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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Der germanische Schönhcitsbegriff

Dieses gotische Kunstwollen ist eigentümlich germanisch nach Ausweis von
Ort und Zeit seines Auftretens. Gewiß geht seine Ausdehnung hinaus über
das Sprachgebiet germanischer Zunge, es hat sogar im nötdlichen Frankreich
viele der schönsten Blüten getrieben, aber die Vermutung liegt doch nahe, daß
es der starke germanische Einschlag unter der Bevölkerung dieser Gegenden war,
dem die Gotik ihre Entfaltung verdankt. Doch wir denken hier bei Gotik
nicht allein an die Zeit des späten Mittelalters. Gotik ist uns kein historischer,
sondern ein psychologischer Stilbegriff und als solcher weit hinausgreifend über
die gotische Epoche im Schulherr. Gotisches Kunstwollen im oben umschriebenen
Sinne finden wir im' ganzen germanischen Norden der Frühzeit, ja vorzeit¬
licher Epochen -- es beherrscht die altgermanische Ornamentik, es -ringt mit
klassischen Formen im sogenannten romanischen Stil, es entfaltet sich zu wunder¬
barer Reinheit in den Zeiten der Hochgotik und Spätgotik, welch letztere man
ganz irrtümlich als Niedergangskunst ansieht, es offenbart sich in der Kunst
Holbeins, Grünewalds und Dürers, es bricht wieder durch im Barock und
erlebt einen neuen Durchbruch durch alle klassische Tradition in der Kunst
Messels und zahlreicher Zeitgenossen. Gerade in der bildenden Kunst hat sich
der gotische Schönheitsbegriff durchgerungen, hat sich seinen Platz an der
Sonne erkämpft und, wenn er auch vielfach noch selbst in Deutschland durch
die klassizistisch gefärbte Brille betrachtet wird, selbst so zwingt er sich in seiner
Größe und Erhabenheit auf. In seiner ganzen Eigenart wird man ihn aber
auch in Baukunst und Plastik erst dort erkennen, wo man ihn gar nicht mit
klassischem Maßstab mißt, sondern aus seinen eignen Tendenzen heraus versteht,
als einen selbständigen Gegensatz zur Klassik von durchaus eigenem Weltgefühl.*)




Viel wichtiger ist es, auch in den andern Künsten, in der Dichtkunst und
der Musik, das gotische Kunstwollen, den gotischen Schönheitsbegriff nach¬
zuweisen, da er hier weit weniger zum Bewußtsein gekommen ist. Speziell in
der Dichtkunst ist er durch den Einfluß der klassischen und romanischen Literaturen
immer wieder zurückgedrängt worden. Und trotzdem bricht überall auch dort,
wo man klassischen Idealen nachhängt, mit unmittelbarer Gewalt die Gotik
durch: statt klassischer Abrundung erstrebt man unerhörte Steigerung, statt auf
klassische Klarheit und Ruhe geht man auf breiten, phantastischen Reichtum,
auf wissenschaftliche Bewegung, auf unendlich flutende Fülle aus und setzt an¬
stelle der harmonischen Humanität den unbegrenzten Schwung ins Transzendente.
Statt der abgerundeten Plastik der Gestalten und ihrer typisierten Idealität
liebt man die bis ins Bizarre, Absonderliche, ja Fratzenhafte gesteigerte
Charakteristik und will im ganzen weniger in ruhigem Maße erfreut als
leidenschaftlich erregt und erschüttert sein. Alles das aber ist gotisch und
findet seine genaue Entsprechung in der bildenden Kunst.



*) Für die bildende Kunst führt ähnliche Gedanken aus W. Worringer in "Formprobleme
der Gotik" 1911.
Der germanische Schönhcitsbegriff

Dieses gotische Kunstwollen ist eigentümlich germanisch nach Ausweis von
Ort und Zeit seines Auftretens. Gewiß geht seine Ausdehnung hinaus über
das Sprachgebiet germanischer Zunge, es hat sogar im nötdlichen Frankreich
viele der schönsten Blüten getrieben, aber die Vermutung liegt doch nahe, daß
es der starke germanische Einschlag unter der Bevölkerung dieser Gegenden war,
dem die Gotik ihre Entfaltung verdankt. Doch wir denken hier bei Gotik
nicht allein an die Zeit des späten Mittelalters. Gotik ist uns kein historischer,
sondern ein psychologischer Stilbegriff und als solcher weit hinausgreifend über
die gotische Epoche im Schulherr. Gotisches Kunstwollen im oben umschriebenen
Sinne finden wir im' ganzen germanischen Norden der Frühzeit, ja vorzeit¬
licher Epochen — es beherrscht die altgermanische Ornamentik, es -ringt mit
klassischen Formen im sogenannten romanischen Stil, es entfaltet sich zu wunder¬
barer Reinheit in den Zeiten der Hochgotik und Spätgotik, welch letztere man
ganz irrtümlich als Niedergangskunst ansieht, es offenbart sich in der Kunst
Holbeins, Grünewalds und Dürers, es bricht wieder durch im Barock und
erlebt einen neuen Durchbruch durch alle klassische Tradition in der Kunst
Messels und zahlreicher Zeitgenossen. Gerade in der bildenden Kunst hat sich
der gotische Schönheitsbegriff durchgerungen, hat sich seinen Platz an der
Sonne erkämpft und, wenn er auch vielfach noch selbst in Deutschland durch
die klassizistisch gefärbte Brille betrachtet wird, selbst so zwingt er sich in seiner
Größe und Erhabenheit auf. In seiner ganzen Eigenart wird man ihn aber
auch in Baukunst und Plastik erst dort erkennen, wo man ihn gar nicht mit
klassischem Maßstab mißt, sondern aus seinen eignen Tendenzen heraus versteht,
als einen selbständigen Gegensatz zur Klassik von durchaus eigenem Weltgefühl.*)




