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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Der germanische Schönheitsbegriff

Diese gotischen Eigenheiten offenbaren sich am reinsten in der ältesten
germanischen Kunstform: der Ballade, die auch die Bauzelle des deutschen
Heldenepos gewesen ist. In der Ballade vom Hildebrandslicd oder von den Ge¬
sängen der Edda an bis zu Bürgers Lenore, dem Goethescher Erlkönig und Mörickes
Feuerreiter haben wir die atemlose Bewegtheit, die leidenschaftliche Steigerung zu
einzelnen Stimmungsgipfeln, das Hereinbeziehen transzendenter Gewalten, was
alles zur Erschütterung durch das gotische Kunstwollen führt. Die großen
Epen, die meist wohl unter dem Einfluß Virgils oder anderer nichtgotischer
Vorbilder entstanden sind, zeigen weit weniger deutlich das echtgermanische
Kunstwollen. Und doch ist es interessant, zu beobachten, wie trotz der romani¬
schen Vorlage der größte Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach,
in seinem Parsifal ein Werk schafft, das in seiner phantastischen verwirrenden
Fülle, in seinen unplastisch-flächenhaft und doch wieder fast karrikaturhaft
scharf gesehenen Gestalten, in seinem dunkeln Drang ins Transzendente echt
gotisch ist wie das Straßburger Münster.

Gotisch in diesem Sinn ist auch das Theater des Mittelalters, die
Mysterien mit ihrer verwirrenden Fülle von Bildern und Gesichten, die zwischen
Himmel und Hölle schwanken. Aus diesem Boden ist das Theater erwachsen,
das die reinste Entfaltung germanischen Geistes ist: die Bühne Shakespeares.
Dasselbe Kunstwollen, das wir überall am gotischen Werke gekennzeichnet haben,
kehrt hier wieder: nicht Einheit, sondern berückende, verwirrende Fülle, die ihre
Form dadurch erhält, daß sie in einzelnen gewaltigen Höhepunkten gipfelt, eine
Charakterzeichnung, die nicht die typisierende Idealisierung der griechischen
Szene kennt, sondern das Charakteristische bis zum Bizarren und Fratzenhaften
liebt, ein Leben, das bei aller Kraft und Bodenständigkeit doch durchwoben ist
von transzendentalen Beziehungen zur Geistes- und Hexenwelt.

Und aufs neue bricht, trotz aller klassischen und romanischen Einflüsse, der
gotische Geist auch im Drama nochmals durch: im Drama Goethes und
seiner Zeitgenossen, am reinsten und tiefsten im Faust. Man muß den Faust
ansehen wie eine der gotischen Kathedralen, die auch nicht nach einem Wurf
und einem Plan aufgebaut wurden, die sogar klassische Elemente in sich auf¬
nehmen konnten und doch ihren gotischen Grundcharakter wahrten. Auch hier
besteht nicht Einheit im Sinne der klassischen Dramen: die Einheit dieses
Werkes ist eine transzendente; religiöse Mystik, und grotesker Teufels- und
Hexenspuk klingen zusammen zu wunderlichem Akkord, und nur der dunkle
Drang zur Höhe hält alles zusamen.

Überall, wo der deutsche Geist sich frei entfaltet, uneingeschnürt durch
klassische Regeln, tritt die gotische Wesensart heraus, oft bis zum Grotesken
konsequent. Die Romane Jean Pauls mit ihrem barocken, gewollt-chaotischen
Inhalt, mit ihrer seltsamen Mischung von transzendentalem Hochschwung und
phantastischem Arabeskenwerk, ihren flächenhaft gesehenen, teils ins Überirdische
stilisierten, teils ins Absonderliche verzerrten Gestalten sind echte Ausgeburten


Der germanische Schönheitsbegriff

Diese gotischen Eigenheiten offenbaren sich am reinsten in der ältesten
germanischen Kunstform: der Ballade, die auch die Bauzelle des deutschen
Heldenepos gewesen ist. In der Ballade vom Hildebrandslicd oder von den Ge¬
sängen der Edda an bis zu Bürgers Lenore, dem Goethescher Erlkönig und Mörickes
Feuerreiter haben wir die atemlose Bewegtheit, die leidenschaftliche Steigerung zu
einzelnen Stimmungsgipfeln, das Hereinbeziehen transzendenter Gewalten, was
alles zur Erschütterung durch das gotische Kunstwollen führt. Die großen
Epen, die meist wohl unter dem Einfluß Virgils oder anderer nichtgotischer
Vorbilder entstanden sind, zeigen weit weniger deutlich das echtgermanische
Kunstwollen. Und doch ist es interessant, zu beobachten, wie trotz der romani¬
schen Vorlage der größte Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach,
in seinem Parsifal ein Werk schafft, das in seiner phantastischen verwirrenden
Fülle, in seinen unplastisch-flächenhaft und doch wieder fast karrikaturhaft
scharf gesehenen Gestalten, in seinem dunkeln Drang ins Transzendente echt
gotisch ist wie das Straßburger Münster.

Gotisch in diesem Sinn ist auch das Theater des Mittelalters, die
Mysterien mit ihrer verwirrenden Fülle von Bildern und Gesichten, die zwischen
Himmel und Hölle schwanken. Aus diesem Boden ist das Theater erwachsen,
das die reinste Entfaltung germanischen Geistes ist: die Bühne Shakespeares.
Dasselbe Kunstwollen, das wir überall am gotischen Werke gekennzeichnet haben,
kehrt hier wieder: nicht Einheit, sondern berückende, verwirrende Fülle, die ihre
Form dadurch erhält, daß sie in einzelnen gewaltigen Höhepunkten gipfelt, eine
Charakterzeichnung, die nicht die typisierende Idealisierung der griechischen
Szene kennt, sondern das Charakteristische bis zum Bizarren und Fratzenhaften
liebt, ein Leben, das bei aller Kraft und Bodenständigkeit doch durchwoben ist
von transzendentalen Beziehungen zur Geistes- und Hexenwelt.

