Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Welt der Phänomene und der Fiktionen

philosophisches System steht und fällt mit seinem Wirklichkeitsbegrtffe. Der
Wirklichkeitsbegriff der Philosophie des Als-Ob kann meines Erachtens kein
anderer sein, als der des Phünomenalismus. Dieser Wirklichkeitsbegriff aber
muß fallen. Und mit ihm eine besondere "Philosophie" des Als-Ob. Das
methodische Hilfsmittel der Als-Ob-Betrachtung in der Philosophie dagegen
darf -- ja muß sogar -- bestehen bleiben. Diese letztere Erkenntnis den
Philosophen aller Richtungen -- Realisten und Idealisten -- energisch zum
Bewußtsein gebracht zu haben, ist das bleibende, große Verdienst des Vai-
hingerschen Werkes.

Warum aber muß der Wirklichkeitsbegriff des Phänomenalismus fallen?
Weil es unerlaubt ist, eine Welt der Phänomen" zwischen Bewußtsein und
Wirklichkeit aufzubauen. Zwischen meinem Baumwahrnehmen und dem wirk¬
lichen Baum drängt sich kein "Baum als Erscheinung". Nichts zwingt uns,
anzunehmen, daß unser Wahrnehmen, Erkennen usw. nicht an die wirklichen
Gegenstände "herankönne". Die Schlacken des Idealismus hasten dem
Phänomenalsten noch an. Er macht sich von ihnen frei, wenn er einsieht, daß
Baumwahrnehmen und Baumwahrnehmen (Inhalt und Funktion des Be¬
wußtseins) nicht verschiedene Realitäten sind, sondern lediglich Unterschiede der
Betrachtungsweise. Vergleiche ich das Baumwahrnehmen mit dem Baumerinnern,
Baumeinbilden, Baumdenken, so fasse ich es als Baumwahrnehmen. Vergleiche
ich dagegen das Baumwahrnehmen mit dem Bergwahrnehmen, Stuhlwahr¬
nehmen usw., so lerne ich es als Baumwahrnehmen kennen. Es ist aber ein
Unterschied, ob eine und dieselbe Wirklichkeit sich auf zwei verschiedene Weisen
betrachten läßt, oder ob es sich um zwei realiter verschiedene Wirklichkeiten
handelt. Bewußtseinsfunktionen und Bewußtseinsinhalte sind ein und dieselbe
(psychische) Realität und es läßt sich aus den Inhalten nicht eine neue
phünomenologische Realität herausklauben, die sich zwischen Bewußtsein und
Wirklichkeit schöbe. Für den kritischen Realismus kann die Philosophie nicht
ein Inbegriff von Fiktionen, sondern sie muß ein Inbegriff wahrer Erkenntnisse
von wirklichen Dingen sein.




Die Welt der Phänomene und der Fiktionen

philosophisches System steht und fällt mit seinem Wirklichkeitsbegrtffe. Der
Wirklichkeitsbegriff der Philosophie des Als-Ob kann meines Erachtens kein
anderer sein, als der des Phünomenalismus. Dieser Wirklichkeitsbegriff aber
muß fallen. Und mit ihm eine besondere „Philosophie" des Als-Ob. Das
methodische Hilfsmittel der Als-Ob-Betrachtung in der Philosophie dagegen
darf — ja muß sogar — bestehen bleiben. Diese letztere Erkenntnis den
Philosophen aller Richtungen — Realisten und Idealisten — energisch zum
Bewußtsein gebracht zu haben, ist das bleibende, große Verdienst des Vai-
hingerschen Werkes.

