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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Das polnische Problem

lehnung gegen einen den veränderten Verhältnissen angepaßten Staatsgedanken,
den der Marquis Wjelovolski herausstellt, wenn er von seinen Landsleuten absolute
Loyalität gegen Rußland fordert. Im Laufe der Jahre gewinnt das Loyalitäts¬
prinzip (Trojloyalism) erst in Galizien (1866), dann in Nußland (1380) immer
mehr an Boden und scheint geeignet der politisch-geographischen Teilung des
ehemaligen Polens auch die der Geister folgen lassen zu können, wenn nicht
der Sozialismus der Polen national geworden wäre und damit zusammen¬
hängend zugleich Träger einer Mittelstandsbewegung, die stärker als alles andere
die Einigkeit und Gleichheit der Interessen der Polen in allen drei Anteilen
vor Augen führte.

Aber die Voraussetzung hierfür war eine tatsächliche innere Abkehr vom
Aufstandsgedanken und die Preisgabe aller Hoffnungen auf eine Intervention
der Westmächte zu Gunsten der Polen, lediglich um einen polnischen Staat ins
Leben zu rufen. Die Polen hatten sich auf sich selbst besonnen und gewannen
an innerer Kraft und Zutrauen in die eigenen Kräfte in dem Maße, wie sie
für die eigene Nation arbeiteten. Es ist ein schwerwiegender Mangel nicht nur
unserer zeitgenössischen Polenpolitik, sondern auch der des großen Altreichskanzlers,
daß die Bedeutung der grundsätzlichen Abschwenkung der Polen voni Aufstands-
gedankcn für die Entwicklung des Gesamtproblems bis auf den heutigen Tag
nicht genügend gewürdigt worden ist. Manche in der äußern Politik des Reichs
und in der innern Preußens gemachte Fehler sind auf diesen Mangel zurück¬
zuführen. Für die Polen gereichte er zum Segen, denn aus unsern Fehlern
wuchsen jene Faktoren empor, die den ständigen Grund und Anreiz sür sie
ausmachten, sich national zusammenzuschließen und in positiver wirtschaftlicher
und kultureller Arbeit das Heil zu suchen, allen Geschehnissen der welt¬
politischen Entwicklung aber als aufmerksame Beobachter gegenüber zu stehen.
Die Verhältnisse waren ihnen in diesem Belange besonders in Rußland und
Preußen günstig, wo durch die Behandlung einerseits der Arkaden und andrer¬
seits Bismarcks Kulturkampfpoliti! das nationale Moment mit dem religiösen
verquickt wurde und den Nationalisten das Agitationsmittel in die Hand gab,
mit dem sie auch an die dem politischen Treiben ferner stehende Masse der
bäuerlichen Bevölkerung herankonnten.

Im Kampf um die innere Wiedergeburt, dessen nächstes praktisches Ziel,
wie schon gesagt, die Schaffung eines polnischen Mittelstandes in allen drei
Teilungsgebieten sein mußte, haben sich die Beziehungen zu Rußland aus
mannigfachen Gründen, denen wir im folgenden nachgehen wollen, enger und
tiefer gestaltet, so tief, daß viele ernste Polen darin eine Gefahr für
die polnische Nationalität zu spüren begannen. Es erwies sich, daß
im russischen Anteil den Polen die nationale Arbeit leichter wurde als in
Preußen und selbst in Galizien. In Österreich vermochten zwar einzelne Polen
zu führenden Staatsstellen aufzusteigen, doch mittelstandsbildend waren die
politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem industrielosen Galizien nicht.


Das polnische Problem

lehnung gegen einen den veränderten Verhältnissen angepaßten Staatsgedanken,
den der Marquis Wjelovolski herausstellt, wenn er von seinen Landsleuten absolute
Loyalität gegen Rußland fordert. Im Laufe der Jahre gewinnt das Loyalitäts¬
prinzip (Trojloyalism) erst in Galizien (1866), dann in Nußland (1380) immer
mehr an Boden und scheint geeignet der politisch-geographischen Teilung des
ehemaligen Polens auch die der Geister folgen lassen zu können, wenn nicht
der Sozialismus der Polen national geworden wäre und damit zusammen¬
hängend zugleich Träger einer Mittelstandsbewegung, die stärker als alles andere
die Einigkeit und Gleichheit der Interessen der Polen in allen drei Anteilen
vor Augen führte.

