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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Rritik

ganze Geschichte dieser 26 Jahre zieht sich die deutsche Flotte teils als Frage,
teils als Stein des Anstoßes, teils als Ansporn, teils als Hindernis hindurch.
Es läßt sich kaum ein Ereignis politischer Natur innerhalb dieses Zeitraumes
nachweisen, das nicht irgendwie mit der deutschen Flotte oder dem Fehlen
einer solchen direkt oder indirekt in ursächlichen Zusammenhang stände."
Sie sind einig in dem Urteil über die gegen uns gerichtete Politik
Englands, daß eine Verständigung mit England nur möglich war, wenn
wir auf unsere Stellung als gleichberechtigte Macht verzichteten und uns
zum Werkzeug englischer Pläne machten, stellen aber ebenfalls einstimmig
fest, daß England die Ziele seiner Einkreisung auch auf friedlichem Wege
erreichen konnte und vermutlich zeitweise auch wollte, besonders betont
Reventlow die bedingte Friedensliebe Eduards. Neuerdings behauptet
Hans Delbrück im Oktoberheft der "Preußischen Jahrbücher", es sei nicht ganz
klar, ob wirklich England als der eigentliche Anstifter des Krieges anzusehen sei.
Oncken drücke sich zum wenigsten zweifelhaft darüber aus und selbst Graf
Reventlow habe seine These "England hat seit Jahren die Welt organisiert" usw.
nicht aufrecht erhalten, sondern sie nachträglich durch den Zusatz "Krieg oder
deutsches Nachgeben" eingeschränkt oder vielmehr ausgehoben, da Krieg oder
Nachgeben ja schließlich der Inhalt jeder Politik sei und alles darauf ankomme,
was und worin nachgegeben werden, sollte. Da Delbrück als Beweis für seine
Behauptung Valentins oben erwähntes Zitat, von dem Delbrück ja nicht ahnen
konnte, daß es inkorrekt ist, und eine Bemerkung aus Reventlows Erwiderung an
Valentin anführt, ist wohl anzunehmen, daß er nur Valentins Pamphlet, nicht
aber das Buch selbst vorgenommen hat. In diesem teilt Reventlow zur Genüge mit,
was und worin nachgegeben werden sollte und Delbrück hätte im Zusammen¬
hang sehen können, daß Reventlow seine These keineswegs aufgehoben hat;
denn Reventlow hat stets erklärt, daß unter Bedingungen, die das Deutsche
Reich herabwürdigten, eine Einigung mit England zu haben gewesen sei.
Ebensowenig spricht sich Oncken über Englands Urheberschaft am Kriege
zweifelhaft aus, er sagt ausdrücklich: "Seit 1911 Hütten die englischen Staats¬
männer nicht mehr den sichtbar führenden Anteil gehabt."

Das Werk des Heidelberger Universitätsprofessors ist, wie zu erwarten
war, weit mehr über den Dingen stehend geschrieben, als es dem Staatsmann
und den Politiker möglich war, desto schwerer fällt es ins Gewicht, daß gerade
er, der, soviel bekannt, auch nicht zu den Altdeutschen zu rechnen ist, als Er¬
gebnis feiner Forschung weit schärfer als Reventlow die Richtigkeit dessen be¬
jahen muß, was Valentin "die Legende von der englischen Verschwörerkonsequenz"
nennt. Oncken schreibt in der neuen Auflage S. 551/52: "Fortan (nach den
Bündnisversuchen Chamberlains um die Jahrhundertwende) entwickelte sich aus
dem Vorspiel der deutsch-englischen Bündnisverhandlungen das Hauptspiel einer
gegen Deutschland gerichteten Bttndnispolitik, deren Verlauf im einzelnen nicht
von vornherein feststehen konnte . . . Wer heute mit dem Auge des Historikers


Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Rritik

ganze Geschichte dieser 26 Jahre zieht sich die deutsche Flotte teils als Frage,
teils als Stein des Anstoßes, teils als Ansporn, teils als Hindernis hindurch.
Es läßt sich kaum ein Ereignis politischer Natur innerhalb dieses Zeitraumes
nachweisen, das nicht irgendwie mit der deutschen Flotte oder dem Fehlen
einer solchen direkt oder indirekt in ursächlichen Zusammenhang stände."
Sie sind einig in dem Urteil über die gegen uns gerichtete Politik
Englands, daß eine Verständigung mit England nur möglich war, wenn
wir auf unsere Stellung als gleichberechtigte Macht verzichteten und uns
zum Werkzeug englischer Pläne machten, stellen aber ebenfalls einstimmig
fest, daß England die Ziele seiner Einkreisung auch auf friedlichem Wege
erreichen konnte und vermutlich zeitweise auch wollte, besonders betont
Reventlow die bedingte Friedensliebe Eduards. Neuerdings behauptet
Hans Delbrück im Oktoberheft der „Preußischen Jahrbücher", es sei nicht ganz
klar, ob wirklich England als der eigentliche Anstifter des Krieges anzusehen sei.
Oncken drücke sich zum wenigsten zweifelhaft darüber aus und selbst Graf
Reventlow habe seine These „England hat seit Jahren die Welt organisiert" usw.
nicht aufrecht erhalten, sondern sie nachträglich durch den Zusatz „Krieg oder
deutsches Nachgeben" eingeschränkt oder vielmehr ausgehoben, da Krieg oder
Nachgeben ja schließlich der Inhalt jeder Politik sei und alles darauf ankomme,
was und worin nachgegeben werden, sollte. Da Delbrück als Beweis für seine
Behauptung Valentins oben erwähntes Zitat, von dem Delbrück ja nicht ahnen
konnte, daß es inkorrekt ist, und eine Bemerkung aus Reventlows Erwiderung an
Valentin anführt, ist wohl anzunehmen, daß er nur Valentins Pamphlet, nicht
aber das Buch selbst vorgenommen hat. In diesem teilt Reventlow zur Genüge mit,
was und worin nachgegeben werden sollte und Delbrück hätte im Zusammen¬
hang sehen können, daß Reventlow seine These keineswegs aufgehoben hat;
denn Reventlow hat stets erklärt, daß unter Bedingungen, die das Deutsche
Reich herabwürdigten, eine Einigung mit England zu haben gewesen sei.
Ebensowenig spricht sich Oncken über Englands Urheberschaft am Kriege
zweifelhaft aus, er sagt ausdrücklich: „Seit 1911 Hütten die englischen Staats¬
männer nicht mehr den sichtbar führenden Anteil gehabt."

