Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wohin geht Rußland?

So war es in der Kindheit, im Beginn des Lebens. Wenn der Kreis
sich schließt, so kommt der Anfang mit dem Ende zusammen. Mit Gott begann
aber alles bei Gorki, -- wird es nicht auch mit Gott endigen?

Sein Gott ist der "Gott der Großmutter". Die Großmutter des kleinen
Helden der "Kindheit", des Aljoscha Peschkow (Gorki verhehlt nicht, daß er
Aljoscha selbst ist), ist seine geistige Mutter, sie hat ihn geboren, geschaffen, in
die Welt eingeführt, bewahrt, gerettet in der Kindheit, und rettet ihn vielleicht
bis jetzt und wird ihn bis ans Ende retten.

"Bis zu ihrer Ankunft schlief ich gleichsam im Dunkeln; als sie aber
erschien, weckte sie mich, führte mich ans Licht, und wurde sofort der meinem
Herzen am nächsten stehende Freund meines ganzen Lebens." Für das ganze
Leben, auf ewig.

Die Großmutter ist ganz bis zum letzten Fältchen eine lebendige reale
Persönlichkeit; aber nicht nur eine reale Persönlichkeit, sondern auch ein
Symbol, und in der ganzen russischen Literatur, wiederum nicht ausgenommen
Tolstoj und Dostojewski, gibt es kein beredteres Symbol, kein in größerem
Maße synthetisches, vereinigendes Bild als dieses.

Die Großmutter ist Nußland selbst nach dem tiefsten, volkstümlichen,
religiösen Wesen. Sich von der Großmutter lossagen, heißt, sich von Rußland
selbst lossagen. Dies wird Gorki nicht tun. und wenn er es auch wollte, so
könnte er es nicht tun. Wie sehr er sich auch von der Religion lossagte, mit
welch gottlosen Reden er auch über sie redete, wie unreligiös er auch unbewußt
oder was noch schlechter ist, halbbewußt sein mochte, -- so wird er sich dennoch
von seinem angeborenen "bäuerlichen", "christlichen"*) Wesen nicht lossagen.
Und wenn die Großmutter in Wahrheit Nußland ist, so ist alles, was er von
sich und ihr sagt, mehr als eine Erzählung aus seinem Leben und sogar mehr
als eine Beichte; es ist eine Predigt, eine Prophezeiung darüber, wohin Ru߬
land geht.

"Ihre uneigennützige Liebe zur Welt hat mich dadurch bereichert, daß sie
mich mit fester Kraft für das schwere Leben erfüllte."

"Liebe zur Welt" ist die Religion der Großmutter, die Religion Gorkis.
Was für eine Religion ist aber dies? Die christliche? Christen sind doch
Menschen nicht von dieser Welt! Liebe zur Welt ist Feindschaft gegen Gott.
Und die Großmutter liebt die Welt und Gott zusammen. Für Christen bedeutet
"himmlisches" soviel wie "nicht irdisches", den Himmel lieben, heißt die Erde
hassen. Und die Großmutter liebt Erde und Himmel zusammen. Wie sollte
sie auch die Erde nicht lieben, da sie selbst Erde ist?

"Du,hast eine gute Großmutter; o, welche Erde!" --sagt jemand von ihr.

"Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde," -- so sagt jemand
zu ihr selbst.



*) Die beiden Worte klingen im russischen phonetisch ungefähr gleich.
Wohin geht Rußland?

So war es in der Kindheit, im Beginn des Lebens. Wenn der Kreis
sich schließt, so kommt der Anfang mit dem Ende zusammen. Mit Gott begann
aber alles bei Gorki, — wird es nicht auch mit Gott endigen?

Sein Gott ist der „Gott der Großmutter". Die Großmutter des kleinen
Helden der „Kindheit", des Aljoscha Peschkow (Gorki verhehlt nicht, daß er
Aljoscha selbst ist), ist seine geistige Mutter, sie hat ihn geboren, geschaffen, in
die Welt eingeführt, bewahrt, gerettet in der Kindheit, und rettet ihn vielleicht
bis jetzt und wird ihn bis ans Ende retten.

„Bis zu ihrer Ankunft schlief ich gleichsam im Dunkeln; als sie aber
erschien, weckte sie mich, führte mich ans Licht, und wurde sofort der meinem
Herzen am nächsten stehende Freund meines ganzen Lebens." Für das ganze
Leben, auf ewig.

Die Großmutter ist ganz bis zum letzten Fältchen eine lebendige reale
Persönlichkeit; aber nicht nur eine reale Persönlichkeit, sondern auch ein
Symbol, und in der ganzen russischen Literatur, wiederum nicht ausgenommen
Tolstoj und Dostojewski, gibt es kein beredteres Symbol, kein in größerem
Maße synthetisches, vereinigendes Bild als dieses.

