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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Angewandte Psychologie

Es dauerte jedoch nicht allzulange, bis man bei den mit mehreren Personen
angestellten Experimentalbeobachtungen auf gewisse Verschiedenartigkeiten des Ver¬
haltens verschiedener Personen aufmerksam zu werden begann, d. h. bemerkte,
daß in die Funktionsgleichungen, die ein allgemeines psychologisches Gesetz zum
Ausdruck bringen, Konstanten eingehen, deren Größe von Person zu Person ver¬
schieden ist. Wiederum ist es die Astronomie, die als erste eine solche indivi-
dualpsychologische Gesetzmäßigkeit erkannt hatte. Argelander machte im Jahre
1861 weitere Kreise auf die sogenannte "persönliche Gleichung" der Astronomen
aufmerksam, nachdem die Tatsache den Astronomen selbst schon 1799 durch
Maskelyne bekannt geworden war: daß verschiedene Beobachter den Zeitpunkt
des Durchganges eines Sternes durch einen Visierfaden verschieden bestimmen,
beruht nicht auf einer mehr oder weniger genauen Beobachtung, sondern auf
der jedem Beobachter eigentümlichen Reaktionsgeschwindigkeit.

Auch auf dem Gebiete der Jndividualpsychologie lieferten die psycho¬
logischen Experimentaluntersuchungen eine Fülle allerdings meist gelegentlicher
Ergebnisse, die zum ersten Male Stern im Jahre 1900 systematisch zusammen¬
faßte. Es zeigte sich, daß auf sehr vielen, wenn nicht allen, Gedecken des
psychischen Verhaltens, die Menschen sich in gewisse Typen sondern lassen --
eine Scheidung, die auch schon die frühere, nicht exakte Psychologie in ihren
Charakterologien mehrfach und mit verschiedenem Glück versucht hatte. So
unterscheiden wir z. B. den visuellen und den auditiven Anschauungstypus:
der visuelle bevorzugt in seinen Vorstellungen das optische Gebiet, merkt sich
Gesichtseindrücke leichter und besser als Gehörseindrücke, und beachtet an kom¬
plexen Erlebnissen vorwiegend ihre optischen Qualitäten; dieselbe Rolle spielen
für den Auditiven die Gehörseindrücke, sodaß es also z. B. für ihn eine
wesentliche Erleichterung des Einprägens ist, wenn er laut lernen kann. --
Auf dem Gebiete der Charakterlehre wird die uralte Lehre von den vier Tem¬
peramenten noch heute diskutiert, teilweise unter Heranziehung experimentell
gewonnener Befunde über die Reaktion auf Reize.

Neben dieser Erkenntnis, daß die einzelnen Menschen gewisse typische Ver¬
schiedenheiten ihres psychischen Verhaltens zeigen, begann man bald auch der
ja an sich nicht neuen Tatsache Beachtung zu schenken, daß auch das Verhalten
größerer Gruppen von Menschen, auch wenn die Gruppierung nach zunächst
nicht psychologischen Gesichtspunkten vorgenommen war, sich mehr oder weniger
deutlich differenziert. Man begann zu untersuchen, wie das Kind als solches
sich gegenüber psychologischen Fragestellungen verhält. Als eine der ersten
systematischen Bearbeitungen einer solchen Frage sei hier die Untersuchung von
Schwabe und Bartholomäi über den "Vorstellungskreis der Berliner Kinder
beim Eintritt in die Schulen" (1870) erwähnt.

Damit war auch das Gebiet der differentiellen Psychologie angeschnitten,
das weiterhin durch eine Fülle von Arbeiten über die Psychologie des Kindes
(vgl. z. B. Stern, Psychologie der frühen Kindheit 1914), die psychischen


Angewandte Psychologie

Es dauerte jedoch nicht allzulange, bis man bei den mit mehreren Personen
angestellten Experimentalbeobachtungen auf gewisse Verschiedenartigkeiten des Ver¬
haltens verschiedener Personen aufmerksam zu werden begann, d. h. bemerkte,
daß in die Funktionsgleichungen, die ein allgemeines psychologisches Gesetz zum
Ausdruck bringen, Konstanten eingehen, deren Größe von Person zu Person ver¬
schieden ist. Wiederum ist es die Astronomie, die als erste eine solche indivi-
dualpsychologische Gesetzmäßigkeit erkannt hatte. Argelander machte im Jahre
1861 weitere Kreise auf die sogenannte „persönliche Gleichung" der Astronomen
aufmerksam, nachdem die Tatsache den Astronomen selbst schon 1799 durch
Maskelyne bekannt geworden war: daß verschiedene Beobachter den Zeitpunkt
des Durchganges eines Sternes durch einen Visierfaden verschieden bestimmen,
beruht nicht auf einer mehr oder weniger genauen Beobachtung, sondern auf
der jedem Beobachter eigentümlichen Reaktionsgeschwindigkeit.

