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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Brüsseler Theaterspiel während des Krieges

Französisch ist die Oberschicht, eine Mischung die Mittelschicht, will man
wissen wie das Volk ist, so muß man sich die ursprünglich vlämische, hier aber
in französischer Übersetzung gespickte Lokalposse "Familie Klepkens" von Aug.
Hendrickx ansehen.

Der aufgehende Vorhang zeigt im bescheidensten kleinbürgerlichen Milieu,
in der Wohnstube, die zugleich Werkstatt, Eß-, Kinder- und Empfangszimmer
ist, eine Schneiderfamilie. Ein paar komische Gesten beim Maßnehmen, ein paar
Witze im Brüsseler Dialekt, ein paar volkstümliche Redensarten, die Miesmuschel-
verkäuferin, eine Liebesszene zwischen Haustochter und Geselle voll frischer
Naturlaute und ohne jegliche Sentimentalität, bringen das Publikum in gute
Laune, bis mit großem Geschrei und stürmisch begrüßt der Bruder von Madame
ins Haus fällt. Ein aus dem Leben gegriffener Typus. Friseur von Beruf,
lang, ungepflegt, mit rotem Gesicht und schlechten Manieren, die er aus Grund
eines zehnjährigen Pariser Aufenhalts für den Gipfel des Schick hält, entsetzlich
renommierend und hinter jedem Satz ein alsbald in der Familie wie im Publikum
widerhallendes OK in 1^1 hinterdrein sanfaronnierend. Nachdem er mit Markt-
schreiergebahren die mitgebrachte billige Bazarware unter die geblendete Familie
verteilt hat, sucht er, ein Bein übergeschlagen, die Daumen in den Ärmel¬
löchern seiner tiefausgeschnittenen Kommiswefte und mit den übrigen Fingern
am Ausschnitt Klavier spielend, mit seinen: Plan heraus: Klepkens müssen mit
nach Paris kommen, wo es zur Weltausstellung Geld wie Heu zu verdienen
gibt. Allgemeine Begeisterung, Madame ist gleich bereit, einmal "Pariserisch"
zu lernen, man ißt und trinkt, und mit den Aussichten auf eine glänzende Zu¬
kunft schließt der Akt.

Die Herrlichkeit des windigen Verwandten erweist sich als eine trostlos kahle
Mansarde mit zwei wackligen Betten und ein paar Flaschen als einzigem Hausrat.
Nach der enttäuschenden Ankunft und einem Wortwechsel mit der Concierge, die mit
geradezu grauslicher, aber keineswegs übertreibender Realistik als versoffene Furie
dargestellt wird, wird Essen eingeholt. Weißwein vom Bistro, dessen Wohlfeil¬
heit die Familie mit Ausnahme des nach dem heimischen Landin seufzenden
Oberhauptes die Familie etwas mit der Unbehaglichkeit aussöhnt, und Kartoffel-
schnitz, Dann gehen die Männer die Ankunft begießen, während die übrige
Familie Anstalten zum Schlafengehen trifft, was Anlaß zu einer Fülle komischer
Mimik gibt. Das Jüngste wird im geöffneten Koffer verstaut, der Junge sucht
unter vielen Grimassen und wechselweise krampfig hochgezogenen Beinen das
Nachtgeschirr, Madame, dem Publikum ihr enormes Hinterteil zukehrend, ent¬
hüllt beim Auskleiden zuerst einen knallroten Unterrock, dann die Hose aus
zartrosa Flanell (keine Spur von Wagnis, eher eine Parodie auf die Entkleidungs-
stücke), der Junge klatscht mit einem Pantoffel Wanzen tot. Gewitter, tropfende
Löcher in der Decke, böse Nachbarn. Endlich kommt, mit einem Rausch, dem
man die tiefe Enttäuschung und gänzliche Hoffnungslosigkeit anmerkt, Vater
Klepkens nach Hause und wird von der energischen Ehehälfte unter Beihilfe


Brüsseler Theaterspiel während des Krieges

Französisch ist die Oberschicht, eine Mischung die Mittelschicht, will man
wissen wie das Volk ist, so muß man sich die ursprünglich vlämische, hier aber
in französischer Übersetzung gespickte Lokalposse „Familie Klepkens" von Aug.
Hendrickx ansehen.