Aber die Voraussetzung hierfür war eine tatsächliche innere Abkehr vom
Aufstandsgedanken und die Preisgabe aller Hoffnungen auf eine Intervention
der Westmächte zu Gunsten der Polen, lediglich um einen polnischen Staat ins
Leben zu rufen. Die Polen hatten sich auf sich selbst besonnen und gewannen
an innerer Kraft und Zutrauen in die eigenen Kräfte in dem Maße, wie sie
für die eigene Nation arbeiteten. Es ist ein schwerwiegender Mangel nicht nur
unserer zeitgenössischen Polenpolitik, sondern auch der des großen Altreichskanzlers,
daß die Bedeutung der grundsätzlichen Abschwenkung der Polen voni Aufstands-
gedankcn für die Entwicklung des Gesamtproblems bis auf den heutigen Tag
nicht genügend gewürdigt worden ist. Manche in der äußern Politik des Reichs
und in der innern Preußens gemachte Fehler sind auf diesen Mangel zurück¬
zuführen. Für die Polen gereichte er zum Segen, denn aus unsern Fehlern
wuchsen jene Faktoren empor, die den ständigen Grund und Anreiz sür sie
ausmachten, sich national zusammenzuschließen und in positiver wirtschaftlicher
und kultureller Arbeit das Heil zu suchen, allen Geschehnissen der welt¬
politischen Entwicklung aber als aufmerksame Beobachter gegenüber zu stehen.
Die Verhältnisse waren ihnen in diesem Belange besonders in Rußland und
Preußen günstig, wo durch die Behandlung einerseits der Arkaden und andrer¬
seits Bismarcks Kulturkampfpoliti! das nationale Moment mit dem religiösen
verquickt wurde und den Nationalisten das Agitationsmittel in die Hand gab,
mit dem sie auch an die dem politischen Treiben ferner stehende Masse der
bäuerlichen Bevölkerung herankonnten.

Im Kampf um die innere Wiedergeburt, dessen nächstes praktisches Ziel,
wie schon gesagt, die Schaffung eines polnischen Mittelstandes in allen drei
Teilungsgebieten sein mußte, haben sich die Beziehungen zu Rußland aus
mannigfachen Gründen, denen wir im folgenden nachgehen wollen, enger und
tiefer gestaltet, so tief, daß viele ernste Polen darin eine Gefahr für
die polnische Nationalität zu spüren begannen. Es erwies sich, daß
im russischen Anteil den Polen die nationale Arbeit leichter wurde als in
Preußen und selbst in Galizien. In Österreich vermochten zwar einzelne Polen
zu führenden Staatsstellen aufzusteigen, doch mittelstandsbildend waren die
politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem industrielosen Galizien nicht.


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[0212] Das polnische Problem lehnung gegen einen den veränderten Verhältnissen angepaßten Staatsgedanken, den der Marquis Wjelovolski herausstellt, wenn er von seinen Landsleuten absolute Loyalität gegen Rußland fordert. Im Laufe der Jahre gewinnt das Loyalitäts¬ prinzip (Trojloyalism) erst in Galizien (1866), dann in Nußland (1380) immer mehr an Boden und scheint geeignet der politisch-geographischen Teilung des ehemaligen Polens auch die der Geister folgen lassen zu können, wenn nicht der Sozialismus der Polen national geworden wäre und damit zusammen¬ hängend zugleich Träger einer Mittelstandsbewegung, die stärker als alles andere die Einigkeit und Gleichheit der Interessen der Polen in allen drei Anteilen vor Augen führte. Aber die Voraussetzung hierfür war eine tatsächliche innere Abkehr vom Aufstandsgedanken und die Preisgabe aller Hoffnungen auf eine Intervention der Westmächte zu Gunsten der Polen, lediglich um einen polnischen Staat ins Leben zu rufen. Die Polen hatten sich auf sich selbst besonnen und gewannen an innerer Kraft und Zutrauen in die eigenen Kräfte in dem Maße, wie sie für die eigene Nation arbeiteten. Es ist ein schwerwiegender Mangel nicht nur unserer zeitgenössischen Polenpolitik, sondern auch der des großen Altreichskanzlers, daß die Bedeutung der grundsätzlichen Abschwenkung der Polen voni Aufstands- gedankcn für die Entwicklung des Gesamtproblems bis auf den heutigen Tag nicht genügend gewürdigt worden ist. Manche in der äußern Politik des Reichs und in der innern Preußens gemachte Fehler sind auf diesen Mangel zurück¬ zuführen. Für die Polen gereichte er zum Segen, denn aus unsern Fehlern wuchsen jene Faktoren empor, die den ständigen Grund und Anreiz sür sie ausmachten, sich national zusammenzuschließen und in positiver wirtschaftlicher und kultureller Arbeit das Heil zu suchen, allen Geschehnissen der welt¬ politischen Entwicklung aber als aufmerksame Beobachter gegenüber zu stehen. Die Verhältnisse waren ihnen in diesem Belange besonders in Rußland und Preußen günstig, wo durch die Behandlung einerseits der Arkaden und andrer¬ seits Bismarcks Kulturkampfpoliti! das nationale Moment mit dem religiösen verquickt wurde und den Nationalisten das Agitationsmittel in die Hand gab, mit dem sie auch an die dem politischen Treiben ferner stehende Masse der bäuerlichen Bevölkerung herankonnten. Im Kampf um die innere Wiedergeburt, dessen nächstes praktisches Ziel, wie schon gesagt, die Schaffung eines polnischen Mittelstandes in allen drei Teilungsgebieten sein mußte, haben sich die Beziehungen zu Rußland aus mannigfachen Gründen, denen wir im folgenden nachgehen wollen, enger und tiefer gestaltet, so tief, daß viele ernste Polen darin eine Gefahr für die polnische Nationalität zu spüren begannen. Es erwies sich, daß im russischen Anteil den Polen die nationale Arbeit leichter wurde als in Preußen und selbst in Galizien. In Österreich vermochten zwar einzelne Polen zu führenden Staatsstellen aufzusteigen, doch mittelstandsbildend waren die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in dem industrielosen Galizien nicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/212>, abgerufen am 28.05.2024.