Auch auf dem Gebiete der Jndividualpsychologie lieferten die psycho¬
logischen Experimentaluntersuchungen eine Fülle allerdings meist gelegentlicher
Ergebnisse, die zum ersten Male Stern im Jahre 1900 systematisch zusammen¬
faßte. Es zeigte sich, daß auf sehr vielen, wenn nicht allen, Gedecken des
psychischen Verhaltens, die Menschen sich in gewisse Typen sondern lassen —
eine Scheidung, die auch schon die frühere, nicht exakte Psychologie in ihren
Charakterologien mehrfach und mit verschiedenem Glück versucht hatte. So
unterscheiden wir z. B. den visuellen und den auditiven Anschauungstypus:
der visuelle bevorzugt in seinen Vorstellungen das optische Gebiet, merkt sich
Gesichtseindrücke leichter und besser als Gehörseindrücke, und beachtet an kom¬
plexen Erlebnissen vorwiegend ihre optischen Qualitäten; dieselbe Rolle spielen
für den Auditiven die Gehörseindrücke, sodaß es also z. B. für ihn eine
wesentliche Erleichterung des Einprägens ist, wenn er laut lernen kann. —
Auf dem Gebiete der Charakterlehre wird die uralte Lehre von den vier Tem¬
peramenten noch heute diskutiert, teilweise unter Heranziehung experimentell
gewonnener Befunde über die Reaktion auf Reize.

Neben dieser Erkenntnis, daß die einzelnen Menschen gewisse typische Ver¬
schiedenheiten ihres psychischen Verhaltens zeigen, begann man bald auch der
ja an sich nicht neuen Tatsache Beachtung zu schenken, daß auch das Verhalten
größerer Gruppen von Menschen, auch wenn die Gruppierung nach zunächst
nicht psychologischen Gesichtspunkten vorgenommen war, sich mehr oder weniger
deutlich differenziert. Man begann zu untersuchen, wie das Kind als solches
sich gegenüber psychologischen Fragestellungen verhält. Als eine der ersten
systematischen Bearbeitungen einer solchen Frage sei hier die Untersuchung von
Schwabe und Bartholomäi über den „Vorstellungskreis der Berliner Kinder
beim Eintritt in die Schulen" (1870) erwähnt.

Damit war auch das Gebiet der differentiellen Psychologie angeschnitten,
das weiterhin durch eine Fülle von Arbeiten über die Psychologie des Kindes
(vgl. z. B. Stern, Psychologie der frühen Kindheit 1914), die psychischen


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[0292] Angewandte Psychologie Es dauerte jedoch nicht allzulange, bis man bei den mit mehreren Personen angestellten Experimentalbeobachtungen auf gewisse Verschiedenartigkeiten des Ver¬ haltens verschiedener Personen aufmerksam zu werden begann, d. h. bemerkte, daß in die Funktionsgleichungen, die ein allgemeines psychologisches Gesetz zum Ausdruck bringen, Konstanten eingehen, deren Größe von Person zu Person ver¬ schieden ist. Wiederum ist es die Astronomie, die als erste eine solche indivi- dualpsychologische Gesetzmäßigkeit erkannt hatte. Argelander machte im Jahre 1861 weitere Kreise auf die sogenannte „persönliche Gleichung" der Astronomen aufmerksam, nachdem die Tatsache den Astronomen selbst schon 1799 durch Maskelyne bekannt geworden war: daß verschiedene Beobachter den Zeitpunkt des Durchganges eines Sternes durch einen Visierfaden verschieden bestimmen, beruht nicht auf einer mehr oder weniger genauen Beobachtung, sondern auf der jedem Beobachter eigentümlichen Reaktionsgeschwindigkeit. Auch auf dem Gebiete der Jndividualpsychologie lieferten die psycho¬ logischen Experimentaluntersuchungen eine Fülle allerdings meist gelegentlicher Ergebnisse, die zum ersten Male Stern im Jahre 1900 systematisch zusammen¬ faßte. Es zeigte sich, daß auf sehr vielen, wenn nicht allen, Gedecken des psychischen Verhaltens, die Menschen sich in gewisse Typen sondern lassen — eine Scheidung, die auch schon die frühere, nicht exakte Psychologie in ihren Charakterologien mehrfach und mit verschiedenem Glück versucht hatte. So unterscheiden wir z. B. den visuellen und den auditiven Anschauungstypus: der visuelle bevorzugt in seinen Vorstellungen das optische Gebiet, merkt sich Gesichtseindrücke leichter und besser als Gehörseindrücke, und beachtet an kom¬ plexen Erlebnissen vorwiegend ihre optischen Qualitäten; dieselbe Rolle spielen für den Auditiven die Gehörseindrücke, sodaß es also z. B. für ihn eine wesentliche Erleichterung des Einprägens ist, wenn er laut lernen kann. — Auf dem Gebiete der Charakterlehre wird die uralte Lehre von den vier Tem¬ peramenten noch heute diskutiert, teilweise unter Heranziehung experimentell gewonnener Befunde über die Reaktion auf Reize. Neben dieser Erkenntnis, daß die einzelnen Menschen gewisse typische Ver¬ schiedenheiten ihres psychischen Verhaltens zeigen, begann man bald auch der ja an sich nicht neuen Tatsache Beachtung zu schenken, daß auch das Verhalten größerer Gruppen von Menschen, auch wenn die Gruppierung nach zunächst nicht psychologischen Gesichtspunkten vorgenommen war, sich mehr oder weniger deutlich differenziert. Man begann zu untersuchen, wie das Kind als solches sich gegenüber psychologischen Fragestellungen verhält. Als eine der ersten systematischen Bearbeitungen einer solchen Frage sei hier die Untersuchung von Schwabe und Bartholomäi über den „Vorstellungskreis der Berliner Kinder beim Eintritt in die Schulen" (1870) erwähnt. Damit war auch das Gebiet der differentiellen Psychologie angeschnitten, das weiterhin durch eine Fülle von Arbeiten über die Psychologie des Kindes (vgl. z. B. Stern, Psychologie der frühen Kindheit 1914), die psychischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/292>, abgerufen am 13.05.2024.