Viel wichtiger ist es, auch in den andern Künsten, in der Dichtkunst und
der Musik, das gotische Kunstwollen, den gotischen Schönheitsbegriff nach¬
zuweisen, da er hier weit weniger zum Bewußtsein gekommen ist. Speziell in
der Dichtkunst ist er durch den Einfluß der klassischen und romanischen Literaturen
immer wieder zurückgedrängt worden. Und trotzdem bricht überall auch dort,
wo man klassischen Idealen nachhängt, mit unmittelbarer Gewalt die Gotik
durch: statt klassischer Abrundung erstrebt man unerhörte Steigerung, statt auf
klassische Klarheit und Ruhe geht man auf breiten, phantastischen Reichtum,
auf wissenschaftliche Bewegung, auf unendlich flutende Fülle aus und setzt an¬
stelle der harmonischen Humanität den unbegrenzten Schwung ins Transzendente.
Statt der abgerundeten Plastik der Gestalten und ihrer typisierten Idealität
liebt man die bis ins Bizarre, Absonderliche, ja Fratzenhafte gesteigerte
Charakteristik und will im ganzen weniger in ruhigem Maße erfreut als
leidenschaftlich erregt und erschüttert sein. Alles das aber ist gotisch und
findet seine genaue Entsprechung in der bildenden Kunst.



*) Für die bildende Kunst führt ähnliche Gedanken aus W. Worringer in „Formprobleme
der Gotik" 1911.
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[0231] Der germanische Schönhcitsbegriff Dieses gotische Kunstwollen ist eigentümlich germanisch nach Ausweis von Ort und Zeit seines Auftretens. Gewiß geht seine Ausdehnung hinaus über das Sprachgebiet germanischer Zunge, es hat sogar im nötdlichen Frankreich viele der schönsten Blüten getrieben, aber die Vermutung liegt doch nahe, daß es der starke germanische Einschlag unter der Bevölkerung dieser Gegenden war, dem die Gotik ihre Entfaltung verdankt. Doch wir denken hier bei Gotik nicht allein an die Zeit des späten Mittelalters. Gotik ist uns kein historischer, sondern ein psychologischer Stilbegriff und als solcher weit hinausgreifend über die gotische Epoche im Schulherr. Gotisches Kunstwollen im oben umschriebenen Sinne finden wir im' ganzen germanischen Norden der Frühzeit, ja vorzeit¬ licher Epochen — es beherrscht die altgermanische Ornamentik, es -ringt mit klassischen Formen im sogenannten romanischen Stil, es entfaltet sich zu wunder¬ barer Reinheit in den Zeiten der Hochgotik und Spätgotik, welch letztere man ganz irrtümlich als Niedergangskunst ansieht, es offenbart sich in der Kunst Holbeins, Grünewalds und Dürers, es bricht wieder durch im Barock und erlebt einen neuen Durchbruch durch alle klassische Tradition in der Kunst Messels und zahlreicher Zeitgenossen. Gerade in der bildenden Kunst hat sich der gotische Schönheitsbegriff durchgerungen, hat sich seinen Platz an der Sonne erkämpft und, wenn er auch vielfach noch selbst in Deutschland durch die klassizistisch gefärbte Brille betrachtet wird, selbst so zwingt er sich in seiner Größe und Erhabenheit auf. In seiner ganzen Eigenart wird man ihn aber auch in Baukunst und Plastik erst dort erkennen, wo man ihn gar nicht mit klassischem Maßstab mißt, sondern aus seinen eignen Tendenzen heraus versteht, als einen selbständigen Gegensatz zur Klassik von durchaus eigenem Weltgefühl.*) Viel wichtiger ist es, auch in den andern Künsten, in der Dichtkunst und der Musik, das gotische Kunstwollen, den gotischen Schönheitsbegriff nach¬ zuweisen, da er hier weit weniger zum Bewußtsein gekommen ist. Speziell in der Dichtkunst ist er durch den Einfluß der klassischen und romanischen Literaturen immer wieder zurückgedrängt worden. Und trotzdem bricht überall auch dort, wo man klassischen Idealen nachhängt, mit unmittelbarer Gewalt die Gotik durch: statt klassischer Abrundung erstrebt man unerhörte Steigerung, statt auf klassische Klarheit und Ruhe geht man auf breiten, phantastischen Reichtum, auf wissenschaftliche Bewegung, auf unendlich flutende Fülle aus und setzt an¬ stelle der harmonischen Humanität den unbegrenzten Schwung ins Transzendente. Statt der abgerundeten Plastik der Gestalten und ihrer typisierten Idealität liebt man die bis ins Bizarre, Absonderliche, ja Fratzenhafte gesteigerte Charakteristik und will im ganzen weniger in ruhigem Maße erfreut als leidenschaftlich erregt und erschüttert sein. Alles das aber ist gotisch und findet seine genaue Entsprechung in der bildenden Kunst. *) Für die bildende Kunst führt ähnliche Gedanken aus W. Worringer in „Formprobleme der Gotik" 1911.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/231>, abgerufen am 08.06.2024.