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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Oeffentlicher Geist

Vorganges, die sich äußerst radikal vorkommt, den Gefallen erwiese, ihr das
zu glauben, indem sie besonders drakonisch gegen die Kritiker vorgeht, so
daß endlich das aufgeregte Publikum den Eindruck von Vorgängen da be¬
kommt, wo in Wirklichkeit gar nichts vorgeht, als daß neue Flicken auf alte
Kleider gesetzt werden und neuer Most in die alten mürben Schläuche fließt.

Wir hatten und wir haben keinen öffentlichen sondern einen geheimen
Geist, keine öffentliche Meinung, sondern geheime und getuschelte Meinungen,
und daher keine öffentlichen Angelegenheiten und keine öffentliche Gesellschaft.
Stündlich ist zu lesen, die Politik sei in Deutschland eine Geheimwissenschaft
geworden und müsse aufhören das zu sein. Nur die Politik? War nicht
unsere Literatur eine Geheimliteratur und unsere Kunst eine Geheimkunst?
Und lag nicht jede deutsche geistige und äußere Lebensbetätigung genau so
drachenartig eifersüchtig, wie die Diplomatie auf den Geheimnissen ihrer Ge¬
schäftsführung, auf den Horten ihrer Privilegien? Nicht nur der Attachö war
"vornehm" fondern jeder "Betrieb" und jedes "Etablissement", der Empfangs¬
herr in der Wäschekonfektion und die Baderstube. Nicht nur der Gesandte
war "exklusiv", sondern der Dichter X und die Frau des Rechtsanwaltes A.
"Hochmütig" war ein bewundernder Superlativ geworden, statt die derbe Be¬
zeichnung einer höchst vulgären Sünde, "verhalten" zu sein ein Lobesprädikat,
statt die Bezeichnung für einen sterilen und unschöpferischen Zustand. Wir
sind mit den von den letzten dekrepiten Herrschaften abgelegten Kleidern auf
dem Rücken auf der Suche nach neuen Volksrechten herumgelaufen, während
wir uns eigentlich schon schämten das Wort Volk auszusprechen. Wir ver¬
sahen das Wort Öffentlichkeit gewöhnlich mit dem Zusätze "laut" um unser
Naserümpfen darüber graphisch an den Mann zu bringen, und zu markieren
zu welchen "Kreisen" wir zu "gehören" wünschten. Wir hatten uns ein höchst
unsinniges und antipathisches Ideal gebacken, in dem es weder Impulse noch
Affekte geben durfte, und jedes liberale großherzige liebevolle und freundliche
Element, das das schöpferische Wesen begleitet und auszeichnet, durch die
affektierte Sachlichkeit, Härte und Kälte ersetzt war, durch die unbegabte
Naturen sich eine Art Haltung geben; dies Ideal nannten wir germanisch und
deutsch, während alle großen deutschen Volksmänner von Luther bis auf
Bismarck und Bebel mit ihrer Fähigkeit zu lieben und zu hassen, mit ihren
Flüchen, Tränen, Ausbrüchen, fixen Ideen, und dem mächtigen Reichtum ihrer
seelischen Unbefangenheit die klägliche Puppe Lügen straften.

Öffentliche Angelegenheiten sind Angelegenheiten eines ganzen Volkes und
darum in einem gewissen Grade schon der Menschheit, öffentlicher Geist ist der
Geist der sich mit einem ganzen Volke, und damit schon in gewissem Grade
mit der Menschheit eines weiß. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die
großen Rechte der alten humanen Demokratie jedem Kannegießer und jedem
Snob und jedem Rollenhascher sich ohne weiteres in die Hand bieten und
daß er ernten könne, wo er weder gedüngt noch geankert noch gesäet hat. Es


Oeffentlicher Geist

Vorganges, die sich äußerst radikal vorkommt, den Gefallen erwiese, ihr das
zu glauben, indem sie besonders drakonisch gegen die Kritiker vorgeht, so
daß endlich das aufgeregte Publikum den Eindruck von Vorgängen da be¬
kommt, wo in Wirklichkeit gar nichts vorgeht, als daß neue Flicken auf alte
Kleider gesetzt werden und neuer Most in die alten mürben Schläuche fließt.

Wir hatten und wir haben keinen öffentlichen sondern einen geheimen
Geist, keine öffentliche Meinung, sondern geheime und getuschelte Meinungen,
und daher keine öffentlichen Angelegenheiten und keine öffentliche Gesellschaft.
Stündlich ist zu lesen, die Politik sei in Deutschland eine Geheimwissenschaft
geworden und müsse aufhören das zu sein. Nur die Politik? War nicht
unsere Literatur eine Geheimliteratur und unsere Kunst eine Geheimkunst?
Und lag nicht jede deutsche geistige und äußere Lebensbetätigung genau so
drachenartig eifersüchtig, wie die Diplomatie auf den Geheimnissen ihrer Ge¬
schäftsführung, auf den Horten ihrer Privilegien? Nicht nur der Attachö war
„vornehm" fondern jeder „Betrieb" und jedes „Etablissement", der Empfangs¬
herr in der Wäschekonfektion und die Baderstube. Nicht nur der Gesandte
war „exklusiv", sondern der Dichter X und die Frau des Rechtsanwaltes A.
„Hochmütig" war ein bewundernder Superlativ geworden, statt die derbe Be¬
zeichnung einer höchst vulgären Sünde, „verhalten" zu sein ein Lobesprädikat,
statt die Bezeichnung für einen sterilen und unschöpferischen Zustand. Wir
sind mit den von den letzten dekrepiten Herrschaften abgelegten Kleidern auf
dem Rücken auf der Suche nach neuen Volksrechten herumgelaufen, während
wir uns eigentlich schon schämten das Wort Volk auszusprechen. Wir ver¬
sahen das Wort Öffentlichkeit gewöhnlich mit dem Zusätze „laut" um unser
Naserümpfen darüber graphisch an den Mann zu bringen, und zu markieren
zu welchen „Kreisen" wir zu „gehören" wünschten. Wir hatten uns ein höchst
unsinniges und antipathisches Ideal gebacken, in dem es weder Impulse noch
Affekte geben durfte, und jedes liberale großherzige liebevolle und freundliche
Element, das das schöpferische Wesen begleitet und auszeichnet, durch die
affektierte Sachlichkeit, Härte und Kälte ersetzt war, durch die unbegabte
Naturen sich eine Art Haltung geben; dies Ideal nannten wir germanisch und
deutsch, während alle großen deutschen Volksmänner von Luther bis auf
Bismarck und Bebel mit ihrer Fähigkeit zu lieben und zu hassen, mit ihren
Flüchen, Tränen, Ausbrüchen, fixen Ideen, und dem mächtigen Reichtum ihrer
seelischen Unbefangenheit die klägliche Puppe Lügen straften.