Der aufgehende Vorhang zeigt im bescheidensten kleinbürgerlichen Milieu,
in der Wohnstube, die zugleich Werkstatt, Eß-, Kinder- und Empfangszimmer
ist, eine Schneiderfamilie. Ein paar komische Gesten beim Maßnehmen, ein paar
Witze im Brüsseler Dialekt, ein paar volkstümliche Redensarten, die Miesmuschel-
verkäuferin, eine Liebesszene zwischen Haustochter und Geselle voll frischer
Naturlaute und ohne jegliche Sentimentalität, bringen das Publikum in gute
Laune, bis mit großem Geschrei und stürmisch begrüßt der Bruder von Madame
ins Haus fällt. Ein aus dem Leben gegriffener Typus. Friseur von Beruf,
lang, ungepflegt, mit rotem Gesicht und schlechten Manieren, die er aus Grund
eines zehnjährigen Pariser Aufenhalts für den Gipfel des Schick hält, entsetzlich
renommierend und hinter jedem Satz ein alsbald in der Familie wie im Publikum
widerhallendes OK in 1^1 hinterdrein sanfaronnierend. Nachdem er mit Markt-
schreiergebahren die mitgebrachte billige Bazarware unter die geblendete Familie
verteilt hat, sucht er, ein Bein übergeschlagen, die Daumen in den Ärmel¬
löchern seiner tiefausgeschnittenen Kommiswefte und mit den übrigen Fingern
am Ausschnitt Klavier spielend, mit seinen: Plan heraus: Klepkens müssen mit
nach Paris kommen, wo es zur Weltausstellung Geld wie Heu zu verdienen
gibt. Allgemeine Begeisterung, Madame ist gleich bereit, einmal „Pariserisch"
zu lernen, man ißt und trinkt, und mit den Aussichten auf eine glänzende Zu¬
kunft schließt der Akt.

Die Herrlichkeit des windigen Verwandten erweist sich als eine trostlos kahle
Mansarde mit zwei wackligen Betten und ein paar Flaschen als einzigem Hausrat.
Nach der enttäuschenden Ankunft und einem Wortwechsel mit der Concierge, die mit
geradezu grauslicher, aber keineswegs übertreibender Realistik als versoffene Furie
dargestellt wird, wird Essen eingeholt. Weißwein vom Bistro, dessen Wohlfeil¬
heit die Familie mit Ausnahme des nach dem heimischen Landin seufzenden
Oberhauptes die Familie etwas mit der Unbehaglichkeit aussöhnt, und Kartoffel-
schnitz, Dann gehen die Männer die Ankunft begießen, während die übrige
Familie Anstalten zum Schlafengehen trifft, was Anlaß zu einer Fülle komischer
Mimik gibt. Das Jüngste wird im geöffneten Koffer verstaut, der Junge sucht
unter vielen Grimassen und wechselweise krampfig hochgezogenen Beinen das
Nachtgeschirr, Madame, dem Publikum ihr enormes Hinterteil zukehrend, ent¬
hüllt beim Auskleiden zuerst einen knallroten Unterrock, dann die Hose aus
zartrosa Flanell (keine Spur von Wagnis, eher eine Parodie auf die Entkleidungs-
stücke), der Junge klatscht mit einem Pantoffel Wanzen tot. Gewitter, tropfende
Löcher in der Decke, böse Nachbarn. Endlich kommt, mit einem Rausch, dem
man die tiefe Enttäuschung und gänzliche Hoffnungslosigkeit anmerkt, Vater
Klepkens nach Hause und wird von der energischen Ehehälfte unter Beihilfe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/28>, abgerufen am 14.05.2024.