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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Das polnische Problem

geführt von litauischen Magnaten, beteuerten dem Fürsten Swiatopolk-Mirski
ihre Ergebenheit für den Zaren. Die materiell zufriedengestellten Bauern
hielten sich still. 1863 überwog noch das trennende, 1907 aber schon das
einende Moment! Der Kampf gegen den absolutistischen Beamtenstaat um
die Freiheit des Jndividums hat aber nicht allein eine theoretische Aussprache
und Verständigung der polnischen mit der russischen Nationalität ermöglicht,
sondern auch das durchaus praktische Ergebnis gehabt, einen gemeinsamen Feind
zu finden, nämlich Deutschland und das Deutschtum auf der einen Seite als
den angeblichen Bundesgenossen der Reaktion, auf der andern als den Bedrücker
der Polen. Eine Massenhypnose gegen das Deutschtum, wie sie alle Welt
beherrschte, die unter den Einfluß Frankreichs und Englands geraten war.
1861/63 war es das Eingreifen Preußens durch die Alvenslebensche Kon¬
vention, 1905/07 die durch einen günstigen Handelsvertrag angeblich erkaufte
Neutralität Deutschlands gegenüber den innerrussischen Auseinandersetzungen, die
dem Deutschtum von Polen und Russen in gleichem Maße zum Vorwurf gemacht
werden. Der Herr Reichskanzler hat die damit zusammenhängende Legenden¬
bildung in seiner großen Reichstagrede am 28. September energisch zurückgewiesen.
Dennoch ist von diesen Tatsachen bei einer Beurteilung der Stimmung der
Polen auszugehen, denn nicht das was wirklich ist, ist maßgebend, sondern das
was geglaubt wird! Die Bedeutung der politischen und wirtschaftlichen Zusammen¬
hänge wird dadurch in das für die Beurteilung der Lage richtige Verhältnis
gebracht. Wir erfahren durch sie Umfang und Tiefe der inneren Hemmungen,
die unter der Oberfläche jedem Bemühen, Polen und Mitteleuropa zu verbinden,
entgegenarbeiteten und bekommen einen richtigen Begriff von der Kraft, die
außerhalb Rußlands heranwuchs und sich nun anschickt, den russischen Bann
zu brechen.

Die während der Epoche wirtschaftlicher und administrativer Zentralisation
immer schneller wachsende Zahl gleichzeitig, wenn auch unbewußt im Sinne
dieser Zentralisation wirkender Männer zeigt, wie das bindende Band zwischen
Russen und Polen breiter und fester geworden. Die polnischen Bäche rannen
feit Jahrzehnten in immer wachsender Welle ins russische Meer! Kann ihr Lauf
aufgehalten oder abgeleitet werden?

Die sozialpolitisch bedeutsamen Tatsachen, die diesem poetischen Bilde
Puschkins zugrunde liegen, offenbaren sich in dem Aufblühen zahlreicher polnischer
Kolonien im Innern Rußlands.

Zahlenmäßige Angaben, die die Entwicklung der polnischen Kolonien in
Rußland richtig wiedergeben, also auch in die neueste Zeit hineinreichen, waren
bisher nicht möglich zu erhalten; immerhin geben die polnischen Arbeiten von
Czynski und Rasinski. die im Jahre 1397 mit rund 165000 Polen in den
reinrussischen Gouvernements rechnen, einige wertvolle Anhaltspunkte.*)



*) Nach Czhnsli waren im Jahre 1897 in zwölf russischen Gouvernements außerhalb
der neun des Westgebiets 165 610 Polen angesessen, nämlich in:
Das polnische Problem

geführt von litauischen Magnaten, beteuerten dem Fürsten Swiatopolk-Mirski
ihre Ergebenheit für den Zaren. Die materiell zufriedengestellten Bauern
hielten sich still. 1863 überwog noch das trennende, 1907 aber schon das
einende Moment! Der Kampf gegen den absolutistischen Beamtenstaat um
die Freiheit des Jndividums hat aber nicht allein eine theoretische Aussprache
und Verständigung der polnischen mit der russischen Nationalität ermöglicht,
sondern auch das durchaus praktische Ergebnis gehabt, einen gemeinsamen Feind
zu finden, nämlich Deutschland und das Deutschtum auf der einen Seite als
den angeblichen Bundesgenossen der Reaktion, auf der andern als den Bedrücker
der Polen. Eine Massenhypnose gegen das Deutschtum, wie sie alle Welt
beherrschte, die unter den Einfluß Frankreichs und Englands geraten war.
1861/63 war es das Eingreifen Preußens durch die Alvenslebensche Kon¬
vention, 1905/07 die durch einen günstigen Handelsvertrag angeblich erkaufte
Neutralität Deutschlands gegenüber den innerrussischen Auseinandersetzungen, die
dem Deutschtum von Polen und Russen in gleichem Maße zum Vorwurf gemacht
werden. Der Herr Reichskanzler hat die damit zusammenhängende Legenden¬
bildung in seiner großen Reichstagrede am 28. September energisch zurückgewiesen.
Dennoch ist von diesen Tatsachen bei einer Beurteilung der Stimmung der
Polen auszugehen, denn nicht das was wirklich ist, ist maßgebend, sondern das
was geglaubt wird! Die Bedeutung der politischen und wirtschaftlichen Zusammen¬
hänge wird dadurch in das für die Beurteilung der Lage richtige Verhältnis
gebracht. Wir erfahren durch sie Umfang und Tiefe der inneren Hemmungen,
die unter der Oberfläche jedem Bemühen, Polen und Mitteleuropa zu verbinden,
entgegenarbeiteten und bekommen einen richtigen Begriff von der Kraft, die
außerhalb Rußlands heranwuchs und sich nun anschickt, den russischen Bann
zu brechen.

