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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Der germanische Schönhcitsbegriff

und wir werden zeigen, daß nicht allein in der bildenden Kunst, daß ebenso¬
gut in der Dichtung wie in der Musik der gotische Geist am Werke war und
noch immer ist. Denn nichts ist falscher als jene Vorstellung von der Gotik,
als sei sie eine Art Entwicklungsvorstufe zur Renaissance: man muß sich klar
werden, daß die Gotik ihrem ganzen Wesen nach dem klassischen Geiste fremd,
ja entgegengesetzt ist, daß sie als gleichberechtigte Kunstäußerung neben der Klassik,
nicht unter oder vor ihr zu stehen hat.

Denn in gewissem Sinne verkehrt die Gotik alle klassischen Ideale in ihr
Gegenteil: An Stelle von Abrundung und Abgeschlossenheit setzt sie das Streben
ins Ungeheure und Unendliche; an Stelle innerer Ausgeglichenheit und Harmonie
setzt sie die gewaltige Steigerung, die rauschhafte Hingerissenheit; nicht Klarheit
und Übersichtlichkeit kennzeichnen ihr Formideal, sondern gerade üppigster Reich¬
tum, strömende Fülle, die sich der Übersichtlichkeit entziehen und den Eindruck des
Unbegrenzten erzielen. -- Nicht weniger deutlich treten die Unterschiede in der
Behandlung des Inhaltlichen hervor. Ist dem Griechen Darstellung des Lebens
und der Natur die Hauptsache, so geht der Gotiker mit seinem Ornament, worin
sich am reinsten jede Wesensart entschleiert, von dem unorganischen Bandmotiv
aus, und seine gewaltigsten Wirkungen erreicht er in der Architektur, d. h. einer
nicht nachahmenden Kunstart. Auch dort, wo er als Plastiker oder Maler sich
mit Inhalten des Lebens auseinanderzusetzen hat, verhält er sich seinen Vorbildern
gegenüber viel freier: ein bewußtes Streben nach dem Typischen ist nirgends
zu bemerken. Sehr wohl läßt sich aber ein Streben nach dem Außerordentlichen,
Exzentrischen, ja Bizarren erkennen, denn auch in der Nachbildung geschlossener
Vorwürfe sprengt der Gotiker die feste Form, sucht überall im Irdischen das
Transzendente, im Endlichen das Unendliche. Ist das Wesen des Klassikers
also vollendete Darstellung des Irdischen und Endlichen (auch dort, wo er
Götter bildet) -- so ist die Gotik eine Kunst des Unendlichen und Transzendenten,
auch dort, wo sie ihre Motive der Endlichkeit entnimmt. -- Ist man sich aber
erst dieser völlig verschiedenen Wesensart der gotischen Kunst gegenüber der
klassischen klargeworden, so wird man nicht mehr wagen, sie zu einer Vorstufe
der Renaissance herabzusetzen. Mögen persönliche Anlage und Neigung einen für
die eine oder andere Kunstweise sich entscheiden lassen -- daß jede in ihrer Art
ein Höchstes erstrebt, der andern nichts an Würde und Erhabenheit des Zieles
nachgibt, wird kein objektiver Beurteiler leugnen können, -- Die Gefühlswirkung,
die auf gotische Weise erzielt wird, ist vielleicht nicht die des reinen Schönheits¬
genusses im klassischen Sinne, eher die der rauschartigen Erschütterung, aber
nicht minder ein Wert höchsten Ranges/')





*) Vergl. hierzu meine Werke: Persönlichkeit und Weltanschauung, Psychol. Untersuchungen
zu Religion, Kunst und Philosophie 1916. (Teubner 1916). Ferner: Psychologie der Kunst
Band II (Teubner 1912).
Der germanische Schönhcitsbegriff

und wir werden zeigen, daß nicht allein in der bildenden Kunst, daß ebenso¬
gut in der Dichtung wie in der Musik der gotische Geist am Werke war und
noch immer ist. Denn nichts ist falscher als jene Vorstellung von der Gotik,
als sei sie eine Art Entwicklungsvorstufe zur Renaissance: man muß sich klar
werden, daß die Gotik ihrem ganzen Wesen nach dem klassischen Geiste fremd,
ja entgegengesetzt ist, daß sie als gleichberechtigte Kunstäußerung neben der Klassik,
nicht unter oder vor ihr zu stehen hat.