Warum aber muß der Wirklichkeitsbegriff des Phänomenalismus fallen?
Weil es unerlaubt ist, eine Welt der Phänomen« zwischen Bewußtsein und
Wirklichkeit aufzubauen. Zwischen meinem Baumwahrnehmen und dem wirk¬
lichen Baum drängt sich kein „Baum als Erscheinung". Nichts zwingt uns,
anzunehmen, daß unser Wahrnehmen, Erkennen usw. nicht an die wirklichen
Gegenstände „herankönne". Die Schlacken des Idealismus hasten dem
Phänomenalsten noch an. Er macht sich von ihnen frei, wenn er einsieht, daß
Baumwahrnehmen und Baumwahrnehmen (Inhalt und Funktion des Be¬
wußtseins) nicht verschiedene Realitäten sind, sondern lediglich Unterschiede der
Betrachtungsweise. Vergleiche ich das Baumwahrnehmen mit dem Baumerinnern,
Baumeinbilden, Baumdenken, so fasse ich es als Baumwahrnehmen. Vergleiche
ich dagegen das Baumwahrnehmen mit dem Bergwahrnehmen, Stuhlwahr¬
nehmen usw., so lerne ich es als Baumwahrnehmen kennen. Es ist aber ein
Unterschied, ob eine und dieselbe Wirklichkeit sich auf zwei verschiedene Weisen
betrachten läßt, oder ob es sich um zwei realiter verschiedene Wirklichkeiten
handelt. Bewußtseinsfunktionen und Bewußtseinsinhalte sind ein und dieselbe
(psychische) Realität und es läßt sich aus den Inhalten nicht eine neue
phünomenologische Realität herausklauben, die sich zwischen Bewußtsein und
Wirklichkeit schöbe. Für den kritischen Realismus kann die Philosophie nicht
ein Inbegriff von Fiktionen, sondern sie muß ein Inbegriff wahrer Erkenntnisse
von wirklichen Dingen sein.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331300"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Welt der Phänomene und der Fiktionen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1160" prev="#ID_1159"> philosophisches System steht und fällt mit seinem Wirklichkeitsbegrtffe. Der<lb/>
Wirklichkeitsbegriff der Philosophie des Als-Ob kann meines Erachtens kein<lb/>
anderer sein, als der des Phünomenalismus. Dieser Wirklichkeitsbegriff aber<lb/>
muß fallen. Und mit ihm eine besondere &#x201E;Philosophie" des Als-Ob. Das<lb/>
methodische Hilfsmittel der Als-Ob-Betrachtung in der Philosophie dagegen<lb/>
darf &#x2014; ja muß sogar &#x2014; bestehen bleiben. Diese letztere Erkenntnis den<lb/>
Philosophen aller Richtungen &#x2014; Realisten und Idealisten &#x2014; energisch zum<lb/>
Bewußtsein gebracht zu haben, ist das bleibende, große Verdienst des Vai-<lb/>
hingerschen Werkes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1161"> Warum aber muß der Wirklichkeitsbegriff des Phänomenalismus fallen?<lb/>
Weil es unerlaubt ist, eine Welt der Phänomen« zwischen Bewußtsein und<lb/>
Wirklichkeit aufzubauen. Zwischen meinem Baumwahrnehmen und dem wirk¬<lb/>
lichen Baum drängt sich kein &#x201E;Baum als Erscheinung". Nichts zwingt uns,<lb/>
anzunehmen, daß unser Wahrnehmen, Erkennen usw. nicht an die wirklichen<lb/>
Gegenstände &#x201E;herankönne". Die Schlacken des Idealismus hasten dem<lb/>
Phänomenalsten noch an. Er macht sich von ihnen frei, wenn er einsieht, daß<lb/>
Baumwahrnehmen und Baumwahrnehmen (Inhalt und Funktion des Be¬<lb/>
wußtseins) nicht verschiedene Realitäten sind, sondern lediglich Unterschiede der<lb/>
Betrachtungsweise. Vergleiche ich das Baumwahrnehmen mit dem Baumerinnern,<lb/>
Baumeinbilden, Baumdenken, so fasse ich es als Baumwahrnehmen. Vergleiche<lb/>
ich dagegen das Baumwahrnehmen mit dem Bergwahrnehmen, Stuhlwahr¬<lb/>
nehmen usw., so lerne ich es als Baumwahrnehmen kennen. Es ist aber ein<lb/>
Unterschied, ob eine und dieselbe Wirklichkeit sich auf zwei verschiedene Weisen<lb/>
betrachten läßt, oder ob es sich um zwei realiter verschiedene Wirklichkeiten<lb/>
handelt. Bewußtseinsfunktionen und Bewußtseinsinhalte sind ein und dieselbe<lb/>
(psychische) Realität und es läßt sich aus den Inhalten nicht eine neue<lb/>
phünomenologische Realität herausklauben, die sich zwischen Bewußtsein und<lb/>
Wirklichkeit schöbe. Für den kritischen Realismus kann die Philosophie nicht<lb/>
ein Inbegriff von Fiktionen, sondern sie muß ein Inbegriff wahrer Erkenntnisse<lb/>
von wirklichen Dingen sein.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0328] Die Welt der Phänomene und der Fiktionen philosophisches System steht und fällt mit seinem Wirklichkeitsbegrtffe. Der Wirklichkeitsbegriff der Philosophie des Als-Ob kann meines Erachtens kein anderer sein, als der des Phünomenalismus. Dieser Wirklichkeitsbegriff aber muß fallen. Und mit ihm eine besondere „Philosophie" des Als-Ob. Das methodische Hilfsmittel der Als-Ob-Betrachtung in der Philosophie dagegen darf — ja muß sogar — bestehen bleiben. Diese letztere Erkenntnis den Philosophen aller Richtungen — Realisten und Idealisten — energisch zum Bewußtsein gebracht zu haben, ist das bleibende, große Verdienst des Vai- hingerschen Werkes. Warum aber muß der Wirklichkeitsbegriff des Phänomenalismus fallen? Weil es unerlaubt ist, eine Welt der Phänomen« zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit aufzubauen. Zwischen meinem Baumwahrnehmen und dem wirk¬ lichen Baum drängt sich kein „Baum als Erscheinung". Nichts zwingt uns, anzunehmen, daß unser Wahrnehmen, Erkennen usw. nicht an die wirklichen Gegenstände „herankönne". Die Schlacken des Idealismus hasten dem Phänomenalsten noch an. Er macht sich von ihnen frei, wenn er einsieht, daß Baumwahrnehmen und Baumwahrnehmen (Inhalt und Funktion des Be¬ wußtseins) nicht verschiedene Realitäten sind, sondern lediglich Unterschiede der Betrachtungsweise. Vergleiche ich das Baumwahrnehmen mit dem Baumerinnern, Baumeinbilden, Baumdenken, so fasse ich es als Baumwahrnehmen. Vergleiche ich dagegen das Baumwahrnehmen mit dem Bergwahrnehmen, Stuhlwahr¬ nehmen usw., so lerne ich es als Baumwahrnehmen kennen. Es ist aber ein Unterschied, ob eine und dieselbe Wirklichkeit sich auf zwei verschiedene Weisen betrachten läßt, oder ob es sich um zwei realiter verschiedene Wirklichkeiten handelt. Bewußtseinsfunktionen und Bewußtseinsinhalte sind ein und dieselbe (psychische) Realität und es läßt sich aus den Inhalten nicht eine neue phünomenologische Realität herausklauben, die sich zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit schöbe. Für den kritischen Realismus kann die Philosophie nicht ein Inbegriff von Fiktionen, sondern sie muß ein Inbegriff wahrer Erkenntnisse von wirklichen Dingen sein.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/328
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/328>, abgerufen am 13.05.2024.