Die während der Epoche wirtschaftlicher und administrativer Zentralisation
immer schneller wachsende Zahl gleichzeitig, wenn auch unbewußt im Sinne
dieser Zentralisation wirkender Männer zeigt, wie das bindende Band zwischen
Russen und Polen breiter und fester geworden. Die polnischen Bäche rannen
feit Jahrzehnten in immer wachsender Welle ins russische Meer! Kann ihr Lauf
aufgehalten oder abgeleitet werden?

Die sozialpolitisch bedeutsamen Tatsachen, die diesem poetischen Bilde
Puschkins zugrunde liegen, offenbaren sich in dem Aufblühen zahlreicher polnischer
Kolonien im Innern Rußlands.

Zahlenmäßige Angaben, die die Entwicklung der polnischen Kolonien in
Rußland richtig wiedergeben, also auch in die neueste Zeit hineinreichen, waren
bisher nicht möglich zu erhalten; immerhin geben die polnischen Arbeiten von
Czynski und Rasinski. die im Jahre 1397 mit rund 165000 Polen in den
reinrussischen Gouvernements rechnen, einige wertvolle Anhaltspunkte.*)



*) Nach Czhnsli waren im Jahre 1897 in zwölf russischen Gouvernements außerhalb
der neun des Westgebiets 165 610 Polen angesessen, nämlich in:
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[0215] Das polnische Problem geführt von litauischen Magnaten, beteuerten dem Fürsten Swiatopolk-Mirski ihre Ergebenheit für den Zaren. Die materiell zufriedengestellten Bauern hielten sich still. 1863 überwog noch das trennende, 1907 aber schon das einende Moment! Der Kampf gegen den absolutistischen Beamtenstaat um die Freiheit des Jndividums hat aber nicht allein eine theoretische Aussprache und Verständigung der polnischen mit der russischen Nationalität ermöglicht, sondern auch das durchaus praktische Ergebnis gehabt, einen gemeinsamen Feind zu finden, nämlich Deutschland und das Deutschtum auf der einen Seite als den angeblichen Bundesgenossen der Reaktion, auf der andern als den Bedrücker der Polen. Eine Massenhypnose gegen das Deutschtum, wie sie alle Welt beherrschte, die unter den Einfluß Frankreichs und Englands geraten war. 1861/63 war es das Eingreifen Preußens durch die Alvenslebensche Kon¬ vention, 1905/07 die durch einen günstigen Handelsvertrag angeblich erkaufte Neutralität Deutschlands gegenüber den innerrussischen Auseinandersetzungen, die dem Deutschtum von Polen und Russen in gleichem Maße zum Vorwurf gemacht werden. Der Herr Reichskanzler hat die damit zusammenhängende Legenden¬ bildung in seiner großen Reichstagrede am 28. September energisch zurückgewiesen. Dennoch ist von diesen Tatsachen bei einer Beurteilung der Stimmung der Polen auszugehen, denn nicht das was wirklich ist, ist maßgebend, sondern das was geglaubt wird! Die Bedeutung der politischen und wirtschaftlichen Zusammen¬ hänge wird dadurch in das für die Beurteilung der Lage richtige Verhältnis gebracht. Wir erfahren durch sie Umfang und Tiefe der inneren Hemmungen, die unter der Oberfläche jedem Bemühen, Polen und Mitteleuropa zu verbinden, entgegenarbeiteten und bekommen einen richtigen Begriff von der Kraft, die außerhalb Rußlands heranwuchs und sich nun anschickt, den russischen Bann zu brechen. Die während der Epoche wirtschaftlicher und administrativer Zentralisation immer schneller wachsende Zahl gleichzeitig, wenn auch unbewußt im Sinne dieser Zentralisation wirkender Männer zeigt, wie das bindende Band zwischen Russen und Polen breiter und fester geworden. Die polnischen Bäche rannen feit Jahrzehnten in immer wachsender Welle ins russische Meer! Kann ihr Lauf aufgehalten oder abgeleitet werden? Die sozialpolitisch bedeutsamen Tatsachen, die diesem poetischen Bilde Puschkins zugrunde liegen, offenbaren sich in dem Aufblühen zahlreicher polnischer Kolonien im Innern Rußlands. Zahlenmäßige Angaben, die die Entwicklung der polnischen Kolonien in Rußland richtig wiedergeben, also auch in die neueste Zeit hineinreichen, waren bisher nicht möglich zu erhalten; immerhin geben die polnischen Arbeiten von Czynski und Rasinski. die im Jahre 1397 mit rund 165000 Polen in den reinrussischen Gouvernements rechnen, einige wertvolle Anhaltspunkte.*) *) Nach Czhnsli waren im Jahre 1897 in zwölf russischen Gouvernements außerhalb der neun des Westgebiets 165 610 Polen angesessen, nämlich in:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/215>, abgerufen am 28.05.2024.