Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das polnische Problem

Kulturgepäck mit sich schleppten, um diese Brücke als sicher zu betreten und: mehr
wie unsere Geschichte ist die polnische voll von Beweisen für die Richtigkeit
des vorher herangezogenen Wortes Friedrichs des Großen!

Ebenso wichtig wie das österreichische Interesse an Polen, wurde im Laufe
des vergangenen Jahrhunderts für die innere Entwicklung der Polenfrage die
Tatsache, daß die Teilungen Polens erst in dem Augenblick ihren Abschluß
erhielten, als bereits nennenswerte Teile der polnischen Gesellschaft die Gefahr
der Lage erkannt und sich ermannt hatten, Mittel zum Wiederaufbau des
zerfallenden Reiches ausfindig zu machen. Als die dritte Teilung ausgesprochen
wurde, befand sich das polnische Volk tatsächlich nicht mehr auf dem Wege
des Niederganges, und als der Wiener Kongreß die Teilungen besiegelte,
gab es schon deutliche Ansätze staatlicher Kristallisation. Jene Männer, die
am 3. Mai 1791 die Konstitution zuwege brachten, sind die Väter des er"
stehenden künftigen polnischen Staates. Sie haben die Keime gesteckt, die alles
Ungemach überdauerten, das seither von der Konföderation zu Targowica bis
auf unsere Tage über das polnische Volk hingebraust ist. Rückschauend unter
die Aufstände von 1830, 1831, 1863 nur noch an wie Fieberschauer, die den
kranken Leib erschütterten, aber auch wie Reinigungskrisen, durch die die schlechten
Säfte aus dem Volkskörper hinaufbefördert wurden. Von 1864 an kaum
merklich, von den 1880er Jahren ab immer deutlicher wachsen der Polen
nationale Kräfte zu einer heute beachtenswerten Macht, wunderbar in ihren
Organen, die eine schier unbegrenzte Fähigkeit besitzen, aus allen Verhältnissen
nur gerade das herauszuziehen, was dem Volke als Ganzem zur Kräftigung
gereicht.

Dies ist in großen Zügen der Rahmen, in dem sich die Polenfrage
auch weiterhin entwickeln muß. Die vergangenen hundertfünfzig Jahre haben
naturgemäß um und an die hier bloßgelegten Hauptrichtlinien vielerlei
historisches, soziales und nationales und internationales Gerank gebracht, das
sie, teils von kundiger Hand geschlungen, kunstvoll verschleiert. ' teils planlos
überwuchert. Wenn heute von der einen Seite die Judenfrage, von der andern
die ukrainische, litauische, weißrussische, evangelische oder deutsche Frage als
gleichberechtigt in den Vordergrund gerückt werden, so gilt es sich davor zu
hüten, den Propagandisten auf diese Sonder- und Nebengebiete zu folgen.
Jede Abweichung von den Hauptlinien verwirrt nur das Ganze und erschwert die
Lösung des Hauptproblems, das zunächst eine Frage der Sicherheit Deutsch¬
lands und Österreichs gegen den Machthunger des russischen Welt¬
staatgedankens, im weiteren Verlauf ein Teilproblem der mittel¬
europäischen Bundesfrage ist. In diesem weltpolitischen Zusammen¬
hange begegnen sich auch die Interessen der Polen mit den unsrigen, denn
ihnen droht von Rußland her die Auflösung im russischen Meer.




Das polnische Problem

Kulturgepäck mit sich schleppten, um diese Brücke als sicher zu betreten und: mehr
wie unsere Geschichte ist die polnische voll von Beweisen für die Richtigkeit
des vorher herangezogenen Wortes Friedrichs des Großen!

Ebenso wichtig wie das österreichische Interesse an Polen, wurde im Laufe
des vergangenen Jahrhunderts für die innere Entwicklung der Polenfrage die
Tatsache, daß die Teilungen Polens erst in dem Augenblick ihren Abschluß
erhielten, als bereits nennenswerte Teile der polnischen Gesellschaft die Gefahr
der Lage erkannt und sich ermannt hatten, Mittel zum Wiederaufbau des
zerfallenden Reiches ausfindig zu machen. Als die dritte Teilung ausgesprochen
wurde, befand sich das polnische Volk tatsächlich nicht mehr auf dem Wege
des Niederganges, und als der Wiener Kongreß die Teilungen besiegelte,
gab es schon deutliche Ansätze staatlicher Kristallisation. Jene Männer, die
am 3. Mai 1791 die Konstitution zuwege brachten, sind die Väter des er«
stehenden künftigen polnischen Staates. Sie haben die Keime gesteckt, die alles
Ungemach überdauerten, das seither von der Konföderation zu Targowica bis
auf unsere Tage über das polnische Volk hingebraust ist. Rückschauend unter
die Aufstände von 1830, 1831, 1863 nur noch an wie Fieberschauer, die den
kranken Leib erschütterten, aber auch wie Reinigungskrisen, durch die die schlechten
Säfte aus dem Volkskörper hinaufbefördert wurden. Von 1864 an kaum
merklich, von den 1880er Jahren ab immer deutlicher wachsen der Polen
nationale Kräfte zu einer heute beachtenswerten Macht, wunderbar in ihren
Organen, die eine schier unbegrenzte Fähigkeit besitzen, aus allen Verhältnissen
nur gerade das herauszuziehen, was dem Volke als Ganzem zur Kräftigung
gereicht.

