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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

Aljoscha Peschkow hörte diese Worte und Gorki behielt sie "im Gedächtnis
für ganze Leben", auf alle Ewigkeit. Ja. gerade "die Liebe zur Erde", das
Geheimnis der Erde vereinigte ihn mit der Großmutter, mit ihrem Volkswesen,
denn das Geheimnis des Volkes ist das Geheimnis der Erde.

Wenn Christus gleich'ist mit dem Christentum, wenn im Christentum alles
abgeschlossen, gesagt, getan ist und nur das vorhanden ist, was da ist, und
nichts mehr sein wird, -- so ist die Religion der Großmutter nicht eine christliche
und nicht von Christus. Dann hat der Großvater, der rechtgläubigste von den
rechtgläubigen, Recht:

-- "glaube ihr, der alten Närrin, nicht; sie ist von Jugend auf dumm,
ungelehrt und unvernünftig".

Wenn aber Christus mehr ist als das Christentum, wenn im Christentum
nicht nur das enthalten ist, was da ist, sondern auch noch etwas sein wird,
-- so ist die Religion der Großmutter vielleicht auch keine christliche, aber in
Wahrheit von Christus.

Die Großmutter ist keine Heilige, sondern hurtig "verdammt". Sie liebt
zu tanzen, zu singen, sie schnupft Tabak, trinkt; und nachdem sie getrunken hat,
"wird ihr noch besser".

"Herr Gott! Wie schön ist alles! Nein, seht doch, wie schön das alles
ist!" sagt die Betrunkene, gleichsam betend.

Sie versteht überhaupt nicht, gehörig zu beten.

"Wie oft habe ich Dich, Du Dickkopf, gelehrt, wie man beten muß, und
Du murmelst immer das Deine, Ketzerin, verfluchte Hexe!" --

Du murmelst das Deine, nicht Kirchliches, nicht Rechtgläubiges und vielleicht
sogar nicht Christliches, so etwas Freies. Seltsames, Ungewöhnliches, sodaß diese
Gebete dem rechtgläubigen Großvater als Gotteslästerung erscheinen. Sie
spricht mit Gott, "eindringlich", bald als ob sie "Ihm einen Rat gibt", bald
als ob sie über Ihn "grollt", aufsässig wird, mit Gott kämpft:

"Herr, reicht denn bei Dir die gute Vernunft für mich, für meine Kinder
nicht aus?" Bald bemitleidet sie Gott, "den so lieben Freund alles Lebenden",
den Allgütiger, aber nicht Allmächtigen und nicht Allwissenden: Wenn Er alles
wüßte, so würden die Menschen wohl vieles nicht tun! Er sieht wohl. Väterchen,
vom Himmel auf die Erde, auf uns alle, ja, er hebt zuweilen an zu weinen,
zu schluchzen: "Ihr Meine Menschen. Meine lieben Menschen! Ach, wie
bedaure Ich Euch!" Dieser weinende Gott ist "Unsinn". "Ungelehrtheit".
Und ist das von Anfang der Welt geschlachtete Lamm nicht auch "Unsinn"?
Nur jenes ist etwas Gewohntes. Altes, und dies ist etwas Neues, Ungewöhnliches.

Die Großmutter versteht es nicht, zu Gott, dem Vater und dem Sohne
Gottes zu beten, aber es gibt in der menschlichen Sprache keine schöneren
Gebete als ihre Akathisten (Kirchengesänge) zu Ehren der Mutter Gottes.

"Unerschöpfliche Freude . . . Apfelbaum in Blüte . . . mein reines,
himmlisches Herz . . . goldene Sonne ..."


Grenzboten IV 191" 8
Wohin geht Rußland?

Aljoscha Peschkow hörte diese Worte und Gorki behielt sie „im Gedächtnis
für ganze Leben", auf alle Ewigkeit. Ja. gerade „die Liebe zur Erde", das
Geheimnis der Erde vereinigte ihn mit der Großmutter, mit ihrem Volkswesen,
denn das Geheimnis des Volkes ist das Geheimnis der Erde.

Wenn Christus gleich'ist mit dem Christentum, wenn im Christentum alles
abgeschlossen, gesagt, getan ist und nur das vorhanden ist, was da ist, und
nichts mehr sein wird, — so ist die Religion der Großmutter nicht eine christliche
und nicht von Christus. Dann hat der Großvater, der rechtgläubigste von den
rechtgläubigen, Recht:

— „glaube ihr, der alten Närrin, nicht; sie ist von Jugend auf dumm,
ungelehrt und unvernünftig".

Wenn aber Christus mehr ist als das Christentum, wenn im Christentum
nicht nur das enthalten ist, was da ist, sondern auch noch etwas sein wird,
— so ist die Religion der Großmutter vielleicht auch keine christliche, aber in
Wahrheit von Christus.

Die Großmutter ist keine Heilige, sondern hurtig „verdammt". Sie liebt
zu tanzen, zu singen, sie schnupft Tabak, trinkt; und nachdem sie getrunken hat,
„wird ihr noch besser".

„Herr Gott! Wie schön ist alles! Nein, seht doch, wie schön das alles
ist!" sagt die Betrunkene, gleichsam betend.

Sie versteht überhaupt nicht, gehörig zu beten.