Die Großmutter ist Nußland selbst nach dem tiefsten, volkstümlichen,
religiösen Wesen. Sich von der Großmutter lossagen, heißt, sich von Rußland
selbst lossagen. Dies wird Gorki nicht tun. und wenn er es auch wollte, so
könnte er es nicht tun. Wie sehr er sich auch von der Religion lossagte, mit
welch gottlosen Reden er auch über sie redete, wie unreligiös er auch unbewußt
oder was noch schlechter ist, halbbewußt sein mochte, — so wird er sich dennoch
von seinem angeborenen „bäuerlichen", „christlichen"*) Wesen nicht lossagen.
Und wenn die Großmutter in Wahrheit Nußland ist, so ist alles, was er von
sich und ihr sagt, mehr als eine Erzählung aus seinem Leben und sogar mehr
als eine Beichte; es ist eine Predigt, eine Prophezeiung darüber, wohin Ru߬
land geht.

„Ihre uneigennützige Liebe zur Welt hat mich dadurch bereichert, daß sie
mich mit fester Kraft für das schwere Leben erfüllte."

„Liebe zur Welt" ist die Religion der Großmutter, die Religion Gorkis.
Was für eine Religion ist aber dies? Die christliche? Christen sind doch
Menschen nicht von dieser Welt! Liebe zur Welt ist Feindschaft gegen Gott.
Und die Großmutter liebt die Welt und Gott zusammen. Für Christen bedeutet
„himmlisches" soviel wie „nicht irdisches", den Himmel lieben, heißt die Erde
hassen. Und die Großmutter liebt Erde und Himmel zusammen. Wie sollte
sie auch die Erde nicht lieben, da sie selbst Erde ist?

„Du,hast eine gute Großmutter; o, welche Erde!" —sagt jemand von ihr.

„Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde," — so sagt jemand
zu ihr selbst.



