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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Das polnische Problem

Die historischen Voraussetzungen, unter denen polnische Landesteile im
Laufe des achtzehnten Jahrhunderts an die einzelnen Teilungsmächte gekommen
sind, bilden dann das Fleisch um den eben gekennzeichneten Kern des polnischen
Problems. Von hier aus huben sich die Kräfte entwickelt, die das polnische
Volk durch die Stürme von anderthalb Jahrhundert lebendig erhalten konnten.
Dies Zusammenwirken hat naturgemäß die Polenpolitik der einzelnen Staaten
empfindlich beeinflußt. Für Hohenzollern blieb hinter der Polenfrage auch in
den Zeiten der wärmsten Freundschaft zum russischen Zarenhause stets die Gefahr
des russischen Ausdehnungsdranges bestehen --, im neunzehnten Jahrhundert
verstärkt durch den Anteil, den Frankreich an den polnischen Dingen nahm,
und zuletzt auf das brennendste nahe gerückt durch Rußlands Verständigung
mit England. Die Polen schlössen sich mit ihren Snmpathieen der russisch¬
französisch-englischen Verständigung an. War aber schon das alte staatliche Polen
nicht befähigt das Volk der Polen zu einem Bollwerk gegen Rußland im eigenen
staatlichen Interesse zu bilden, so war Preußen zur Sicherung seiner Grenzen
gezwungen, das polnische Volk über den polnischen Staat hinweg dazu wenigstens
für sich selbstzu machen, solange es Zeit war! Die sich daraus mit Naturnotwendigkeit
ergebenden Gegensätze im deutsch-polnischen Verkehr mußten dann um so
schärfer hervortreten, je mehr die Polen zu einem gewissen Kraftbewußtsein
erwachten, und ihre Sympathien sich immer mehr teils dem französischen Kultur¬
kreise, teils dem russischen verbanden, woher ihnen allein Hilfe gegen Germa¬
nisierung, die nun als die nächste Gefahr empfunden wurde, erstehen konnte.
Preußen wurde, obwohl der jüngste und kleinste der Teilungsstaaten, allmählich
der Hauptfeind. Österreich war von vornherein der schützende Staat, selbst
weniger bedroht von Rußland wie Preußen damals, wenn auch nur ein
schwaches Polen vor seinen Grenzen bestehen blieb und darum weniger be¬
sorgt um sein eigenes Wohl. Die Polen find aus diesem Zusammenhange
ferner den Habsburger" zu um so größerem Dank verpflichtet, als die öster¬
reichische Polenpolitik von 1866 ab die preußische Eindeutschungspolitik in ihren
für das polnische Volkstum unwillkommenen Folgen recht gründlich aufhob,
die willkommenen aber um so kräftiger sich entwickeln half.

Nun ist der Begriff Dankbarkeit im Leben der Völker höchst wandelbar,
jedenfalls kein politisches Argument. Der Nutzen ist ausschlaggebend. Es er¬
regt daher kaum Verwundern, daß in einem bestimmten Zeitpunkt nicht Öster¬
reich in erster Linie die Früchte seiner Polenpolitik erntet, sondern Rußland, --
das nunmehr mit Frankreich und England gegen Deutschland verbündete Rußland.

Österreich behielt dennoch im Zusammenhang mit den Autonomiebestrebungen
verschiedener seiner slawischen Völkerschaften seine besondere Bedeutung für die
Entwicklung des Gesamtproblems. Es bildete für die Polen die Brücke zum
römisch-germanischen Kulturkreise, der sich im mitteleuropäischen Wirtschaftsbunde
eine neue politische Ausdrucksform schafft. Aber es blieb doch bis in die jüngste
Zeit eine heikle Frage, ob denn die Polen nicht schon ein zu schweres russisches


Das polnische Problem

Die historischen Voraussetzungen, unter denen polnische Landesteile im
Laufe des achtzehnten Jahrhunderts an die einzelnen Teilungsmächte gekommen
sind, bilden dann das Fleisch um den eben gekennzeichneten Kern des polnischen
Problems. Von hier aus huben sich die Kräfte entwickelt, die das polnische
Volk durch die Stürme von anderthalb Jahrhundert lebendig erhalten konnten.
Dies Zusammenwirken hat naturgemäß die Polenpolitik der einzelnen Staaten
empfindlich beeinflußt. Für Hohenzollern blieb hinter der Polenfrage auch in
den Zeiten der wärmsten Freundschaft zum russischen Zarenhause stets die Gefahr
des russischen Ausdehnungsdranges bestehen —, im neunzehnten Jahrhundert
verstärkt durch den Anteil, den Frankreich an den polnischen Dingen nahm,
und zuletzt auf das brennendste nahe gerückt durch Rußlands Verständigung
mit England. Die Polen schlössen sich mit ihren Snmpathieen der russisch¬
französisch-englischen Verständigung an. War aber schon das alte staatliche Polen
nicht befähigt das Volk der Polen zu einem Bollwerk gegen Rußland im eigenen
staatlichen Interesse zu bilden, so war Preußen zur Sicherung seiner Grenzen
gezwungen, das polnische Volk über den polnischen Staat hinweg dazu wenigstens
für sich selbstzu machen, solange es Zeit war! Die sich daraus mit Naturnotwendigkeit
ergebenden Gegensätze im deutsch-polnischen Verkehr mußten dann um so
schärfer hervortreten, je mehr die Polen zu einem gewissen Kraftbewußtsein
erwachten, und ihre Sympathien sich immer mehr teils dem französischen Kultur¬
kreise, teils dem russischen verbanden, woher ihnen allein Hilfe gegen Germa¬
nisierung, die nun als die nächste Gefahr empfunden wurde, erstehen konnte.
Preußen wurde, obwohl der jüngste und kleinste der Teilungsstaaten, allmählich
der Hauptfeind. Österreich war von vornherein der schützende Staat, selbst
weniger bedroht von Rußland wie Preußen damals, wenn auch nur ein
schwaches Polen vor seinen Grenzen bestehen blieb und darum weniger be¬
sorgt um sein eigenes Wohl. Die Polen find aus diesem Zusammenhange
ferner den Habsburger» zu um so größerem Dank verpflichtet, als die öster¬
reichische Polenpolitik von 1866 ab die preußische Eindeutschungspolitik in ihren
für das polnische Volkstum unwillkommenen Folgen recht gründlich aufhob,
die willkommenen aber um so kräftiger sich entwickeln half.

