

Wolschsky vertieft sich mehr in jenen anderen Charakterzug des russischen
Wesens, der mit dem unbewußten Leben der russischen Seele mehr zu tun hat
als mit den bewußten Doktrinen des russischen Propheten, in jenen Zug des
Leidens, des Sichunterwerfens, des Nichtwiderstehens dem Leiden gegenüber, dessen
ergreifendsten Ausdruck wir in Schriftstellern wie Tolstoi finden. Der "Kreuz¬
zug bis zu Ende", das ist die russische Mission nach Wolschsky. Rußland wird
möglicherweise "das Sklavengesicht des Heilandes annehmen und sich bis zum
Tode erniedrigen. Rußland kann im Dienste für andere sich vielleicht sogar
selber schänden, kann vielleicht die Füße der Völker Europas waschen, aber nicht
um sich nachgiebig mit ihnen allen zu versöhnen, nicht um der allmenschlichen
Weltharmonie auf Erden willen, sondern zur Erhöhung seiner Standarte,
seines ewigen Ruhmes, des Ruhmes des Kreuzes Gottes".*) Es ist die alte
slawophile Opferidee, die hier in den Gedankengang des modernen Schrift¬
stellers wieder hineinspukt, aber sie ist immaterieller. Denn "wenn die Recht¬
gläubigkeit reinstes und von Interesse an irdische Abzweigungen nicht getrübtes
Christentum darstellt, so darf Rußland irgendwelche durch die Sinne wahr¬
nehmbaren Ereignisse in den irdischen Einrichtungen nicht anstreben". Zwar
hat dies nichts zu tun mit dem Siegeswillen des Volkes, denn "eine leid¬
tragende Seele ist vollkommen denkbar in einem Körper, der alle äußeren Wider¬
stände siegreich überwunden hat", aber der Wille muß rein sein. "Daher das
Leidensgesicht Rußlands, die Erwartung des Kreuzganges."

Ich habe schon wiederholt den russischen Nationalismus und seine Gedanken-



*) Ich zitiere nach Askoldow in "Rußkaja Myssl", da mir das Original nicht zur Ver¬
fügung steht.
wohin geht Rußland?

vom Westen, Rußland soll alle geistigen Werte des Westens in sich aufnehmen.
In erster Linie ist der Westen „wichtig als technische Schule, deren Mangel
das russische geistige Schaffen paralysiert hat. Der Westen ist für Rußland
aber als Schatzkammer der geistigen Kultur der echten schöpferischen Werte not¬
wendig". Aber das ist für Bulgakow kein Endzweck, sondern nur ein Mittel
zum Zweck. Rußland soll ihn benutzen, um seine eigenen geistigen Werte voller
und reiner zum Ausdruck zu bringen. Denn gerade die westliche Kultur enthält
die Keime für die Gefahr eines Unterganges jeder Kultur, diese Gefahr möchte
Bulgakow für Nußland vermieden fehen. Den amor loci, diese Liebe zur
Technik, zum Komfort, wie er im Westen herrscht, den soll dieser Krieg über¬
winden helfen. Dieses Ergebnis, wenn es Rußland mit fördern hilft, wird an
sich schon eine große Rechtfertigung des Krieges bedeuten. Was dann noch
Bulgakow von dem anderen großen Ziele des Krieges, die Herbeiführung des
endgültigen Zusammenschlusses der europäischen Staaten spricht, ist in diesem
Zusammenhange weniger wichtig. Der erste Gedanke ist die Hauptsache. Die
Vermeidung der Ideale des Westens, die Vermeidung des Loslösens von Gott,
das ist es, was Bulgakow für sein Land wünscht.

Wolschsky vertieft sich mehr in jenen anderen Charakterzug des russischen
Wesens, der mit dem unbewußten Leben der russischen Seele mehr zu tun hat
als mit den bewußten Doktrinen des russischen Propheten, in jenen Zug des
Leidens, des Sichunterwerfens, des Nichtwiderstehens dem Leiden gegenüber, dessen
ergreifendsten Ausdruck wir in Schriftstellern wie Tolstoi finden. Der „Kreuz¬
zug bis zu Ende", das ist die russische Mission nach Wolschsky. Rußland wird
möglicherweise „das Sklavengesicht des Heilandes annehmen und sich bis zum
Tode erniedrigen. Rußland kann im Dienste für andere sich vielleicht sogar
selber schänden, kann vielleicht die Füße der Völker Europas waschen, aber nicht
um sich nachgiebig mit ihnen allen zu versöhnen, nicht um der allmenschlichen
Weltharmonie auf Erden willen, sondern zur Erhöhung seiner Standarte,
seines ewigen Ruhmes, des Ruhmes des Kreuzes Gottes".*) Es ist die alte
slawophile Opferidee, die hier in den Gedankengang des modernen Schrift¬
stellers wieder hineinspukt, aber sie ist immaterieller. Denn „wenn die Recht¬
gläubigkeit reinstes und von Interesse an irdische Abzweigungen nicht getrübtes
Christentum darstellt, so darf Rußland irgendwelche durch die Sinne wahr¬
nehmbaren Ereignisse in den irdischen Einrichtungen nicht anstreben". Zwar
hat dies nichts zu tun mit dem Siegeswillen des Volkes, denn „eine leid¬
tragende Seele ist vollkommen denkbar in einem Körper, der alle äußeren Wider¬
stände siegreich überwunden hat", aber der Wille muß rein sein. „Daher das
Leidensgesicht Rußlands, die Erwartung des Kreuzganges."

