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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Uritik

den deutschen Seehandel zu vernichten. Andererseits erinnern auch bei Reventlow
manche falsche Voraussagen, daß ein Publizist und kein Historiker das Buch
geschrieben hat. Den Zusammenschluß von Rumänien, Serbien und Griechen¬
land nach dem zweiten Balkankrieg erklärte Reventlow 1914 für uns günstig,
weil er meinte, die durch unser Eintreten für den Bukarester Frieden für uns
gewonnenen, ersteren beiden Staaten würden einen für uns vorteilhaften Einfluß
aus Serbien ausüben. Er fügte aber hinzu, die Verhältnisse ragten so stark
in die Gegenwart hinein, daß sie sich nur schwer beurteilen ließen. Kiderlcns
Marokkopolitik scheint auch Bülow zu verwerfen und ebenso wie Reventlow der
Ansicht zu sein, daß der Abfall Italiens nicht unbedingt eintreten mußte.
Freilich deutet er in beiden Punkten nur vorsichtig an und bemerkt bezüglich
Italiens, er wolle unerörtert lassen, ob und auf welche Weise beim Beginn des
Krieges der Abfall Italiens vom Dreibund hätte verhindert werden können,
während Reventlow die Schuld gerade auf Bülow zurückführt, der s. Zt. die
Politik der kleinen Geschenke zu wenig betrieben habe. Fürst Bülow legt dar,
daß seine Politik mit Rücksicht auf den Flottenbau die einzig mögliche gewesen
wäre: "Wir durften uns weder von einer grundsätzlich gegen England gerich¬
teten Politik das Gesetz unseres Eutschließens und Handelns vorschreiben lassen,
noch durften wir uns um der englischen Freundschaft willen in englische Ab¬
hängigkeit begeben. Beide Gefahren waren gegeben und rückten mehr als
einmal in bedenkliche Nähe." Auch sucht er, wie wir es heute noch so oft
lesen, nachzuweisen, daß es zwischen uns und den anderen europäischen Gro߬
mächten eigentlich keine "wirklichen" Gegensätze gäbe. Leider zeigt der Krieg,
daß diese "in Wirklichkeit" anderer Ansicht waren und sind. Es sei hier auch
an König Eduards Wort erinnert: "stiere are no frictions betwosn us,
lkere exi8t8 ont^ rivalr^."

Onckens Thema lautet etwas anders und dementsprechend steht nicht die
deutsche Politik im Mittelpunkt, sondern es mußte für die Vorgeschichte des
Krieges die Politik der sämtlichen in erster Linie ym Krieg beteiligten Mächte
gleichmäßig in ihren Zusammenhängen untersucht und dargestellt werden und
sich dann von selbst ergeben, daß die Politik derjenigen Mächte in den Vorder¬
grund rückte, welche mehr oder minder konsequent auf den Krieg hingezielt
und damit am stärksten an der Vorgeschichte des Krieges gearbeitet hatten.
Bei Oncken ist im Gegensatz zu den beiden anderen Autoren die Idee scharf
herausgearbeitet, daß im letzten Stadium der Einkreisungspolitik nicht mehr
die englischen Staatsmänner den sichtbar führenden Anteil hatten, vielmehr der
Panslawismus um anderer Ziele willen als die englische Weltpolitik als Erbe
König Eduards dessen Geschäfte übernommen hatte.

In der Darstellung der Grundzüge unserer politischen Geschichte von 1914
und. was fast gleichbedeutend ist, unseres Verhältnisses zu England weichen
die drei Autoren aber nur unwesentlich voneinander ab. Sie stimmen in
der Ansicht überein, die Reventlow in den Worten zusammenfaßt: "Durch die


Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Uritik

den deutschen Seehandel zu vernichten. Andererseits erinnern auch bei Reventlow
manche falsche Voraussagen, daß ein Publizist und kein Historiker das Buch
geschrieben hat. Den Zusammenschluß von Rumänien, Serbien und Griechen¬
land nach dem zweiten Balkankrieg erklärte Reventlow 1914 für uns günstig,
weil er meinte, die durch unser Eintreten für den Bukarester Frieden für uns
gewonnenen, ersteren beiden Staaten würden einen für uns vorteilhaften Einfluß
aus Serbien ausüben. Er fügte aber hinzu, die Verhältnisse ragten so stark
in die Gegenwart hinein, daß sie sich nur schwer beurteilen ließen. Kiderlcns
Marokkopolitik scheint auch Bülow zu verwerfen und ebenso wie Reventlow der
Ansicht zu sein, daß der Abfall Italiens nicht unbedingt eintreten mußte.
Freilich deutet er in beiden Punkten nur vorsichtig an und bemerkt bezüglich
Italiens, er wolle unerörtert lassen, ob und auf welche Weise beim Beginn des
Krieges der Abfall Italiens vom Dreibund hätte verhindert werden können,
während Reventlow die Schuld gerade auf Bülow zurückführt, der s. Zt. die
Politik der kleinen Geschenke zu wenig betrieben habe. Fürst Bülow legt dar,
daß seine Politik mit Rücksicht auf den Flottenbau die einzig mögliche gewesen
wäre: „Wir durften uns weder von einer grundsätzlich gegen England gerich¬
teten Politik das Gesetz unseres Eutschließens und Handelns vorschreiben lassen,
noch durften wir uns um der englischen Freundschaft willen in englische Ab¬
hängigkeit begeben. Beide Gefahren waren gegeben und rückten mehr als
einmal in bedenkliche Nähe." Auch sucht er, wie wir es heute noch so oft
lesen, nachzuweisen, daß es zwischen uns und den anderen europäischen Gro߬
mächten eigentlich keine „wirklichen" Gegensätze gäbe. Leider zeigt der Krieg,
daß diese „in Wirklichkeit" anderer Ansicht waren und sind. Es sei hier auch
an König Eduards Wort erinnert: „stiere are no frictions betwosn us,
lkere exi8t8 ont^ rivalr^."

