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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Angewandte Psychologie

vollständige psychologische Beschreibung eines Individuums ist -- das erste Voll¬
ständigkeit anstrebende psychographische Schema wurde im Jahre 1909 durch das
Institut für angewandte Psychologie veröffentlicht --, findet ihre Anwendung
zunächst einmal in der Erziehung von normalen und besonders von patho¬
logischen Kindern in der Form von "Personalienbogen", "Jndividualitäts-
listen" und tgi. Psychographische Methoden sind ferner anzuwenden bei der
Erforschung der für die Berufswahl in Frage kommenden Eigenschaften (vergl.
Hylla, Zeitschrift für angewandte Psychologie 1916). Die Psychographie hat
sich endlich auch für die Charakteristik sowohl von hervorragenden Persönlich¬
keiten der Geschichte und Literaturgeschichte (z. B. E. T. A. Hoffmann und Hebbel)
als auch von Verbrechern gut bewährt.

Die Test-Prüfung andererseits ist das Hauptmittel zur Erkennung einer¬
seits der übernormalen, andererseits der unternormalen Leistungsfähigkeit. Durch
eine verhältnismäßig einfache Prüfungstechnik gelingt es z. B., diejenigen
Kinder auszusondern, deren Überweisung in eine Hilfsschule erforderlich .ist.
(Vgl. z. B. Bobertag, über Jntelligenzprüfungen, "Zeitschrift für angewandte
Psychologie" 1912; die für derartige Prüfungen erforderlichen Materialien
werden vom Institut für angewandte Psychologie herausgegeben und sind
bereits in Hunderten von Exemplaren im Gebrauch.) Auch in der Psychiatrie
wird naturgemäß von solchen Prüfungsaufgaben ein weitgehender Gebrauch ge¬
macht. Die Herausgabe eines Handbuches der psychologischen Hilfsmittel der
psychiatrischen Diagnostik wird im Institut für angewandte Psychologie vor¬
bereitet. Auf der anderen Seite wird man aber auch bei der Diagnose der
Begabten, deren "Aufstieg" ja eine Forderung des Tages ist, solche Prüfungen
mit Nutzen anwenden können.

Handelt es sich bei der Jndividual-Psychologie um Einzel-Untersuchungen,
so ist die differentielle Psychologie, die ja Gruppen von Individuen mitein¬
ander vergleicht, auf Massenbeobachtungen angewiesen. Ihre Hauptmethoden
sind also statistischer Art. Mit Hilfe statistischer Methoden versucht man, "den"
Verbrecher, "den" Musiker, den Unterschied zwischen Mann und Frau zu
charakterisieren und legt damit die Anwendung der Ergebnisse auf die Kriminalistik,
die Ästhetik, das pädagogische Koedukationsproblem nahe. Auch hier findet
übrigens eine der Psychographie ähnliche Forschungsweise Verwendung, indem
z. B. die Ethnopsychologie es versucht, das Seelenleben gewisser primitiver
Völker zu analysieren und zu beschreiben, wobei natürlich auch das psycho¬
logische Experiment mit herangezogen wird.

Faßt man den Begriff der angewandten Psychologie enger, und hält man
sich schärfer an die Verwertbarkeit in Wissenschaft und Praxis, so zeigt sich,
daß die Anwendung der Psychologie sich in zwei Richtungen bewegt. Wir
unterscheiden die Psychognostik, die praktisch verwertbaren Ergebnisse, und die
Psychotechnik, die Methoden liefert. Die Psychognostik fragt z. B., wie lernt
das Kind, welche Aussagefehler sind die häufigsten, wie unterscheiden sich der


Angewandte Psychologie

vollständige psychologische Beschreibung eines Individuums ist — das erste Voll¬
ständigkeit anstrebende psychographische Schema wurde im Jahre 1909 durch das
Institut für angewandte Psychologie veröffentlicht —, findet ihre Anwendung
zunächst einmal in der Erziehung von normalen und besonders von patho¬
logischen Kindern in der Form von „Personalienbogen", „Jndividualitäts-
listen" und tgi. Psychographische Methoden sind ferner anzuwenden bei der
Erforschung der für die Berufswahl in Frage kommenden Eigenschaften (vergl.
Hylla, Zeitschrift für angewandte Psychologie 1916). Die Psychographie hat
sich endlich auch für die Charakteristik sowohl von hervorragenden Persönlich¬
keiten der Geschichte und Literaturgeschichte (z. B. E. T. A. Hoffmann und Hebbel)
als auch von Verbrechern gut bewährt.

Die Test-Prüfung andererseits ist das Hauptmittel zur Erkennung einer¬
seits der übernormalen, andererseits der unternormalen Leistungsfähigkeit. Durch
eine verhältnismäßig einfache Prüfungstechnik gelingt es z. B., diejenigen
Kinder auszusondern, deren Überweisung in eine Hilfsschule erforderlich .ist.
(Vgl. z. B. Bobertag, über Jntelligenzprüfungen, „Zeitschrift für angewandte
Psychologie" 1912; die für derartige Prüfungen erforderlichen Materialien
werden vom Institut für angewandte Psychologie herausgegeben und sind
bereits in Hunderten von Exemplaren im Gebrauch.) Auch in der Psychiatrie
wird naturgemäß von solchen Prüfungsaufgaben ein weitgehender Gebrauch ge¬
macht. Die Herausgabe eines Handbuches der psychologischen Hilfsmittel der
psychiatrischen Diagnostik wird im Institut für angewandte Psychologie vor¬
bereitet. Auf der anderen Seite wird man aber auch bei der Diagnose der
Begabten, deren „Aufstieg" ja eine Forderung des Tages ist, solche Prüfungen
mit Nutzen anwenden können.