Denn in gewissem Sinne verkehrt die Gotik alle klassischen Ideale in ihr
Gegenteil: An Stelle von Abrundung und Abgeschlossenheit setzt sie das Streben
ins Ungeheure und Unendliche; an Stelle innerer Ausgeglichenheit und Harmonie
setzt sie die gewaltige Steigerung, die rauschhafte Hingerissenheit; nicht Klarheit
und Übersichtlichkeit kennzeichnen ihr Formideal, sondern gerade üppigster Reich¬
tum, strömende Fülle, die sich der Übersichtlichkeit entziehen und den Eindruck des
Unbegrenzten erzielen. — Nicht weniger deutlich treten die Unterschiede in der
Behandlung des Inhaltlichen hervor. Ist dem Griechen Darstellung des Lebens
und der Natur die Hauptsache, so geht der Gotiker mit seinem Ornament, worin
sich am reinsten jede Wesensart entschleiert, von dem unorganischen Bandmotiv
aus, und seine gewaltigsten Wirkungen erreicht er in der Architektur, d. h. einer
nicht nachahmenden Kunstart. Auch dort, wo er als Plastiker oder Maler sich
mit Inhalten des Lebens auseinanderzusetzen hat, verhält er sich seinen Vorbildern
gegenüber viel freier: ein bewußtes Streben nach dem Typischen ist nirgends
zu bemerken. Sehr wohl läßt sich aber ein Streben nach dem Außerordentlichen,
Exzentrischen, ja Bizarren erkennen, denn auch in der Nachbildung geschlossener
Vorwürfe sprengt der Gotiker die feste Form, sucht überall im Irdischen das
Transzendente, im Endlichen das Unendliche. Ist das Wesen des Klassikers
also vollendete Darstellung des Irdischen und Endlichen (auch dort, wo er
Götter bildet) — so ist die Gotik eine Kunst des Unendlichen und Transzendenten,
auch dort, wo sie ihre Motive der Endlichkeit entnimmt. — Ist man sich aber
erst dieser völlig verschiedenen Wesensart der gotischen Kunst gegenüber der
klassischen klargeworden, so wird man nicht mehr wagen, sie zu einer Vorstufe
der Renaissance herabzusetzen. Mögen persönliche Anlage und Neigung einen für
die eine oder andere Kunstweise sich entscheiden lassen — daß jede in ihrer Art
ein Höchstes erstrebt, der andern nichts an Würde und Erhabenheit des Zieles
nachgibt, wird kein objektiver Beurteiler leugnen können, — Die Gefühlswirkung,
die auf gotische Weise erzielt wird, ist vielleicht nicht die des reinen Schönheits¬
genusses im klassischen Sinne, eher die der rauschartigen Erschütterung, aber
nicht minder ein Wert höchsten Ranges/')





*) Vergl. hierzu meine Werke: Persönlichkeit und Weltanschauung, Psychol. Untersuchungen
zu Religion, Kunst und Philosophie 1916. (Teubner 1916). Ferner: Psychologie der Kunst
Band II (Teubner 1912).
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[0230] Der germanische Schönhcitsbegriff und wir werden zeigen, daß nicht allein in der bildenden Kunst, daß ebenso¬ gut in der Dichtung wie in der Musik der gotische Geist am Werke war und noch immer ist. Denn nichts ist falscher als jene Vorstellung von der Gotik, als sei sie eine Art Entwicklungsvorstufe zur Renaissance: man muß sich klar werden, daß die Gotik ihrem ganzen Wesen nach dem klassischen Geiste fremd, ja entgegengesetzt ist, daß sie als gleichberechtigte Kunstäußerung neben der Klassik, nicht unter oder vor ihr zu stehen hat. Denn in gewissem Sinne verkehrt die Gotik alle klassischen Ideale in ihr Gegenteil: An Stelle von Abrundung und Abgeschlossenheit setzt sie das Streben ins Ungeheure und Unendliche; an Stelle innerer Ausgeglichenheit und Harmonie setzt sie die gewaltige Steigerung, die rauschhafte Hingerissenheit; nicht Klarheit und Übersichtlichkeit kennzeichnen ihr Formideal, sondern gerade üppigster Reich¬ tum, strömende Fülle, die sich der Übersichtlichkeit entziehen und den Eindruck des Unbegrenzten erzielen. — Nicht weniger deutlich treten die Unterschiede in der Behandlung des Inhaltlichen hervor. Ist dem Griechen Darstellung des Lebens und der Natur die Hauptsache, so geht der Gotiker mit seinem Ornament, worin sich am reinsten jede Wesensart entschleiert, von dem unorganischen Bandmotiv aus, und seine gewaltigsten Wirkungen erreicht er in der Architektur, d. h. einer nicht nachahmenden Kunstart. Auch dort, wo er als Plastiker oder Maler sich mit Inhalten des Lebens auseinanderzusetzen hat, verhält er sich seinen Vorbildern gegenüber viel freier: ein bewußtes Streben nach dem Typischen ist nirgends zu bemerken. Sehr wohl läßt sich aber ein Streben nach dem Außerordentlichen, Exzentrischen, ja Bizarren erkennen, denn auch in der Nachbildung geschlossener Vorwürfe sprengt der Gotiker die feste Form, sucht überall im Irdischen das Transzendente, im Endlichen das Unendliche. Ist das Wesen des Klassikers also vollendete Darstellung des Irdischen und Endlichen (auch dort, wo er Götter bildet) — so ist die Gotik eine Kunst des Unendlichen und Transzendenten, auch dort, wo sie ihre Motive der Endlichkeit entnimmt. — Ist man sich aber erst dieser völlig verschiedenen Wesensart der gotischen Kunst gegenüber der klassischen klargeworden, so wird man nicht mehr wagen, sie zu einer Vorstufe der Renaissance herabzusetzen. Mögen persönliche Anlage und Neigung einen für die eine oder andere Kunstweise sich entscheiden lassen — daß jede in ihrer Art ein Höchstes erstrebt, der andern nichts an Würde und Erhabenheit des Zieles nachgibt, wird kein objektiver Beurteiler leugnen können, — Die Gefühlswirkung, die auf gotische Weise erzielt wird, ist vielleicht nicht die des reinen Schönheits¬ genusses im klassischen Sinne, eher die der rauschartigen Erschütterung, aber nicht minder ein Wert höchsten Ranges/') *) Vergl. hierzu meine Werke: Persönlichkeit und Weltanschauung, Psychol. Untersuchungen zu Religion, Kunst und Philosophie 1916. (Teubner 1916). Ferner: Psychologie der Kunst Band II (Teubner 1912).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/230>, abgerufen am 30.05.2024.