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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Angewandte Psychologie

Unterschiede der Geschlechter (z, B. Lipmann, Psychische Geschlechtsunterschiede
1916), die Psychologie der Primitiven (z. B. Thurnwald, Ethnopsychologische
Studien an Südseevölkern, 1913), der Geisteskranken (z. B. Gregor, Leitfaden
der experimentellen Psychopathologie, 1910), der Berufe (z. B. Lipmann, Zur
psychologischen Charakteristik der mittleren Berufs, Zeitschrift für angewandte
Psychologie 1916) bereichert wurde.

Mit dieser Einleitung, welche die Teilgebiete der theoretischen Psychologie
behandeln sollte, aber doch schon mehrfach auf die Gebiete der angewandten
Psychologie abschweifte, haben wir gleichzeitig auch die Unterabteilungen dieser
letzteren aufgezählt. Auch in der angewandten Psychologie haben wir es sowohl
mit allgemein-psychologischen Fragen wie auch mit individuell- und differentiell-
psychologischen zu tun.

Um zunächst einige Themata der allgemeinen angewandten Psychologie
aufzuzählen, so hätten wir neben vielen andern z. B. die Gesetzmäßigkeiten des
Lernens, der Aufmerksamkeit, der Übung und Ermüdung zu erwähnen, die
vielfache Anwendungen auf Probleme des Unterrichts und der Schulorganisation
gestatten. Es zeigte sich z. B., daß es im allgemeinen ökonomischer ist, einen
Stoff von gewisser Lange "im Ganzen" zu lernen als ihn in Abschnitte zu
teilen und jeden Abschnitt besonders einzuprägen; die Untersuchungen über die
Ermüdungswirkung verschiedener Unterrichtsfächer führen zu einem psychologisch
fundierten Aufbau des Stundenplanes usw. Die Theorie der Suggestion findet
ihre Anwendung in der Psychotherapie, die Psychologie des Gedächtnisses und
der Aussage fordert Berücksichtigung beim Zeugenverhör, die Lehre von den
latenten Nachwirkungen interessebetonter Erlebnisse beim Verhör und für die
Überführung eines Angeklagten, Eigenschaften des Gedächtnisses und der Auf¬
merksamkeit bilden das Wirkungsprinzip der Reklame.

Neben diesen Problemen der allgemeinen Psychologie aber sind es ganz
besonders Fragen der Jndividual- und differentiellen Psychologie, mit denen
die angewandte Psychologie sich beschäftigt. Während die allgemeine Psycho¬
logie neben anwendbaren auch eine große Zahl von Ergebnissen aufweist, die
mehr oder weniger nur theoretisches Interesse haben, gibt es kaum ein indi-
vidual- oder differentiell-psychologisches Resultat, das nicht zu anderen Ge¬
bieten der Wissenschaft und des Lebens in Beziehung steht oder doch in
Beziehung gesetzt werden könnte. So ist es gekommen, daß "angewandte"
Psychologie gewöhnlich mit der Jndividual- und differentiellen Psychologie
geradezu identifiziert wird, und daß diese beiden Teilgebiete der Psychologie
meist stillschweigend der angewandten zugerechnet werden, (so rechnet man z. B.
auch die Tierpsychologie gewöhnlich mit zur angewandten Psychologie) obwohl
es auch hier natürlich Fragen gibt, die zunächst wenigstens mehr theoretischer
Art sind.

Die beiden Hauptmethoden der Jndividual-Psychologie sind die Psycho-
graphie und die Test-Prüfung. Die Psychographie. deren Ziel die möglichst


Angewandte Psychologie

Unterschiede der Geschlechter (z, B. Lipmann, Psychische Geschlechtsunterschiede
1916), die Psychologie der Primitiven (z. B. Thurnwald, Ethnopsychologische
Studien an Südseevölkern, 1913), der Geisteskranken (z. B. Gregor, Leitfaden
der experimentellen Psychopathologie, 1910), der Berufe (z. B. Lipmann, Zur
psychologischen Charakteristik der mittleren Berufs, Zeitschrift für angewandte
Psychologie 1916) bereichert wurde.

Mit dieser Einleitung, welche die Teilgebiete der theoretischen Psychologie
behandeln sollte, aber doch schon mehrfach auf die Gebiete der angewandten
Psychologie abschweifte, haben wir gleichzeitig auch die Unterabteilungen dieser
letzteren aufgezählt. Auch in der angewandten Psychologie haben wir es sowohl
mit allgemein-psychologischen Fragen wie auch mit individuell- und differentiell-
psychologischen zu tun.

Um zunächst einige Themata der allgemeinen angewandten Psychologie
aufzuzählen, so hätten wir neben vielen andern z. B. die Gesetzmäßigkeiten des
Lernens, der Aufmerksamkeit, der Übung und Ermüdung zu erwähnen, die
vielfache Anwendungen auf Probleme des Unterrichts und der Schulorganisation
gestatten. Es zeigte sich z. B., daß es im allgemeinen ökonomischer ist, einen
Stoff von gewisser Lange „im Ganzen" zu lernen als ihn in Abschnitte zu
teilen und jeden Abschnitt besonders einzuprägen; die Untersuchungen über die
Ermüdungswirkung verschiedener Unterrichtsfächer führen zu einem psychologisch
fundierten Aufbau des Stundenplanes usw. Die Theorie der Suggestion findet
ihre Anwendung in der Psychotherapie, die Psychologie des Gedächtnisses und
der Aussage fordert Berücksichtigung beim Zeugenverhör, die Lehre von den
latenten Nachwirkungen interessebetonter Erlebnisse beim Verhör und für die
Überführung eines Angeklagten, Eigenschaften des Gedächtnisses und der Auf¬
merksamkeit bilden das Wirkungsprinzip der Reklame.

