Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Brüsseler Theaterspiel während des Krieges

und heitere Situation steckt, oder mit ein paar skizzenhaften aber lebensprühenden
Strichen ein tragischer Charakter unirissen wird. Wer Verständnis hat für jene
Eigenart französischer Schauspielkunst, alle Äußerungen des alltäglichen Lebens:
leichte Plauderei, Lachen und Weinen. Ärger und Zorn. Verlegenheit und
Müdigkeit. Liebe- und Enttäuschung zu psychologisch verräterischen, menschlich
bedeutsamen Momenten zu erheben, mit einer selbstverständlichen Fülle von
scheinbar unbedeutenden Gesten lebenswahr zu charakterisieren, ohne Pose immer
neu und interessant zu sein, und auch die fadeste Rolle ohne Gewaltsamkeit
reizvoll zu gestalten, kommt hier bei jeder Premiere d. h. alle acht Tage auss
neue voll ans seine Rechnung. Eine Aufführung von DieudonnöZ "Perdreau" mit
Emile Deluc und Uvonne George gehörte im bescheidensten Rahmen zu
dem bedeutendsten, was ich an Darstellungskunst überhaupt gesehen habe.

Ähnliche Bestrebungen hat das Theater "Bois Sucre", das jedoch weniger
gute Schauspieler hat und zu allerlei Kompromissen im Repertoire greifen muß.

Das alles ist wie gesagt Französisch. Brüsseler Lokalgeist taucht erst auf
in den zahlreichen Revuen. Die Form der Revue ist international und auch dem
Deutschen hinreichend bekannt. Nur ist die Brüsseler Revue intimer. Das
zeigt sich nicht nur in dem beliebten Hineinziehen des Theatersaals in die
Handlung (beispielsweise tauchen die Mitspieler aus dem Parkett auf), sondern
auch in dem Kontakt, den besonders der männliche Causeur, der Compere. mit
dem Publikum sucht. Er fragt ins Parkett hinunter, wendet sich in gesungenen
Tiraden an die Logen, posiert den Wohltäter der Armen, gibt gute Lehren,
ja man kann sagen, er vertritt den antiken Chor, indem er sich zur Stimme
des Publikums macht. Für die Kenntnis Brüsseler Lebens während des Krieges
bilden diese Revuen, wenn man vom Politischen, das natürlich unberührt
bleiben muß. absieht, eine wichtige Quelle. Im Vordergrund des Interesses
steht selbstverständlich die auch in Brüssel bereits empfindliche Teuerung, die
Lebensmittelversorgung durch die städtischen Behörden, die nach den Revuen zu
urteilen, hier so wenig klappt, wie anderswo, obgleich man im allgemeinen
weniger Klagen hört als beispielsweise in Berlin, der Mangel an Seife.
Gummi, Kleingeld usw., ferner werden glossiert die Faulheit der Arbeitslosen, die
Langsamkeit der Handwerker, der Paßzwang, der wirklich lächerliche Neuigkeiten¬
hunger, die Straßenjugend. Dazwischen stehen ein paar sentimentale Reißer
von sozialen Pflichten (in jeder Revue tritt das kleine Mädchen oder der
Junge mit Streichhölzern und Schnürbändern auf!) und fast durchweg hübsch
arrangierte Balletts. Gesprochen wird im Brüsseler Dialekt, d. h. in jenem un¬
schönen aber gemütlichen Französisch mit breitgesprochenen Endungen und auf
barocke Weise vermischt mit drolligen vlämischen Ausdrücken. Und dieser
Sprache gemäß ist der ganze Ton: kein ätzender Witz, keine scharfe Satire,
kein gallischer Esprit, aber ein klownhafter Humor, ein joviales Belachen der
kleinen Nöte des Alltags, gemütlich mit lauerndem Ernst dahinter, leichtsinnig,
weil das Klagen ja doch nichts hilft, burschikos aus Kraftgefühl.