Das Werk des Heidelberger Universitätsprofessors ist, wie zu erwarten
war, weit mehr über den Dingen stehend geschrieben, als es dem Staatsmann
und den Politiker möglich war, desto schwerer fällt es ins Gewicht, daß gerade
er, der, soviel bekannt, auch nicht zu den Altdeutschen zu rechnen ist, als Er¬
gebnis feiner Forschung weit schärfer als Reventlow die Richtigkeit dessen be¬
jahen muß, was Valentin „die Legende von der englischen Verschwörerkonsequenz"
nennt. Oncken schreibt in der neuen Auflage S. 551/52: „Fortan (nach den
Bündnisversuchen Chamberlains um die Jahrhundertwende) entwickelte sich aus
dem Vorspiel der deutsch-englischen Bündnisverhandlungen das Hauptspiel einer
gegen Deutschland gerichteten Bttndnispolitik, deren Verlauf im einzelnen nicht
von vornherein feststehen konnte . . . Wer heute mit dem Auge des Historikers


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[0388] Geschichtschreibung neuester Zeit und ihre Rritik ganze Geschichte dieser 26 Jahre zieht sich die deutsche Flotte teils als Frage, teils als Stein des Anstoßes, teils als Ansporn, teils als Hindernis hindurch. Es läßt sich kaum ein Ereignis politischer Natur innerhalb dieses Zeitraumes nachweisen, das nicht irgendwie mit der deutschen Flotte oder dem Fehlen einer solchen direkt oder indirekt in ursächlichen Zusammenhang stände." Sie sind einig in dem Urteil über die gegen uns gerichtete Politik Englands, daß eine Verständigung mit England nur möglich war, wenn wir auf unsere Stellung als gleichberechtigte Macht verzichteten und uns zum Werkzeug englischer Pläne machten, stellen aber ebenfalls einstimmig fest, daß England die Ziele seiner Einkreisung auch auf friedlichem Wege erreichen konnte und vermutlich zeitweise auch wollte, besonders betont Reventlow die bedingte Friedensliebe Eduards. Neuerdings behauptet Hans Delbrück im Oktoberheft der „Preußischen Jahrbücher", es sei nicht ganz klar, ob wirklich England als der eigentliche Anstifter des Krieges anzusehen sei. Oncken drücke sich zum wenigsten zweifelhaft darüber aus und selbst Graf Reventlow habe seine These „England hat seit Jahren die Welt organisiert" usw. nicht aufrecht erhalten, sondern sie nachträglich durch den Zusatz „Krieg oder deutsches Nachgeben" eingeschränkt oder vielmehr ausgehoben, da Krieg oder Nachgeben ja schließlich der Inhalt jeder Politik sei und alles darauf ankomme, was und worin nachgegeben werden, sollte. Da Delbrück als Beweis für seine Behauptung Valentins oben erwähntes Zitat, von dem Delbrück ja nicht ahnen konnte, daß es inkorrekt ist, und eine Bemerkung aus Reventlows Erwiderung an Valentin anführt, ist wohl anzunehmen, daß er nur Valentins Pamphlet, nicht aber das Buch selbst vorgenommen hat. In diesem teilt Reventlow zur Genüge mit, was und worin nachgegeben werden sollte und Delbrück hätte im Zusammen¬ hang sehen können, daß Reventlow seine These keineswegs aufgehoben hat; denn Reventlow hat stets erklärt, daß unter Bedingungen, die das Deutsche Reich herabwürdigten, eine Einigung mit England zu haben gewesen sei. Ebensowenig spricht sich Oncken über Englands Urheberschaft am Kriege zweifelhaft aus, er sagt ausdrücklich: „Seit 1911 Hütten die englischen Staats¬ männer nicht mehr den sichtbar führenden Anteil gehabt." Das Werk des Heidelberger Universitätsprofessors ist, wie zu erwarten war, weit mehr über den Dingen stehend geschrieben, als es dem Staatsmann und den Politiker möglich war, desto schwerer fällt es ins Gewicht, daß gerade er, der, soviel bekannt, auch nicht zu den Altdeutschen zu rechnen ist, als Er¬ gebnis feiner Forschung weit schärfer als Reventlow die Richtigkeit dessen be¬ jahen muß, was Valentin „die Legende von der englischen Verschwörerkonsequenz" nennt. Oncken schreibt in der neuen Auflage S. 551/52: „Fortan (nach den Bündnisversuchen Chamberlains um die Jahrhundertwende) entwickelte sich aus dem Vorspiel der deutsch-englischen Bündnisverhandlungen das Hauptspiel einer gegen Deutschland gerichteten Bttndnispolitik, deren Verlauf im einzelnen nicht von vornherein feststehen konnte . . . Wer heute mit dem Auge des Historikers

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/388>, abgerufen am 13.05.2024.