Öffentliche Angelegenheiten sind Angelegenheiten eines ganzen Volkes und
darum in einem gewissen Grade schon der Menschheit, öffentlicher Geist ist der
Geist der sich mit einem ganzen Volke, und damit schon in gewissem Grade
mit der Menschheit eines weiß. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die
großen Rechte der alten humanen Demokratie jedem Kannegießer und jedem
Snob und jedem Rollenhascher sich ohne weiteres in die Hand bieten und
daß er ernten könne, wo er weder gedüngt noch geankert noch gesäet hat. Es


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[0402] Oeffentlicher Geist Vorganges, die sich äußerst radikal vorkommt, den Gefallen erwiese, ihr das zu glauben, indem sie besonders drakonisch gegen die Kritiker vorgeht, so daß endlich das aufgeregte Publikum den Eindruck von Vorgängen da be¬ kommt, wo in Wirklichkeit gar nichts vorgeht, als daß neue Flicken auf alte Kleider gesetzt werden und neuer Most in die alten mürben Schläuche fließt. Wir hatten und wir haben keinen öffentlichen sondern einen geheimen Geist, keine öffentliche Meinung, sondern geheime und getuschelte Meinungen, und daher keine öffentlichen Angelegenheiten und keine öffentliche Gesellschaft. Stündlich ist zu lesen, die Politik sei in Deutschland eine Geheimwissenschaft geworden und müsse aufhören das zu sein. Nur die Politik? War nicht unsere Literatur eine Geheimliteratur und unsere Kunst eine Geheimkunst? Und lag nicht jede deutsche geistige und äußere Lebensbetätigung genau so drachenartig eifersüchtig, wie die Diplomatie auf den Geheimnissen ihrer Ge¬ schäftsführung, auf den Horten ihrer Privilegien? Nicht nur der Attachö war „vornehm" fondern jeder „Betrieb" und jedes „Etablissement", der Empfangs¬ herr in der Wäschekonfektion und die Baderstube. Nicht nur der Gesandte war „exklusiv", sondern der Dichter X und die Frau des Rechtsanwaltes A. „Hochmütig" war ein bewundernder Superlativ geworden, statt die derbe Be¬ zeichnung einer höchst vulgären Sünde, „verhalten" zu sein ein Lobesprädikat, statt die Bezeichnung für einen sterilen und unschöpferischen Zustand. Wir sind mit den von den letzten dekrepiten Herrschaften abgelegten Kleidern auf dem Rücken auf der Suche nach neuen Volksrechten herumgelaufen, während wir uns eigentlich schon schämten das Wort Volk auszusprechen. Wir ver¬ sahen das Wort Öffentlichkeit gewöhnlich mit dem Zusätze „laut" um unser Naserümpfen darüber graphisch an den Mann zu bringen, und zu markieren zu welchen „Kreisen" wir zu „gehören" wünschten. Wir hatten uns ein höchst unsinniges und antipathisches Ideal gebacken, in dem es weder Impulse noch Affekte geben durfte, und jedes liberale großherzige liebevolle und freundliche Element, das das schöpferische Wesen begleitet und auszeichnet, durch die affektierte Sachlichkeit, Härte und Kälte ersetzt war, durch die unbegabte Naturen sich eine Art Haltung geben; dies Ideal nannten wir germanisch und deutsch, während alle großen deutschen Volksmänner von Luther bis auf Bismarck und Bebel mit ihrer Fähigkeit zu lieben und zu hassen, mit ihren Flüchen, Tränen, Ausbrüchen, fixen Ideen, und dem mächtigen Reichtum ihrer seelischen Unbefangenheit die klägliche Puppe Lügen straften. Öffentliche Angelegenheiten sind Angelegenheiten eines ganzen Volkes und darum in einem gewissen Grade schon der Menschheit, öffentlicher Geist ist der Geist der sich mit einem ganzen Volke, und damit schon in gewissem Grade mit der Menschheit eines weiß. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die großen Rechte der alten humanen Demokratie jedem Kannegießer und jedem Snob und jedem Rollenhascher sich ohne weiteres in die Hand bieten und daß er ernten könne, wo er weder gedüngt noch geankert noch gesäet hat. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/402>, abgerufen am 25.05.2024.