Brüsseler Theaterspiel während des Krieges

und heitere Situation steckt, oder mit ein paar skizzenhaften aber lebensprühenden
Strichen ein tragischer Charakter unirissen wird. Wer Verständnis hat für jene
Eigenart französischer Schauspielkunst, alle Äußerungen des alltäglichen Lebens:
leichte Plauderei, Lachen und Weinen. Ärger und Zorn. Verlegenheit und
Müdigkeit. Liebe- und Enttäuschung zu psychologisch verräterischen, menschlich
bedeutsamen Momenten zu erheben, mit einer selbstverständlichen Fülle von
scheinbar unbedeutenden Gesten lebenswahr zu charakterisieren, ohne Pose immer
neu und interessant zu sein, und auch die fadeste Rolle ohne Gewaltsamkeit
reizvoll zu gestalten, kommt hier bei jeder Premiere d. h. alle acht Tage auss
neue voll ans seine Rechnung. Eine Aufführung von DieudonnöZ „Perdreau" mit
Emile Deluc und Uvonne George gehörte im bescheidensten Rahmen zu
dem bedeutendsten, was ich an Darstellungskunst überhaupt gesehen habe.

Ähnliche Bestrebungen hat das Theater „Bois Sucre", das jedoch weniger
gute Schauspieler hat und zu allerlei Kompromissen im Repertoire greifen muß.

