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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Veffentlicher Geist

ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten unsere realen Institutionen reformieren,
ohne unsere Ideale umzustellen. Es ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten
bei diesen kümmerlichen Idealen und den kümmerlichen Gesellschaftsformen in
denen sie sich ausgeprägt haben, verharren und gleichzeitig die Angelegenheiten
des ganzen Volkes als unsere eigenen übernehmen, unsere eigenen so führen,
daß sie an denen des ganzen Volkes eine Teilschaft beanspruchen können. Es
ist der größte Irrtum zu glauben, man könne eine Sache betreiben ohne ihren
Geist zu besitzen.

Öffentlicher Geist ist Geist des Mitlebens mit jedem öffentlichen Vorgang
und der Verantwortung für ihn, die eine tätige Verantwortung ist und zum
Handeln drängt. Öffentlicher Geist ist das lebendige Gefühl für den Zu¬
sammenhang jeder einzelnen Tätigkeit mit dem Ganzen des nationalen Vor¬
ganges und für die offenen Bezüge zwischen allen diesen Tätigkeiten. Ich
bespreche ihn hier, weil die Umstände es mit sich bringen, mit Rücksicht auf
seine politische Facette, die freilich die wichtigste ist, denn wir haben keine gute
Politik, weil wir keinen öffentlichen Geist haben. Ich könnte ohne große Mühe
nachweisen, daß wir kein gutes Theater und keinen guten Roman und keine
gute Schule und keine gute Gesellschaft haben, weil wir keinen öffentlichen
Geist haben, daß alle unsere gesellschaftlichen Institutionen, nicht eine einzige
ausgenommen, durch diesen entscheidenden Fehler ihres Fundamentes das un¬
wirksame und wesenlose erhalten, das ihnen alles feste Verhältnis zum Ganzen
des Volkes benimmt, sie vereinzelt und erdrückt.

Aber ich entsinne mich zur rechten Zeit, daß wir in: Kriege sind, und
eine solche Erweiterung meines Gegenstandes in akademische Friedensthemate
ausglitte. Oder vielleicht doch nicht? Wäre es nicht vielleicht, wenn wir den
Kern des Schadens erkannt haben, niemals zu frühe, ihn mit der Schärfe und
der Atzung, und sei es nur mit vollem grellem Lichte, anzugreifen? Wäre
vielleicht gerade dieser kriegerische Moment der einzige, in dem wir unseren
Freund, den Durchschnittsdeutschen, verwirrt und bewegt wie er gerade ist, fest
und greifbar in der Kur hätten? Und ist nicht hier eine Möglichkeit, "Neu¬
orientierungen", freilich keine ihm genehmen, freilich keine sofort brillant
wirkenden, zu erörtern und anzubahnen, in die keine Zensur hinein¬
reden darf?

Mir scheint, ja, so ist es. Und darum wollen wir unseren Freund, den Dmch-
schnittsdeutschen, alles Mitgefühl bei Seite setzend, jetzt eben fassen und festhalten,
damit nicht eines Tages Friede ist, und er wieder nach Hause will. Nicht nach
dem Kriege, sondern heute, sondern jede Stunde im Stillen, bereitet das künftige
Deutschland sich vor. Es ist Kriegsarbeit, und keine geringe, ihm dabei zu helfen
und es in das politische Leben hineinzuzwingen, von dem es immer wieder
entläuft -- auch heut im Grunde entlaufen möchte, trotz aller Heftigkeit
seiner Worte und Geberden. Unser Freund möchte entstandene Fehler der
Maschine abstellen, um sie neuen Maschinenwärtern zu übergeben und selber


Veffentlicher Geist

ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten unsere realen Institutionen reformieren,
ohne unsere Ideale umzustellen. Es ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten
bei diesen kümmerlichen Idealen und den kümmerlichen Gesellschaftsformen in
denen sie sich ausgeprägt haben, verharren und gleichzeitig die Angelegenheiten
des ganzen Volkes als unsere eigenen übernehmen, unsere eigenen so führen,
daß sie an denen des ganzen Volkes eine Teilschaft beanspruchen können. Es
ist der größte Irrtum zu glauben, man könne eine Sache betreiben ohne ihren
Geist zu besitzen.

Öffentlicher Geist ist Geist des Mitlebens mit jedem öffentlichen Vorgang
und der Verantwortung für ihn, die eine tätige Verantwortung ist und zum
Handeln drängt. Öffentlicher Geist ist das lebendige Gefühl für den Zu¬
sammenhang jeder einzelnen Tätigkeit mit dem Ganzen des nationalen Vor¬
ganges und für die offenen Bezüge zwischen allen diesen Tätigkeiten. Ich
bespreche ihn hier, weil die Umstände es mit sich bringen, mit Rücksicht auf
seine politische Facette, die freilich die wichtigste ist, denn wir haben keine gute
Politik, weil wir keinen öffentlichen Geist haben. Ich könnte ohne große Mühe
nachweisen, daß wir kein gutes Theater und keinen guten Roman und keine
gute Schule und keine gute Gesellschaft haben, weil wir keinen öffentlichen
Geist haben, daß alle unsere gesellschaftlichen Institutionen, nicht eine einzige
ausgenommen, durch diesen entscheidenden Fehler ihres Fundamentes das un¬
wirksame und wesenlose erhalten, das ihnen alles feste Verhältnis zum Ganzen
des Volkes benimmt, sie vereinzelt und erdrückt.