„Wie oft habe ich Dich, Du Dickkopf, gelehrt, wie man beten muß, und
Du murmelst immer das Deine, Ketzerin, verfluchte Hexe!" —

Du murmelst das Deine, nicht Kirchliches, nicht Rechtgläubiges und vielleicht
sogar nicht Christliches, so etwas Freies. Seltsames, Ungewöhnliches, sodaß diese
Gebete dem rechtgläubigen Großvater als Gotteslästerung erscheinen. Sie
spricht mit Gott, „eindringlich", bald als ob sie „Ihm einen Rat gibt", bald
als ob sie über Ihn „grollt", aufsässig wird, mit Gott kämpft:

„Herr, reicht denn bei Dir die gute Vernunft für mich, für meine Kinder
nicht aus?" Bald bemitleidet sie Gott, „den so lieben Freund alles Lebenden",
den Allgütiger, aber nicht Allmächtigen und nicht Allwissenden: Wenn Er alles
wüßte, so würden die Menschen wohl vieles nicht tun! Er sieht wohl. Väterchen,
vom Himmel auf die Erde, auf uns alle, ja, er hebt zuweilen an zu weinen,
zu schluchzen: „Ihr Meine Menschen. Meine lieben Menschen! Ach, wie
bedaure Ich Euch!" Dieser weinende Gott ist „Unsinn". „Ungelehrtheit".
Und ist das von Anfang der Welt geschlachtete Lamm nicht auch „Unsinn"?
Nur jenes ist etwas Gewohntes. Altes, und dies ist etwas Neues, Ungewöhnliches.

Die Großmutter versteht es nicht, zu Gott, dem Vater und dem Sohne
Gottes zu beten, aber es gibt in der menschlichen Sprache keine schöneren
Gebete als ihre Akathisten (Kirchengesänge) zu Ehren der Mutter Gottes.

„Unerschöpfliche Freude . . . Apfelbaum in Blüte . . . mein reines,
himmlisches Herz . . . goldene Sonne ..."


Grenzboten IV 191« 8
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[0125] Wohin geht Rußland? Aljoscha Peschkow hörte diese Worte und Gorki behielt sie „im Gedächtnis für ganze Leben", auf alle Ewigkeit. Ja. gerade „die Liebe zur Erde", das Geheimnis der Erde vereinigte ihn mit der Großmutter, mit ihrem Volkswesen, denn das Geheimnis des Volkes ist das Geheimnis der Erde. Wenn Christus gleich'ist mit dem Christentum, wenn im Christentum alles abgeschlossen, gesagt, getan ist und nur das vorhanden ist, was da ist, und nichts mehr sein wird, — so ist die Religion der Großmutter nicht eine christliche und nicht von Christus. Dann hat der Großvater, der rechtgläubigste von den rechtgläubigen, Recht: — „glaube ihr, der alten Närrin, nicht; sie ist von Jugend auf dumm, ungelehrt und unvernünftig". Wenn aber Christus mehr ist als das Christentum, wenn im Christentum nicht nur das enthalten ist, was da ist, sondern auch noch etwas sein wird, — so ist die Religion der Großmutter vielleicht auch keine christliche, aber in Wahrheit von Christus. Die Großmutter ist keine Heilige, sondern hurtig „verdammt". Sie liebt zu tanzen, zu singen, sie schnupft Tabak, trinkt; und nachdem sie getrunken hat, „wird ihr noch besser". „Herr Gott! Wie schön ist alles! Nein, seht doch, wie schön das alles ist!" sagt die Betrunkene, gleichsam betend. Sie versteht überhaupt nicht, gehörig zu beten. „Wie oft habe ich Dich, Du Dickkopf, gelehrt, wie man beten muß, und Du murmelst immer das Deine, Ketzerin, verfluchte Hexe!" — Du murmelst das Deine, nicht Kirchliches, nicht Rechtgläubiges und vielleicht sogar nicht Christliches, so etwas Freies. Seltsames, Ungewöhnliches, sodaß diese Gebete dem rechtgläubigen Großvater als Gotteslästerung erscheinen. Sie spricht mit Gott, „eindringlich", bald als ob sie „Ihm einen Rat gibt", bald als ob sie über Ihn „grollt", aufsässig wird, mit Gott kämpft: „Herr, reicht denn bei Dir die gute Vernunft für mich, für meine Kinder nicht aus?" Bald bemitleidet sie Gott, „den so lieben Freund alles Lebenden", den Allgütiger, aber nicht Allmächtigen und nicht Allwissenden: Wenn Er alles wüßte, so würden die Menschen wohl vieles nicht tun! Er sieht wohl. Väterchen, vom Himmel auf die Erde, auf uns alle, ja, er hebt zuweilen an zu weinen, zu schluchzen: „Ihr Meine Menschen. Meine lieben Menschen! Ach, wie bedaure Ich Euch!" Dieser weinende Gott ist „Unsinn". „Ungelehrtheit". Und ist das von Anfang der Welt geschlachtete Lamm nicht auch „Unsinn"? Nur jenes ist etwas Gewohntes. Altes, und dies ist etwas Neues, Ungewöhnliches. Die Großmutter versteht es nicht, zu Gott, dem Vater und dem Sohne Gottes zu beten, aber es gibt in der menschlichen Sprache keine schöneren Gebete als ihre Akathisten (Kirchengesänge) zu Ehren der Mutter Gottes. „Unerschöpfliche Freude . . . Apfelbaum in Blüte . . . mein reines, himmlisches Herz . . . goldene Sonne ..." Grenzboten IV 191« 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/125>, abgerufen am 31.05.2024.