Handelt es sich bei der Jndividual-Psychologie um Einzel-Untersuchungen,
so ist die differentielle Psychologie, die ja Gruppen von Individuen mitein¬
ander vergleicht, auf Massenbeobachtungen angewiesen. Ihre Hauptmethoden
sind also statistischer Art. Mit Hilfe statistischer Methoden versucht man, „den"
Verbrecher, „den" Musiker, den Unterschied zwischen Mann und Frau zu
charakterisieren und legt damit die Anwendung der Ergebnisse auf die Kriminalistik,
die Ästhetik, das pädagogische Koedukationsproblem nahe. Auch hier findet
übrigens eine der Psychographie ähnliche Forschungsweise Verwendung, indem
z. B. die Ethnopsychologie es versucht, das Seelenleben gewisser primitiver
Völker zu analysieren und zu beschreiben, wobei natürlich auch das psycho¬
logische Experiment mit herangezogen wird.

Faßt man den Begriff der angewandten Psychologie enger, und hält man
sich schärfer an die Verwertbarkeit in Wissenschaft und Praxis, so zeigt sich,
daß die Anwendung der Psychologie sich in zwei Richtungen bewegt. Wir
unterscheiden die Psychognostik, die praktisch verwertbaren Ergebnisse, und die
Psychotechnik, die Methoden liefert. Die Psychognostik fragt z. B., wie lernt
das Kind, welche Aussagefehler sind die häufigsten, wie unterscheiden sich der


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[0294] Angewandte Psychologie vollständige psychologische Beschreibung eines Individuums ist — das erste Voll¬ ständigkeit anstrebende psychographische Schema wurde im Jahre 1909 durch das Institut für angewandte Psychologie veröffentlicht —, findet ihre Anwendung zunächst einmal in der Erziehung von normalen und besonders von patho¬ logischen Kindern in der Form von „Personalienbogen", „Jndividualitäts- listen" und tgi. Psychographische Methoden sind ferner anzuwenden bei der Erforschung der für die Berufswahl in Frage kommenden Eigenschaften (vergl. Hylla, Zeitschrift für angewandte Psychologie 1916). Die Psychographie hat sich endlich auch für die Charakteristik sowohl von hervorragenden Persönlich¬ keiten der Geschichte und Literaturgeschichte (z. B. E. T. A. Hoffmann und Hebbel) als auch von Verbrechern gut bewährt. Die Test-Prüfung andererseits ist das Hauptmittel zur Erkennung einer¬ seits der übernormalen, andererseits der unternormalen Leistungsfähigkeit. Durch eine verhältnismäßig einfache Prüfungstechnik gelingt es z. B., diejenigen Kinder auszusondern, deren Überweisung in eine Hilfsschule erforderlich .ist. (Vgl. z. B. Bobertag, über Jntelligenzprüfungen, „Zeitschrift für angewandte Psychologie" 1912; die für derartige Prüfungen erforderlichen Materialien werden vom Institut für angewandte Psychologie herausgegeben und sind bereits in Hunderten von Exemplaren im Gebrauch.) Auch in der Psychiatrie wird naturgemäß von solchen Prüfungsaufgaben ein weitgehender Gebrauch ge¬ macht. Die Herausgabe eines Handbuches der psychologischen Hilfsmittel der psychiatrischen Diagnostik wird im Institut für angewandte Psychologie vor¬ bereitet. Auf der anderen Seite wird man aber auch bei der Diagnose der Begabten, deren „Aufstieg" ja eine Forderung des Tages ist, solche Prüfungen mit Nutzen anwenden können. Handelt es sich bei der Jndividual-Psychologie um Einzel-Untersuchungen, so ist die differentielle Psychologie, die ja Gruppen von Individuen mitein¬ ander vergleicht, auf Massenbeobachtungen angewiesen. Ihre Hauptmethoden sind also statistischer Art. Mit Hilfe statistischer Methoden versucht man, „den" Verbrecher, „den" Musiker, den Unterschied zwischen Mann und Frau zu charakterisieren und legt damit die Anwendung der Ergebnisse auf die Kriminalistik, die Ästhetik, das pädagogische Koedukationsproblem nahe. Auch hier findet übrigens eine der Psychographie ähnliche Forschungsweise Verwendung, indem z. B. die Ethnopsychologie es versucht, das Seelenleben gewisser primitiver Völker zu analysieren und zu beschreiben, wobei natürlich auch das psycho¬ logische Experiment mit herangezogen wird. Faßt man den Begriff der angewandten Psychologie enger, und hält man sich schärfer an die Verwertbarkeit in Wissenschaft und Praxis, so zeigt sich, daß die Anwendung der Psychologie sich in zwei Richtungen bewegt. Wir unterscheiden die Psychognostik, die praktisch verwertbaren Ergebnisse, und die Psychotechnik, die Methoden liefert. Die Psychognostik fragt z. B., wie lernt das Kind, welche Aussagefehler sind die häufigsten, wie unterscheiden sich der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/294>, abgerufen am 16.06.2024.