Neben diesen Problemen der allgemeinen Psychologie aber sind es ganz
besonders Fragen der Jndividual- und differentiellen Psychologie, mit denen
die angewandte Psychologie sich beschäftigt. Während die allgemeine Psycho¬
logie neben anwendbaren auch eine große Zahl von Ergebnissen aufweist, die
mehr oder weniger nur theoretisches Interesse haben, gibt es kaum ein indi-
vidual- oder differentiell-psychologisches Resultat, das nicht zu anderen Ge¬
bieten der Wissenschaft und des Lebens in Beziehung steht oder doch in
Beziehung gesetzt werden könnte. So ist es gekommen, daß „angewandte"
Psychologie gewöhnlich mit der Jndividual- und differentiellen Psychologie
geradezu identifiziert wird, und daß diese beiden Teilgebiete der Psychologie
meist stillschweigend der angewandten zugerechnet werden, (so rechnet man z. B.
auch die Tierpsychologie gewöhnlich mit zur angewandten Psychologie) obwohl
es auch hier natürlich Fragen gibt, die zunächst wenigstens mehr theoretischer
Art sind.

Die beiden Hauptmethoden der Jndividual-Psychologie sind die Psycho-
graphie und die Test-Prüfung. Die Psychographie. deren Ziel die möglichst


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[0293] Angewandte Psychologie Unterschiede der Geschlechter (z, B. Lipmann, Psychische Geschlechtsunterschiede 1916), die Psychologie der Primitiven (z. B. Thurnwald, Ethnopsychologische Studien an Südseevölkern, 1913), der Geisteskranken (z. B. Gregor, Leitfaden der experimentellen Psychopathologie, 1910), der Berufe (z. B. Lipmann, Zur psychologischen Charakteristik der mittleren Berufs, Zeitschrift für angewandte Psychologie 1916) bereichert wurde. Mit dieser Einleitung, welche die Teilgebiete der theoretischen Psychologie behandeln sollte, aber doch schon mehrfach auf die Gebiete der angewandten Psychologie abschweifte, haben wir gleichzeitig auch die Unterabteilungen dieser letzteren aufgezählt. Auch in der angewandten Psychologie haben wir es sowohl mit allgemein-psychologischen Fragen wie auch mit individuell- und differentiell- psychologischen zu tun. Um zunächst einige Themata der allgemeinen angewandten Psychologie aufzuzählen, so hätten wir neben vielen andern z. B. die Gesetzmäßigkeiten des Lernens, der Aufmerksamkeit, der Übung und Ermüdung zu erwähnen, die vielfache Anwendungen auf Probleme des Unterrichts und der Schulorganisation gestatten. Es zeigte sich z. B., daß es im allgemeinen ökonomischer ist, einen Stoff von gewisser Lange „im Ganzen" zu lernen als ihn in Abschnitte zu teilen und jeden Abschnitt besonders einzuprägen; die Untersuchungen über die Ermüdungswirkung verschiedener Unterrichtsfächer führen zu einem psychologisch fundierten Aufbau des Stundenplanes usw. Die Theorie der Suggestion findet ihre Anwendung in der Psychotherapie, die Psychologie des Gedächtnisses und der Aussage fordert Berücksichtigung beim Zeugenverhör, die Lehre von den latenten Nachwirkungen interessebetonter Erlebnisse beim Verhör und für die Überführung eines Angeklagten, Eigenschaften des Gedächtnisses und der Auf¬ merksamkeit bilden das Wirkungsprinzip der Reklame. Neben diesen Problemen der allgemeinen Psychologie aber sind es ganz besonders Fragen der Jndividual- und differentiellen Psychologie, mit denen die angewandte Psychologie sich beschäftigt. Während die allgemeine Psycho¬ logie neben anwendbaren auch eine große Zahl von Ergebnissen aufweist, die mehr oder weniger nur theoretisches Interesse haben, gibt es kaum ein indi- vidual- oder differentiell-psychologisches Resultat, das nicht zu anderen Ge¬ bieten der Wissenschaft und des Lebens in Beziehung steht oder doch in Beziehung gesetzt werden könnte. So ist es gekommen, daß „angewandte" Psychologie gewöhnlich mit der Jndividual- und differentiellen Psychologie geradezu identifiziert wird, und daß diese beiden Teilgebiete der Psychologie meist stillschweigend der angewandten zugerechnet werden, (so rechnet man z. B. auch die Tierpsychologie gewöhnlich mit zur angewandten Psychologie) obwohl es auch hier natürlich Fragen gibt, die zunächst wenigstens mehr theoretischer Art sind. Die beiden Hauptmethoden der Jndividual-Psychologie sind die Psycho- graphie und die Test-Prüfung. Die Psychographie. deren Ziel die möglichst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/293>, abgerufen am 23.05.2024.