Aber ich entsinne mich zur rechten Zeit, daß wir in: Kriege sind, und
eine solche Erweiterung meines Gegenstandes in akademische Friedensthemate
ausglitte. Oder vielleicht doch nicht? Wäre es nicht vielleicht, wenn wir den
Kern des Schadens erkannt haben, niemals zu frühe, ihn mit der Schärfe und
der Atzung, und sei es nur mit vollem grellem Lichte, anzugreifen? Wäre
vielleicht gerade dieser kriegerische Moment der einzige, in dem wir unseren
Freund, den Durchschnittsdeutschen, verwirrt und bewegt wie er gerade ist, fest
und greifbar in der Kur hätten? Und ist nicht hier eine Möglichkeit, „Neu¬
orientierungen", freilich keine ihm genehmen, freilich keine sofort brillant
wirkenden, zu erörtern und anzubahnen, in die keine Zensur hinein¬
reden darf?

Mir scheint, ja, so ist es. Und darum wollen wir unseren Freund, den Dmch-
schnittsdeutschen, alles Mitgefühl bei Seite setzend, jetzt eben fassen und festhalten,
damit nicht eines Tages Friede ist, und er wieder nach Hause will. Nicht nach
dem Kriege, sondern heute, sondern jede Stunde im Stillen, bereitet das künftige
Deutschland sich vor. Es ist Kriegsarbeit, und keine geringe, ihm dabei zu helfen
und es in das politische Leben hineinzuzwingen, von dem es immer wieder
entläuft — auch heut im Grunde entlaufen möchte, trotz aller Heftigkeit
seiner Worte und Geberden. Unser Freund möchte entstandene Fehler der
Maschine abstellen, um sie neuen Maschinenwärtern zu übergeben und selber


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[0403] Veffentlicher Geist ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten unsere realen Institutionen reformieren, ohne unsere Ideale umzustellen. Es ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten bei diesen kümmerlichen Idealen und den kümmerlichen Gesellschaftsformen in denen sie sich ausgeprägt haben, verharren und gleichzeitig die Angelegenheiten des ganzen Volkes als unsere eigenen übernehmen, unsere eigenen so führen, daß sie an denen des ganzen Volkes eine Teilschaft beanspruchen können. Es ist der größte Irrtum zu glauben, man könne eine Sache betreiben ohne ihren Geist zu besitzen. Öffentlicher Geist ist Geist des Mitlebens mit jedem öffentlichen Vorgang und der Verantwortung für ihn, die eine tätige Verantwortung ist und zum Handeln drängt. Öffentlicher Geist ist das lebendige Gefühl für den Zu¬ sammenhang jeder einzelnen Tätigkeit mit dem Ganzen des nationalen Vor¬ ganges und für die offenen Bezüge zwischen allen diesen Tätigkeiten. Ich bespreche ihn hier, weil die Umstände es mit sich bringen, mit Rücksicht auf seine politische Facette, die freilich die wichtigste ist, denn wir haben keine gute Politik, weil wir keinen öffentlichen Geist haben. Ich könnte ohne große Mühe nachweisen, daß wir kein gutes Theater und keinen guten Roman und keine gute Schule und keine gute Gesellschaft haben, weil wir keinen öffentlichen Geist haben, daß alle unsere gesellschaftlichen Institutionen, nicht eine einzige ausgenommen, durch diesen entscheidenden Fehler ihres Fundamentes das un¬ wirksame und wesenlose erhalten, das ihnen alles feste Verhältnis zum Ganzen des Volkes benimmt, sie vereinzelt und erdrückt. Aber ich entsinne mich zur rechten Zeit, daß wir in: Kriege sind, und eine solche Erweiterung meines Gegenstandes in akademische Friedensthemate ausglitte. Oder vielleicht doch nicht? Wäre es nicht vielleicht, wenn wir den Kern des Schadens erkannt haben, niemals zu frühe, ihn mit der Schärfe und der Atzung, und sei es nur mit vollem grellem Lichte, anzugreifen? Wäre vielleicht gerade dieser kriegerische Moment der einzige, in dem wir unseren Freund, den Durchschnittsdeutschen, verwirrt und bewegt wie er gerade ist, fest und greifbar in der Kur hätten? Und ist nicht hier eine Möglichkeit, „Neu¬ orientierungen", freilich keine ihm genehmen, freilich keine sofort brillant wirkenden, zu erörtern und anzubahnen, in die keine Zensur hinein¬ reden darf? Mir scheint, ja, so ist es. Und darum wollen wir unseren Freund, den Dmch- schnittsdeutschen, alles Mitgefühl bei Seite setzend, jetzt eben fassen und festhalten, damit nicht eines Tages Friede ist, und er wieder nach Hause will. Nicht nach dem Kriege, sondern heute, sondern jede Stunde im Stillen, bereitet das künftige Deutschland sich vor. Es ist Kriegsarbeit, und keine geringe, ihm dabei zu helfen und es in das politische Leben hineinzuzwingen, von dem es immer wieder entläuft — auch heut im Grunde entlaufen möchte, trotz aller Heftigkeit seiner Worte und Geberden. Unser Freund möchte entstandene Fehler der Maschine abstellen, um sie neuen Maschinenwärtern zu übergeben und selber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/403>, abgerufen am 12.05.2024.