Ich habe schon wiederholt den russischen Nationalismus und seine Gedanken-



*) Ich zitiere nach Askoldow in „Rußkaja Myssl", da mir das Original nicht zur Ver¬
fügung steht.
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[0119] wohin geht Rußland? vom Westen, Rußland soll alle geistigen Werte des Westens in sich aufnehmen. In erster Linie ist der Westen „wichtig als technische Schule, deren Mangel das russische geistige Schaffen paralysiert hat. Der Westen ist für Rußland aber als Schatzkammer der geistigen Kultur der echten schöpferischen Werte not¬ wendig". Aber das ist für Bulgakow kein Endzweck, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Rußland soll ihn benutzen, um seine eigenen geistigen Werte voller und reiner zum Ausdruck zu bringen. Denn gerade die westliche Kultur enthält die Keime für die Gefahr eines Unterganges jeder Kultur, diese Gefahr möchte Bulgakow für Nußland vermieden fehen. Den amor loci, diese Liebe zur Technik, zum Komfort, wie er im Westen herrscht, den soll dieser Krieg über¬ winden helfen. Dieses Ergebnis, wenn es Rußland mit fördern hilft, wird an sich schon eine große Rechtfertigung des Krieges bedeuten. Was dann noch Bulgakow von dem anderen großen Ziele des Krieges, die Herbeiführung des endgültigen Zusammenschlusses der europäischen Staaten spricht, ist in diesem Zusammenhange weniger wichtig. Der erste Gedanke ist die Hauptsache. Die Vermeidung der Ideale des Westens, die Vermeidung des Loslösens von Gott, das ist es, was Bulgakow für sein Land wünscht. Wolschsky vertieft sich mehr in jenen anderen Charakterzug des russischen Wesens, der mit dem unbewußten Leben der russischen Seele mehr zu tun hat als mit den bewußten Doktrinen des russischen Propheten, in jenen Zug des Leidens, des Sichunterwerfens, des Nichtwiderstehens dem Leiden gegenüber, dessen ergreifendsten Ausdruck wir in Schriftstellern wie Tolstoi finden. Der „Kreuz¬ zug bis zu Ende", das ist die russische Mission nach Wolschsky. Rußland wird möglicherweise „das Sklavengesicht des Heilandes annehmen und sich bis zum Tode erniedrigen. Rußland kann im Dienste für andere sich vielleicht sogar selber schänden, kann vielleicht die Füße der Völker Europas waschen, aber nicht um sich nachgiebig mit ihnen allen zu versöhnen, nicht um der allmenschlichen Weltharmonie auf Erden willen, sondern zur Erhöhung seiner Standarte, seines ewigen Ruhmes, des Ruhmes des Kreuzes Gottes".*) Es ist die alte slawophile Opferidee, die hier in den Gedankengang des modernen Schrift¬ stellers wieder hineinspukt, aber sie ist immaterieller. Denn „wenn die Recht¬ gläubigkeit reinstes und von Interesse an irdische Abzweigungen nicht getrübtes Christentum darstellt, so darf Rußland irgendwelche durch die Sinne wahr¬ nehmbaren Ereignisse in den irdischen Einrichtungen nicht anstreben". Zwar hat dies nichts zu tun mit dem Siegeswillen des Volkes, denn „eine leid¬ tragende Seele ist vollkommen denkbar in einem Körper, der alle äußeren Wider¬ stände siegreich überwunden hat", aber der Wille muß rein sein. „Daher das Leidensgesicht Rußlands, die Erwartung des Kreuzganges." Ich habe schon wiederholt den russischen Nationalismus und seine Gedanken- *) Ich zitiere nach Askoldow in „Rußkaja Myssl", da mir das Original nicht zur Ver¬ fügung steht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/119>, abgerufen am 05.06.2024.