Dies ist in großen Zügen der Rahmen, in dem sich die Polenfrage
auch weiterhin entwickeln muß. Die vergangenen hundertfünfzig Jahre haben
naturgemäß um und an die hier bloßgelegten Hauptrichtlinien vielerlei
historisches, soziales und nationales und internationales Gerank gebracht, das
sie, teils von kundiger Hand geschlungen, kunstvoll verschleiert. ' teils planlos
überwuchert. Wenn heute von der einen Seite die Judenfrage, von der andern
die ukrainische, litauische, weißrussische, evangelische oder deutsche Frage als
gleichberechtigt in den Vordergrund gerückt werden, so gilt es sich davor zu
hüten, den Propagandisten auf diese Sonder- und Nebengebiete zu folgen.
Jede Abweichung von den Hauptlinien verwirrt nur das Ganze und erschwert die
Lösung des Hauptproblems, das zunächst eine Frage der Sicherheit Deutsch¬
lands und Österreichs gegen den Machthunger des russischen Welt¬
staatgedankens, im weiteren Verlauf ein Teilproblem der mittel¬
europäischen Bundesfrage ist. In diesem weltpolitischen Zusammen¬
hange begegnen sich auch die Interessen der Polen mit den unsrigen, denn
ihnen droht von Rußland her die Auflösung im russischen Meer.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331182"/>
          <fw type="header" place="top"> Das polnische Problem</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_717" prev="#ID_716"> Kulturgepäck mit sich schleppten, um diese Brücke als sicher zu betreten und: mehr<lb/>
wie unsere Geschichte ist die polnische voll von Beweisen für die Richtigkeit<lb/>
des vorher herangezogenen Wortes Friedrichs des Großen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_718"> Ebenso wichtig wie das österreichische Interesse an Polen, wurde im Laufe<lb/>
des vergangenen Jahrhunderts für die innere Entwicklung der Polenfrage die<lb/>
Tatsache, daß die Teilungen Polens erst in dem Augenblick ihren Abschluß<lb/>
erhielten, als bereits nennenswerte Teile der polnischen Gesellschaft die Gefahr<lb/>
der Lage erkannt und sich ermannt hatten, Mittel zum Wiederaufbau des<lb/>
zerfallenden Reiches ausfindig zu machen. Als die dritte Teilung ausgesprochen<lb/>
wurde, befand sich das polnische Volk tatsächlich nicht mehr auf dem Wege<lb/>
des Niederganges, und als der Wiener Kongreß die Teilungen besiegelte,<lb/>
gab es schon deutliche Ansätze staatlicher Kristallisation. Jene Männer, die<lb/>
am 3. Mai 1791 die Konstitution zuwege brachten, sind die Väter des er«<lb/>
stehenden künftigen polnischen Staates. Sie haben die Keime gesteckt, die alles<lb/>
Ungemach überdauerten, das seither von der Konföderation zu Targowica bis<lb/>
auf unsere Tage über das polnische Volk hingebraust ist. Rückschauend unter<lb/>
die Aufstände von 1830, 1831, 1863 nur noch an wie Fieberschauer, die den<lb/>
kranken Leib erschütterten, aber auch wie Reinigungskrisen, durch die die schlechten<lb/>
Säfte aus dem Volkskörper hinaufbefördert wurden. Von 1864 an kaum<lb/>
merklich, von den 1880er Jahren ab immer deutlicher wachsen der Polen<lb/>
nationale Kräfte zu einer heute beachtenswerten Macht, wunderbar in ihren<lb/>
Organen, die eine schier unbegrenzte Fähigkeit besitzen, aus allen Verhältnissen<lb/>
nur gerade das herauszuziehen, was dem Volke als Ganzem zur Kräftigung<lb/>
gereicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_719"> Dies ist in großen Zügen der Rahmen, in dem sich die Polenfrage<lb/>
auch weiterhin entwickeln muß. Die vergangenen hundertfünfzig Jahre haben<lb/>
naturgemäß um und an die hier bloßgelegten Hauptrichtlinien vielerlei<lb/>
historisches, soziales und nationales und internationales Gerank gebracht, das<lb/>
sie, teils von kundiger Hand geschlungen, kunstvoll verschleiert. ' teils planlos<lb/>
überwuchert. Wenn heute von der einen Seite die Judenfrage, von der andern<lb/>