Nun ist der Begriff Dankbarkeit im Leben der Völker höchst wandelbar,
jedenfalls kein politisches Argument. Der Nutzen ist ausschlaggebend. Es er¬
regt daher kaum Verwundern, daß in einem bestimmten Zeitpunkt nicht Öster¬
reich in erster Linie die Früchte seiner Polenpolitik erntet, sondern Rußland, —
das nunmehr mit Frankreich und England gegen Deutschland verbündete Rußland.

Österreich behielt dennoch im Zusammenhang mit den Autonomiebestrebungen
verschiedener seiner slawischen Völkerschaften seine besondere Bedeutung für die
Entwicklung des Gesamtproblems. Es bildete für die Polen die Brücke zum
römisch-germanischen Kulturkreise, der sich im mitteleuropäischen Wirtschaftsbunde
eine neue politische Ausdrucksform schafft. Aber es blieb doch bis in die jüngste
Zeit eine heikle Frage, ob denn die Polen nicht schon ein zu schweres russisches


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[0209] Das polnische Problem Die historischen Voraussetzungen, unter denen polnische Landesteile im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts an die einzelnen Teilungsmächte gekommen sind, bilden dann das Fleisch um den eben gekennzeichneten Kern des polnischen Problems. Von hier aus huben sich die Kräfte entwickelt, die das polnische Volk durch die Stürme von anderthalb Jahrhundert lebendig erhalten konnten. Dies Zusammenwirken hat naturgemäß die Polenpolitik der einzelnen Staaten empfindlich beeinflußt. Für Hohenzollern blieb hinter der Polenfrage auch in den Zeiten der wärmsten Freundschaft zum russischen Zarenhause stets die Gefahr des russischen Ausdehnungsdranges bestehen —, im neunzehnten Jahrhundert verstärkt durch den Anteil, den Frankreich an den polnischen Dingen nahm, und zuletzt auf das brennendste nahe gerückt durch Rußlands Verständigung mit England. Die Polen schlössen sich mit ihren Snmpathieen der russisch¬ französisch-englischen Verständigung an. War aber schon das alte staatliche Polen nicht befähigt das Volk der Polen zu einem Bollwerk gegen Rußland im eigenen staatlichen Interesse zu bilden, so war Preußen zur Sicherung seiner Grenzen gezwungen, das polnische Volk über den polnischen Staat hinweg dazu wenigstens für sich selbstzu machen, solange es Zeit war! Die sich daraus mit Naturnotwendigkeit ergebenden Gegensätze im deutsch-polnischen Verkehr mußten dann um so schärfer hervortreten, je mehr die Polen zu einem gewissen Kraftbewußtsein erwachten, und ihre Sympathien sich immer mehr teils dem französischen Kultur¬ kreise, teils dem russischen verbanden, woher ihnen allein Hilfe gegen Germa¬ nisierung, die nun als die nächste Gefahr empfunden wurde, erstehen konnte. Preußen wurde, obwohl der jüngste und kleinste der Teilungsstaaten, allmählich der Hauptfeind. Österreich war von vornherein der schützende Staat, selbst weniger bedroht von Rußland wie Preußen damals, wenn auch nur ein schwaches Polen vor seinen Grenzen bestehen blieb und darum weniger be¬ sorgt um sein eigenes Wohl. Die Polen find aus diesem Zusammenhange ferner den Habsburger» zu um so größerem Dank verpflichtet, als die öster¬ reichische Polenpolitik von 1866 ab die preußische Eindeutschungspolitik in ihren für das polnische Volkstum unwillkommenen Folgen recht gründlich aufhob, die willkommenen aber um so kräftiger sich entwickeln half. Nun ist der Begriff Dankbarkeit im Leben der Völker höchst wandelbar, jedenfalls kein politisches Argument. Der Nutzen ist ausschlaggebend. Es er¬ regt daher kaum Verwundern, daß in einem bestimmten Zeitpunkt nicht Öster¬ reich in erster Linie die Früchte seiner Polenpolitik erntet, sondern Rußland, — das nunmehr mit Frankreich und England gegen Deutschland verbündete Rußland. Österreich behielt dennoch im Zusammenhang mit den Autonomiebestrebungen verschiedener seiner slawischen Völkerschaften seine besondere Bedeutung für die Entwicklung des Gesamtproblems. Es bildete für die Polen die Brücke zum römisch-germanischen Kulturkreise, der sich im mitteleuropäischen Wirtschaftsbunde eine neue politische Ausdrucksform schafft. Aber es blieb doch bis in die jüngste Zeit eine heikle Frage, ob denn die Polen nicht schon ein zu schweres russisches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/209>, abgerufen am 30.05.2024.