Onckens Thema lautet etwas anders und dementsprechend steht nicht die
deutsche Politik im Mittelpunkt, sondern es mußte für die Vorgeschichte des
Krieges die Politik der sämtlichen in erster Linie ym Krieg beteiligten Mächte
gleichmäßig in ihren Zusammenhängen untersucht und dargestellt werden und
sich dann von selbst ergeben, daß die Politik derjenigen Mächte in den Vorder¬
grund rückte, welche mehr oder minder konsequent auf den Krieg hingezielt
und damit am stärksten an der Vorgeschichte des Krieges gearbeitet hatten.
Bei Oncken ist im Gegensatz zu den beiden anderen Autoren die Idee scharf
herausgearbeitet, daß im letzten Stadium der Einkreisungspolitik nicht mehr
die englischen Staatsmänner den sichtbar führenden Anteil hatten, vielmehr der
Panslawismus um anderer Ziele willen als die englische Weltpolitik als Erbe
König Eduards dessen Geschäfte übernommen hatte.

In der Darstellung der Grundzüge unserer politischen Geschichte von 1914
und. was fast gleichbedeutend ist, unseres Verhältnisses zu England weichen
die drei Autoren aber nur unwesentlich voneinander ab. Sie stimmen in
der Ansicht überein, die Reventlow in den Worten zusammenfaßt: „Durch die


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[0387] Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Uritik den deutschen Seehandel zu vernichten. Andererseits erinnern auch bei Reventlow manche falsche Voraussagen, daß ein Publizist und kein Historiker das Buch geschrieben hat. Den Zusammenschluß von Rumänien, Serbien und Griechen¬ land nach dem zweiten Balkankrieg erklärte Reventlow 1914 für uns günstig, weil er meinte, die durch unser Eintreten für den Bukarester Frieden für uns gewonnenen, ersteren beiden Staaten würden einen für uns vorteilhaften Einfluß aus Serbien ausüben. Er fügte aber hinzu, die Verhältnisse ragten so stark in die Gegenwart hinein, daß sie sich nur schwer beurteilen ließen. Kiderlcns Marokkopolitik scheint auch Bülow zu verwerfen und ebenso wie Reventlow der Ansicht zu sein, daß der Abfall Italiens nicht unbedingt eintreten mußte. Freilich deutet er in beiden Punkten nur vorsichtig an und bemerkt bezüglich Italiens, er wolle unerörtert lassen, ob und auf welche Weise beim Beginn des Krieges der Abfall Italiens vom Dreibund hätte verhindert werden können, während Reventlow die Schuld gerade auf Bülow zurückführt, der s. Zt. die Politik der kleinen Geschenke zu wenig betrieben habe. Fürst Bülow legt dar, daß seine Politik mit Rücksicht auf den Flottenbau die einzig mögliche gewesen wäre: „Wir durften uns weder von einer grundsätzlich gegen England gerich¬ teten Politik das Gesetz unseres Eutschließens und Handelns vorschreiben lassen, noch durften wir uns um der englischen Freundschaft willen in englische Ab¬ hängigkeit begeben. Beide Gefahren waren gegeben und rückten mehr als einmal in bedenkliche Nähe." Auch sucht er, wie wir es heute noch so oft lesen, nachzuweisen, daß es zwischen uns und den anderen europäischen Gro߬ mächten eigentlich keine „wirklichen" Gegensätze gäbe. Leider zeigt der Krieg, daß diese „in Wirklichkeit" anderer Ansicht waren und sind. Es sei hier auch an König Eduards Wort erinnert: „stiere are no frictions betwosn us, lkere exi8t8 ont^ rivalr^." Onckens Thema lautet etwas anders und dementsprechend steht nicht die deutsche Politik im Mittelpunkt, sondern es mußte für die Vorgeschichte des Krieges die Politik der sämtlichen in erster Linie ym Krieg beteiligten Mächte gleichmäßig in ihren Zusammenhängen untersucht und dargestellt werden und sich dann von selbst ergeben, daß die Politik derjenigen Mächte in den Vorder¬ grund rückte, welche mehr oder minder konsequent auf den Krieg hingezielt und damit am stärksten an der Vorgeschichte des Krieges gearbeitet hatten. Bei Oncken ist im Gegensatz zu den beiden anderen Autoren die Idee scharf herausgearbeitet, daß im letzten Stadium der Einkreisungspolitik nicht mehr die englischen Staatsmänner den sichtbar führenden Anteil hatten, vielmehr der Panslawismus um anderer Ziele willen als die englische Weltpolitik als Erbe König Eduards dessen Geschäfte übernommen hatte. In der Darstellung der Grundzüge unserer politischen Geschichte von 1914 und. was fast gleichbedeutend ist, unseres Verhältnisses zu England weichen die drei Autoren aber nur unwesentlich voneinander ab. Sie stimmen in der Ansicht überein, die Reventlow in den Worten zusammenfaßt: „Durch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/387>, abgerufen am 06.06.2024.