Das alles ist wie gesagt Französisch. Brüsseler Lokalgeist taucht erst auf
in den zahlreichen Revuen. Die Form der Revue ist international und auch dem
Deutschen hinreichend bekannt. Nur ist die Brüsseler Revue intimer. Das
zeigt sich nicht nur in dem beliebten Hineinziehen des Theatersaals in die
Handlung (beispielsweise tauchen die Mitspieler aus dem Parkett auf), sondern
auch in dem Kontakt, den besonders der männliche Causeur, der Compere. mit
dem Publikum sucht. Er fragt ins Parkett hinunter, wendet sich in gesungenen
Tiraden an die Logen, posiert den Wohltäter der Armen, gibt gute Lehren,
ja man kann sagen, er vertritt den antiken Chor, indem er sich zur Stimme
des Publikums macht. Für die Kenntnis Brüsseler Lebens während des Krieges
bilden diese Revuen, wenn man vom Politischen, das natürlich unberührt
bleiben muß. absieht, eine wichtige Quelle. Im Vordergrund des Interesses
steht selbstverständlich die auch in Brüssel bereits empfindliche Teuerung, die
Lebensmittelversorgung durch die städtischen Behörden, die nach den Revuen zu
urteilen, hier so wenig klappt, wie anderswo, obgleich man im allgemeinen
weniger Klagen hört als beispielsweise in Berlin, der Mangel an Seife.
Gummi, Kleingeld usw., ferner werden glossiert die Faulheit der Arbeitslosen, die
Langsamkeit der Handwerker, der Paßzwang, der wirklich lächerliche Neuigkeiten¬
hunger, die Straßenjugend. Dazwischen stehen ein paar sentimentale Reißer
von sozialen Pflichten (in jeder Revue tritt das kleine Mädchen oder der
Junge mit Streichhölzern und Schnürbändern auf!) und fast durchweg hübsch
arrangierte Balletts. Gesprochen wird im Brüsseler Dialekt, d. h. in jenem un¬
schönen aber gemütlichen Französisch mit breitgesprochenen Endungen und auf
barocke Weise vermischt mit drolligen vlämischen Ausdrücken. Und dieser
Sprache gemäß ist der ganze Ton: kein ätzender Witz, keine scharfe Satire,
kein gallischer Esprit, aber ein klownhafter Humor, ein joviales Belachen der
kleinen Nöte des Alltags, gemütlich mit lauerndem Ernst dahinter, leichtsinnig,
weil das Klagen ja doch nichts hilft, burschikos aus Kraftgefühl.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/330999"/>
          <fw type="header" place="top"> Brüsseler Theaterspiel während des Krieges</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_37" prev="#ID_36"> und heitere Situation steckt, oder mit ein paar skizzenhaften aber lebensprühenden<lb/>
Strichen ein tragischer Charakter unirissen wird.  Wer Verständnis hat für jene<lb/>
Eigenart französischer Schauspielkunst, alle Äußerungen des alltäglichen Lebens:<lb/>
leichte Plauderei, Lachen und Weinen. Ärger und Zorn. Verlegenheit und<lb/>
Müdigkeit. Liebe- und Enttäuschung zu psychologisch verräterischen, menschlich<lb/>
bedeutsamen Momenten zu erheben, mit einer selbstverständlichen Fülle von<lb/>
scheinbar unbedeutenden Gesten lebenswahr zu charakterisieren, ohne Pose immer<lb/>
neu und interessant zu sein, und auch die fadeste Rolle ohne Gewaltsamkeit<lb/>
reizvoll zu gestalten, kommt hier bei jeder Premiere d. h. alle acht Tage auss<lb/>
neue voll ans seine Rechnung. Eine Aufführung von DieudonnöZ &#x201E;Perdreau" mit<lb/>
Emile Deluc und Uvonne George gehörte im  bescheidensten Rahmen zu<lb/>
dem bedeutendsten, was ich an Darstellungskunst überhaupt gesehen habe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_38"> Ähnliche Bestrebungen hat das Theater &#x201E;Bois Sucre", das jedoch weniger<lb/>
gute Schauspieler hat und zu allerlei Kompromissen im Repertoire greifen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_39"> Das alles ist wie gesagt Französisch.  Brüsseler Lokalgeist taucht erst auf<lb/>
in den zahlreichen Revuen. Die Form der Revue ist international und auch dem<lb/>
Deutschen hinreichend bekannt.  Nur ist die Brüsseler Revue intimer. Das<lb/>
zeigt sich nicht nur in dem beliebten Hineinziehen des Theatersaals in die<lb/>
Handlung (beispielsweise tauchen die Mitspieler aus dem Parkett auf), sondern<lb/>
auch in dem Kontakt, den besonders der männliche Causeur, der Compere. mit<lb/>
dem Publikum sucht.  Er fragt ins Parkett hinunter, wendet sich in gesungenen<lb/>
Tiraden an die Logen, posiert den Wohltäter der Armen, gibt gute Lehren,<lb/>
ja man kann sagen, er vertritt den antiken Chor, indem er sich zur Stimme<lb/>
des Publikums macht.  Für die Kenntnis Brüsseler Lebens während des Krieges<lb/>
bilden diese Revuen, wenn man vom Politischen, das natürlich unberührt<lb/>
bleiben muß. absieht, eine wichtige Quelle.  Im Vordergrund des Interesses<lb/>
steht selbstverständlich die auch in Brüssel bereits empfindliche Teuerung, die<lb/>
