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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wiener Brief

reichen wegen Hochverrats verurteilten oder ins Ausland geflohenen Abgeord¬
neten (u. a. Kramarsch, Raschin, Netolitzky, Vojna, Choc und Bunval,
Masarnk, der Slovene Grafenauer). Gleichzeitig verwahrten sie sich gegen eine
Mitteilung reichsdeutscher Blätter: sie Hütten sich verpflichtet, keine Opposition
zu machen. In Wahrheit fürchteten sie sich natürlich vor einer schärferen
Wiederholung der Angriffe, die das ungarische Abgeordnetenhaus erlebt hatte
und die sie unter dem Druck der gegenwärtigen Zustände und der vorliegenden
Tatsachen kaum hätten erwidern können. Vor allem galt es für sie, Stürgkh
zu stützen, der noch zuletzt im Kramarsch-Prozeß sich als ihr Freund erwiesen
hatte: auch hatte er es bisher gehindert, daß die Kreiseinteilung in Böhmen
durchgeführt werde, eine vorläufige Lösung der deutsch-tschechischen Streitfrage, die
freilich den Tschechen ein Teil ihrer "via facti", d. h. gegen die Gesetze
erreichten Eroberungen und ein gut Teil ihrer Hoffnungen auf das "Staats¬
recht" genommen, keineswegs aber etwa eine "Bestrafung" bedeutet Hütte. Was
sie an Stürgkh verloren haben, kann man am besten aus den nachrufen der
tschechischen Presse ersehen. Der Leitgedanke seiner Regierungstätigkeit sei die
verantwortliche Teilnahme von Tschechen an der Negierung gewesen, und wenn
er auch nicht alle tschechischen Wünsche erfüllt habe, so sei er doch ihren
dringlichsten nach Möglichkeit und ohne Rücksicht auf Widerspruch nach¬
gekommen.

So widerspruchsvollen Bestrebungen gegenüber hatte Stürgkh es nicht
schwer, seine Ansicht durchzusetzen: es könne höchstens die Einberufung der
Delegationen zweckmäßig erscheinen, allerdings unter gewissen Voraussetzungen,
die letzten Endes eine Lahmlegung dieser ohnehin nicht sehr wirksamen Körper¬
schaft bedeutet hätten. Zu dieser Einschränkung ihrer Forderungen waren
schließlich auch die Herrenhausmitglieder gelangt. In der Versammlung der
Parteivertreter, die der Reichsratspräsident Sylvester am 23. einberufen hatte,
vertraten die Abgeordneten des Herrenhauses nur die Einberufung der Dele¬
gationen. Die Reichsratsabgeordneten forderten die Einberufung des Neichs-
rates, aber mit allen den schon angeführten Einschränkungen, die dem Obmann
des deutschen Nationalverbanbes Groß recht zu geben schienen. Er behauptete:
vielen Volksvertretungen, namentlich aus gewissen Kreisen (konservativen und
klerikalen) sei es mit ihrer Forderung nicht ernst, sie wünschten nur die Ar¬
beitsunfähigkeit des Parlaments zu erweisen, um dann desto leichter ohne Ver¬
fassung und mit dem Oktroi wirtschaften zu können. Gemeinsam ist in der
Tat den Abgeordneten des Reichstages nur der Wunsch, eine verfassungsmäßige
Überwachung der kriegswirtschaftlichen Maßnahmen des Staates zu erreichen.
In der inneren Politik im übrigen gehen die Wünsche wie die Meinungen
darüber, ob der Reichsrat diese Wünsche zu fördern geeignet sei oder nicht,
soweit auseinander, daß wohl in der Tat eine Behandlung dieser Fragen,
namentlich der nationalpolitischen, geradezu ausgeschaltet werden müßte, wenn
man von der Regierung die Einberufung erlangen wollte.


Wiener Brief

reichen wegen Hochverrats verurteilten oder ins Ausland geflohenen Abgeord¬
neten (u. a. Kramarsch, Raschin, Netolitzky, Vojna, Choc und Bunval,
Masarnk, der Slovene Grafenauer). Gleichzeitig verwahrten sie sich gegen eine
Mitteilung reichsdeutscher Blätter: sie Hütten sich verpflichtet, keine Opposition
zu machen. In Wahrheit fürchteten sie sich natürlich vor einer schärferen
Wiederholung der Angriffe, die das ungarische Abgeordnetenhaus erlebt hatte
und die sie unter dem Druck der gegenwärtigen Zustände und der vorliegenden
Tatsachen kaum hätten erwidern können. Vor allem galt es für sie, Stürgkh
zu stützen, der noch zuletzt im Kramarsch-Prozeß sich als ihr Freund erwiesen
hatte: auch hatte er es bisher gehindert, daß die Kreiseinteilung in Böhmen
durchgeführt werde, eine vorläufige Lösung der deutsch-tschechischen Streitfrage, die
freilich den Tschechen ein Teil ihrer „via facti", d. h. gegen die Gesetze
erreichten Eroberungen und ein gut Teil ihrer Hoffnungen auf das „Staats¬
recht" genommen, keineswegs aber etwa eine „Bestrafung" bedeutet Hütte. Was
sie an Stürgkh verloren haben, kann man am besten aus den nachrufen der
tschechischen Presse ersehen. Der Leitgedanke seiner Regierungstätigkeit sei die
verantwortliche Teilnahme von Tschechen an der Negierung gewesen, und wenn
er auch nicht alle tschechischen Wünsche erfüllt habe, so sei er doch ihren
dringlichsten nach Möglichkeit und ohne Rücksicht auf Widerspruch nach¬
gekommen.

So widerspruchsvollen Bestrebungen gegenüber hatte Stürgkh es nicht
schwer, seine Ansicht durchzusetzen: es könne höchstens die Einberufung der
Delegationen zweckmäßig erscheinen, allerdings unter gewissen Voraussetzungen,
die letzten Endes eine Lahmlegung dieser ohnehin nicht sehr wirksamen Körper¬
schaft bedeutet hätten. Zu dieser Einschränkung ihrer Forderungen waren
schließlich auch die Herrenhausmitglieder gelangt. In der Versammlung der
Parteivertreter, die der Reichsratspräsident Sylvester am 23. einberufen hatte,
vertraten die Abgeordneten des Herrenhauses nur die Einberufung der Dele¬
gationen. Die Reichsratsabgeordneten forderten die Einberufung des Neichs-
rates, aber mit allen den schon angeführten Einschränkungen, die dem Obmann
des deutschen Nationalverbanbes Groß recht zu geben schienen. Er behauptete:
vielen Volksvertretungen, namentlich aus gewissen Kreisen (konservativen und
klerikalen) sei es mit ihrer Forderung nicht ernst, sie wünschten nur die Ar¬
beitsunfähigkeit des Parlaments zu erweisen, um dann desto leichter ohne Ver¬
fassung und mit dem Oktroi wirtschaften zu können. Gemeinsam ist in der
Tat den Abgeordneten des Reichstages nur der Wunsch, eine verfassungsmäßige
Überwachung der kriegswirtschaftlichen Maßnahmen des Staates zu erreichen.
In der inneren Politik im übrigen gehen die Wünsche wie die Meinungen
darüber, ob der Reichsrat diese Wünsche zu fördern geeignet sei oder nicht,
soweit auseinander, daß wohl in der Tat eine Behandlung dieser Fragen,
namentlich der nationalpolitischen, geradezu ausgeschaltet werden müßte, wenn
man von der Regierung die Einberufung erlangen wollte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/166>, abgerufen am 29.05.2024.