*) Die beiden Worte klingen im russischen phonetisch ungefähr gleich.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331096"/>
            <fw type="header" place="top"> Wohin geht Rußland?</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_365"> So war es in der Kindheit, im Beginn des Lebens. Wenn der Kreis<lb/>
sich schließt, so kommt der Anfang mit dem Ende zusammen. Mit Gott begann<lb/>
aber alles bei Gorki, &#x2014; wird es nicht auch mit Gott endigen?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_366"> Sein Gott ist der &#x201E;Gott der Großmutter". Die Großmutter des kleinen<lb/>
Helden der &#x201E;Kindheit", des Aljoscha Peschkow (Gorki verhehlt nicht, daß er<lb/>
Aljoscha selbst ist), ist seine geistige Mutter, sie hat ihn geboren, geschaffen, in<lb/>
die Welt eingeführt, bewahrt, gerettet in der Kindheit, und rettet ihn vielleicht<lb/>
bis jetzt und wird ihn bis ans Ende retten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_367"> &#x201E;Bis zu ihrer Ankunft schlief ich gleichsam im Dunkeln; als sie aber<lb/>
erschien, weckte sie mich, führte mich ans Licht, und wurde sofort der meinem<lb/>
Herzen am nächsten stehende Freund meines ganzen Lebens." Für das ganze<lb/>
Leben, auf ewig.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_368"> Die Großmutter ist ganz bis zum letzten Fältchen eine lebendige reale<lb/>
Persönlichkeit; aber nicht nur eine reale Persönlichkeit, sondern auch ein<lb/>
Symbol, und in der ganzen russischen Literatur, wiederum nicht ausgenommen<lb/>
Tolstoj und Dostojewski, gibt es kein beredteres Symbol, kein in größerem<lb/>
Maße synthetisches, vereinigendes Bild als dieses.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_369"> Die Großmutter ist Nußland selbst nach dem tiefsten, volkstümlichen,<lb/>
religiösen Wesen. Sich von der Großmutter lossagen, heißt, sich von Rußland<lb/>
selbst lossagen. Dies wird Gorki nicht tun. und wenn er es auch wollte, so<lb/>
könnte er es nicht tun. Wie sehr er sich auch von der Religion lossagte, mit<lb/>
welch gottlosen Reden er auch über sie redete, wie unreligiös er auch unbewußt<lb/>
oder was noch schlechter ist, halbbewußt sein mochte, &#x2014; so wird er sich dennoch<lb/>
von seinem angeborenen &#x201E;bäuerlichen", &#x201E;christlichen"*) Wesen nicht lossagen.<lb/>
Und wenn die Großmutter in Wahrheit Nußland ist, so ist alles, was er von<lb/>
sich und ihr sagt, mehr als eine Erzählung aus seinem Leben und sogar mehr<lb/>
als eine Beichte; es ist eine Predigt, eine Prophezeiung darüber, wohin Ru߬<lb/>
land geht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_370"> &#x201E;Ihre uneigennützige Liebe zur Welt hat mich dadurch bereichert, daß sie<lb/>
mich mit fester Kraft für das schwere Leben erfüllte."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_371"> &#x201E;Liebe zur Welt" ist die Religion der Großmutter, die Religion Gorkis.<lb/>
Was für eine Religion ist aber dies? Die christliche? Christen sind doch<lb/>
Menschen nicht von dieser Welt! Liebe zur Welt ist Feindschaft gegen Gott.<lb/>
Und die Großmutter liebt die Welt und Gott zusammen. Für Christen bedeutet<lb/>
&#x201E;himmlisches" soviel wie &#x201E;nicht irdisches", den Himmel lieben, heißt die Erde<lb/>
hassen. Und die Großmutter liebt Erde und Himmel zusammen. Wie sollte<lb/>
sie auch die Erde nicht lieben, da sie selbst Erde ist?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_372"> &#x201E;Du,hast eine gute Großmutter; o, welche Erde!" &#x2014;sagt jemand von ihr.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_373"> &#x201E;Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde," &#x2014; so sagt jemand<lb/>
zu ihr selbst.</p><lb/>
            <note xml:id="FID_21" place="foot"> *) Die beiden Worte klingen im russischen phonetisch ungefähr gleich.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0124] Wohin geht Rußland? So war es in der Kindheit, im Beginn des Lebens. Wenn der Kreis sich schließt, so kommt der Anfang mit dem Ende zusammen. Mit Gott begann aber alles bei Gorki, — wird es nicht auch mit Gott endigen? Sein Gott ist der „Gott der Großmutter". Die Großmutter des kleinen Helden der „Kindheit", des Aljoscha Peschkow (Gorki verhehlt nicht, daß er Aljoscha selbst ist), ist seine geistige Mutter, sie hat ihn geboren, geschaffen, in die Welt eingeführt, bewahrt, gerettet in der Kindheit, und rettet ihn vielleicht bis jetzt und wird ihn bis ans Ende retten. „Bis zu ihrer Ankunft schlief ich gleichsam im Dunkeln; als sie aber erschien, weckte sie mich, führte mich ans Licht, und wurde sofort der meinem Herzen am nächsten stehende Freund meines ganzen Lebens." Für das ganze Leben, auf ewig. Die Großmutter ist ganz bis zum letzten Fältchen eine lebendige reale Persönlichkeit; aber nicht nur eine reale Persönlichkeit, sondern auch ein Symbol, und in der ganzen russischen Literatur, wiederum nicht ausgenommen Tolstoj und Dostojewski, gibt es kein beredteres Symbol, kein in größerem Maße synthetisches, vereinigendes Bild als dieses. Die Großmutter ist Nußland selbst nach dem tiefsten, volkstümlichen, religiösen Wesen. Sich von der Großmutter lossagen, heißt, sich von Rußland selbst lossagen. Dies wird Gorki nicht tun. und wenn er es auch wollte, so könnte er es nicht tun. Wie sehr er sich auch von der Religion lossagte, mit welch gottlosen Reden er auch über sie redete, wie unreligiös er auch unbewußt oder was noch schlechter ist, halbbewußt sein mochte, — so wird er sich dennoch von seinem angeborenen „bäuerlichen", „christlichen"*) Wesen nicht lossagen. Und wenn die Großmutter in Wahrheit Nußland ist, so ist alles, was er von sich und ihr sagt, mehr als eine Erzählung aus seinem Leben und sogar mehr als eine Beichte; es ist eine Predigt, eine Prophezeiung darüber, wohin Ru߬ land geht. „Ihre uneigennützige Liebe zur Welt hat mich dadurch bereichert, daß sie mich mit fester Kraft für das schwere Leben erfüllte." „Liebe zur Welt" ist die Religion der Großmutter, die Religion Gorkis. Was für eine Religion ist aber dies? Die christliche? Christen sind doch Menschen nicht von dieser Welt! Liebe zur Welt ist Feindschaft gegen Gott. Und die Großmutter liebt die Welt und Gott zusammen. Für Christen bedeutet „himmlisches" soviel wie „nicht irdisches", den Himmel lieben, heißt die Erde hassen. Und die Großmutter liebt Erde und Himmel zusammen. Wie sollte sie auch die Erde nicht lieben, da sie selbst Erde ist? „Du,hast eine gute Großmutter; o, welche Erde!" —sagt jemand von ihr. „Du bist mir eine wirkliche Mutter, wie die Erde," — so sagt jemand zu ihr selbst. *) Die beiden Worte klingen im russischen phonetisch ungefähr gleich.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/124
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/124>, abgerufen am 31.05.2024.