Lebensmittelversorgung durch die städtischen Behörden, die nach den Revuen zu<lb/>
urteilen, hier so wenig klappt, wie anderswo, obgleich man im allgemeinen<lb/>
weniger Klagen hört als beispielsweise in Berlin, der Mangel an Seife.<lb/>
Gummi, Kleingeld usw., ferner werden glossiert die Faulheit der Arbeitslosen, die<lb/>
Langsamkeit der Handwerker, der Paßzwang, der wirklich lächerliche Neuigkeiten¬<lb/>
hunger, die Straßenjugend.  Dazwischen stehen ein paar sentimentale Reißer<lb/>
von sozialen Pflichten (in jeder Revue tritt das kleine Mädchen oder der<lb/>
Junge mit Streichhölzern und Schnürbändern auf!) und fast durchweg hübsch<lb/>
arrangierte Balletts.  Gesprochen wird im Brüsseler Dialekt, d. h. in jenem un¬<lb/>
schönen aber gemütlichen Französisch mit breitgesprochenen Endungen und auf<lb/>
barocke Weise vermischt mit drolligen vlämischen Ausdrücken.  Und dieser<lb/>
Sprache gemäß ist der ganze Ton: kein ätzender Witz, keine scharfe Satire,<lb/>
kein gallischer Esprit, aber ein klownhafter Humor,  ein joviales Belachen der<lb/>
kleinen Nöte des Alltags, gemütlich mit lauerndem Ernst dahinter, leichtsinnig,<lb/>
weil das Klagen ja doch nichts hilft, burschikos aus Kraftgefühl.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0027] Brüsseler Theaterspiel während des Krieges und heitere Situation steckt, oder mit ein paar skizzenhaften aber lebensprühenden Strichen ein tragischer Charakter unirissen wird. Wer Verständnis hat für jene Eigenart französischer Schauspielkunst, alle Äußerungen des alltäglichen Lebens: leichte Plauderei, Lachen und Weinen. Ärger und Zorn. Verlegenheit und Müdigkeit. Liebe- und Enttäuschung zu psychologisch verräterischen, menschlich bedeutsamen Momenten zu erheben, mit einer selbstverständlichen Fülle von scheinbar unbedeutenden Gesten lebenswahr zu charakterisieren, ohne Pose immer neu und interessant zu sein, und auch die fadeste Rolle ohne Gewaltsamkeit reizvoll zu gestalten, kommt hier bei jeder Premiere d. h. alle acht Tage auss neue voll ans seine Rechnung. Eine Aufführung von DieudonnöZ „Perdreau" mit Emile Deluc und Uvonne George gehörte im bescheidensten Rahmen zu dem bedeutendsten, was ich an Darstellungskunst überhaupt gesehen habe. Ähnliche Bestrebungen hat das Theater „Bois Sucre", das jedoch weniger gute Schauspieler hat und zu allerlei Kompromissen im Repertoire greifen muß. Das alles ist wie gesagt Französisch. Brüsseler Lokalgeist taucht erst auf in den zahlreichen Revuen. Die Form der Revue ist international und auch dem Deutschen hinreichend bekannt. Nur ist die Brüsseler Revue intimer. Das zeigt sich nicht nur in dem beliebten Hineinziehen des Theatersaals in die Handlung (beispielsweise tauchen die Mitspieler aus dem Parkett auf), sondern auch in dem Kontakt, den besonders der männliche Causeur, der Compere. mit dem Publikum sucht. Er fragt ins Parkett hinunter, wendet sich in gesungenen Tiraden an die Logen, posiert den Wohltäter der Armen, gibt gute Lehren, ja man kann sagen, er vertritt den antiken Chor, indem er sich zur Stimme des Publikums macht. Für die Kenntnis Brüsseler Lebens während des Krieges bilden diese Revuen, wenn man vom Politischen, das natürlich unberührt bleiben muß. absieht, eine wichtige Quelle. Im Vordergrund des Interesses steht selbstverständlich die auch in Brüssel bereits empfindliche Teuerung, die Lebensmittelversorgung durch die städtischen Behörden, die nach den Revuen zu urteilen, hier so wenig klappt, wie anderswo, obgleich man im allgemeinen weniger Klagen hört als beispielsweise in Berlin, der Mangel an Seife. Gummi, Kleingeld usw., ferner werden glossiert die Faulheit der Arbeitslosen, die Langsamkeit der Handwerker, der Paßzwang, der wirklich lächerliche Neuigkeiten¬ hunger, die Straßenjugend. Dazwischen stehen ein paar sentimentale Reißer von sozialen Pflichten (in jeder Revue tritt das kleine Mädchen oder der Junge mit Streichhölzern und Schnürbändern auf!) und fast durchweg hübsch arrangierte Balletts. Gesprochen wird im Brüsseler Dialekt, d. h. in jenem un¬ schönen aber gemütlichen Französisch mit breitgesprochenen Endungen und auf barocke Weise vermischt mit drolligen vlämischen Ausdrücken. Und dieser Sprache gemäß ist der ganze Ton: kein ätzender Witz, keine scharfe Satire, kein gallischer Esprit, aber ein klownhafter Humor, ein joviales Belachen der kleinen Nöte des Alltags, gemütlich mit lauerndem Ernst dahinter, leichtsinnig, weil das Klagen ja doch nichts hilft, burschikos aus Kraftgefühl.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/27
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/27>, abgerufen am 14.05.2024.