Und aufs neue bricht, trotz aller klassischen und romanischen Einflüsse, der
gotische Geist auch im Drama nochmals durch: im Drama Goethes und
seiner Zeitgenossen, am reinsten und tiefsten im Faust. Man muß den Faust
ansehen wie eine der gotischen Kathedralen, die auch nicht nach einem Wurf
und einem Plan aufgebaut wurden, die sogar klassische Elemente in sich auf¬
nehmen konnten und doch ihren gotischen Grundcharakter wahrten. Auch hier
besteht nicht Einheit im Sinne der klassischen Dramen: die Einheit dieses
Werkes ist eine transzendente; religiöse Mystik, und grotesker Teufels- und
Hexenspuk klingen zusammen zu wunderlichem Akkord, und nur der dunkle
Drang zur Höhe hält alles zusamen.

Überall, wo der deutsche Geist sich frei entfaltet, uneingeschnürt durch
klassische Regeln, tritt die gotische Wesensart heraus, oft bis zum Grotesken
konsequent. Die Romane Jean Pauls mit ihrem barocken, gewollt-chaotischen
Inhalt, mit ihrer seltsamen Mischung von transzendentalem Hochschwung und
phantastischem Arabeskenwerk, ihren flächenhaft gesehenen, teils ins Überirdische
stilisierten, teils ins Absonderliche verzerrten Gestalten sind echte Ausgeburten


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[0232] Der germanische Schönheitsbegriff Diese gotischen Eigenheiten offenbaren sich am reinsten in der ältesten germanischen Kunstform: der Ballade, die auch die Bauzelle des deutschen Heldenepos gewesen ist. In der Ballade vom Hildebrandslicd oder von den Ge¬ sängen der Edda an bis zu Bürgers Lenore, dem Goethescher Erlkönig und Mörickes Feuerreiter haben wir die atemlose Bewegtheit, die leidenschaftliche Steigerung zu einzelnen Stimmungsgipfeln, das Hereinbeziehen transzendenter Gewalten, was alles zur Erschütterung durch das gotische Kunstwollen führt. Die großen Epen, die meist wohl unter dem Einfluß Virgils oder anderer nichtgotischer Vorbilder entstanden sind, zeigen weit weniger deutlich das echtgermanische Kunstwollen. Und doch ist es interessant, zu beobachten, wie trotz der romani¬ schen Vorlage der größte Dichter des Mittelalters, Wolfram von Eschenbach, in seinem Parsifal ein Werk schafft, das in seiner phantastischen verwirrenden Fülle, in seinen unplastisch-flächenhaft und doch wieder fast karrikaturhaft scharf gesehenen Gestalten, in seinem dunkeln Drang ins Transzendente echt gotisch ist wie das Straßburger Münster. Gotisch in diesem Sinn ist auch das Theater des Mittelalters, die Mysterien mit ihrer verwirrenden Fülle von Bildern und Gesichten, die zwischen Himmel und Hölle schwanken. Aus diesem Boden ist das Theater erwachsen, das die reinste Entfaltung germanischen Geistes ist: die Bühne Shakespeares. Dasselbe Kunstwollen, das wir überall am gotischen Werke gekennzeichnet haben, kehrt hier wieder: nicht Einheit, sondern berückende, verwirrende Fülle, die ihre Form dadurch erhält, daß sie in einzelnen gewaltigen Höhepunkten gipfelt, eine Charakterzeichnung, die nicht die typisierende Idealisierung der griechischen Szene kennt, sondern das Charakteristische bis zum Bizarren und Fratzenhaften liebt, ein Leben, das bei aller Kraft und Bodenständigkeit doch durchwoben ist von transzendentalen Beziehungen zur Geistes- und Hexenwelt. Und aufs neue bricht, trotz aller klassischen und romanischen Einflüsse, der gotische Geist auch im Drama nochmals durch: im Drama Goethes und seiner Zeitgenossen, am reinsten und tiefsten im Faust. Man muß den Faust ansehen wie eine der gotischen Kathedralen, die auch nicht nach einem Wurf und einem Plan aufgebaut wurden, die sogar klassische Elemente in sich auf¬ nehmen konnten und doch ihren gotischen Grundcharakter wahrten. Auch hier besteht nicht Einheit im Sinne der klassischen Dramen: die Einheit dieses Werkes ist eine transzendente; religiöse Mystik, und grotesker Teufels- und Hexenspuk klingen zusammen zu wunderlichem Akkord, und nur der dunkle Drang zur Höhe hält alles zusamen. Überall, wo der deutsche Geist sich frei entfaltet, uneingeschnürt durch klassische Regeln, tritt die gotische Wesensart heraus, oft bis zum Grotesken konsequent. Die Romane Jean Pauls mit ihrem barocken, gewollt-chaotischen Inhalt, mit ihrer seltsamen Mischung von transzendentalem Hochschwung und phantastischem Arabeskenwerk, ihren flächenhaft gesehenen, teils ins Überirdische stilisierten, teils ins Absonderliche verzerrten Gestalten sind echte Ausgeburten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/232>, abgerufen am 28.05.2024.