die ukrainische, litauische, weißrussische, evangelische oder deutsche Frage als<lb/>
gleichberechtigt in den Vordergrund gerückt werden, so gilt es sich davor zu<lb/>
hüten, den Propagandisten auf diese Sonder- und Nebengebiete zu folgen.<lb/>
Jede Abweichung von den Hauptlinien verwirrt nur das Ganze und erschwert die<lb/>
Lösung des Hauptproblems, das zunächst eine Frage der Sicherheit Deutsch¬<lb/>
lands und Österreichs gegen den Machthunger des russischen Welt¬<lb/>
staatgedankens, im weiteren Verlauf ein Teilproblem der mittel¬<lb/>
europäischen Bundesfrage ist. In diesem weltpolitischen Zusammen¬<lb/>
hange begegnen sich auch die Interessen der Polen mit den unsrigen, denn<lb/>
ihnen droht von Rußland her die Auflösung im russischen Meer.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0210] Das polnische Problem Kulturgepäck mit sich schleppten, um diese Brücke als sicher zu betreten und: mehr wie unsere Geschichte ist die polnische voll von Beweisen für die Richtigkeit des vorher herangezogenen Wortes Friedrichs des Großen! Ebenso wichtig wie das österreichische Interesse an Polen, wurde im Laufe des vergangenen Jahrhunderts für die innere Entwicklung der Polenfrage die Tatsache, daß die Teilungen Polens erst in dem Augenblick ihren Abschluß erhielten, als bereits nennenswerte Teile der polnischen Gesellschaft die Gefahr der Lage erkannt und sich ermannt hatten, Mittel zum Wiederaufbau des zerfallenden Reiches ausfindig zu machen. Als die dritte Teilung ausgesprochen wurde, befand sich das polnische Volk tatsächlich nicht mehr auf dem Wege des Niederganges, und als der Wiener Kongreß die Teilungen besiegelte, gab es schon deutliche Ansätze staatlicher Kristallisation. Jene Männer, die am 3. Mai 1791 die Konstitution zuwege brachten, sind die Väter des er« stehenden künftigen polnischen Staates. Sie haben die Keime gesteckt, die alles Ungemach überdauerten, das seither von der Konföderation zu Targowica bis auf unsere Tage über das polnische Volk hingebraust ist. Rückschauend unter die Aufstände von 1830, 1831, 1863 nur noch an wie Fieberschauer, die den kranken Leib erschütterten, aber auch wie Reinigungskrisen, durch die die schlechten Säfte aus dem Volkskörper hinaufbefördert wurden. Von 1864 an kaum merklich, von den 1880er Jahren ab immer deutlicher wachsen der Polen nationale Kräfte zu einer heute beachtenswerten Macht, wunderbar in ihren Organen, die eine schier unbegrenzte Fähigkeit besitzen, aus allen Verhältnissen nur gerade das herauszuziehen, was dem Volke als Ganzem zur Kräftigung gereicht. Dies ist in großen Zügen der Rahmen, in dem sich die Polenfrage auch weiterhin entwickeln muß. Die vergangenen hundertfünfzig Jahre haben naturgemäß um und an die hier bloßgelegten Hauptrichtlinien vielerlei historisches, soziales und nationales und internationales Gerank gebracht, das sie, teils von kundiger Hand geschlungen, kunstvoll verschleiert. ' teils planlos überwuchert. Wenn heute von der einen Seite die Judenfrage, von der andern die ukrainische, litauische, weißrussische, evangelische oder deutsche Frage als gleichberechtigt in den Vordergrund gerückt werden, so gilt es sich davor zu hüten, den Propagandisten auf diese Sonder- und Nebengebiete zu folgen. Jede Abweichung von den Hauptlinien verwirrt nur das Ganze und erschwert die Lösung des Hauptproblems, das zunächst eine Frage der Sicherheit Deutsch¬ lands und Österreichs gegen den Machthunger des russischen Welt¬ staatgedankens, im weiteren Verlauf ein Teilproblem der mittel¬ europäischen Bundesfrage ist. In diesem weltpolitischen Zusammen¬ hange begegnen sich auch die Interessen der Polen mit den unsrigen, denn ihnen droht von Rußland her die Auflösung im russischen Meer.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/210
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/210>, abgerufen am 30.05.2024.