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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Venäs? Kussis, venae? vite!

wurden bis auf die Haut durchnäßt und ein Teil von ihnen lief weg. Aber
als sie am Morgen unter dem feinrieselnden Regen zurückkamen, fanden sie
natürlich ihre Plätze besetzt. Am Montag um sieben Uhr war ich neugierig
und ging sehen, was wohl am Laden los war. Ich fand in der Polonäse
über vierhundert Menschen, von denen die Hälfte die ganze Nacht ausgehalten
hatte, und ungefähr fünfzig waren der Rest von der Sonntagspolonäse, die
der Regen auseinandergejagt hatte.....Wie viele Leute müssen mit ihrer
Gesundheit für diese zwei Pfund Fleisch bezahlen. Wie viele alte -- und
ihrer waren viele dabei -- kürzen ihr Leben um Jahre dadurch ab! --"

Und während das in Moskau passiert, in "dem reichsten Lande der Welt,
das jährlich auf dem Weltmarkt Milliarden Pud Nahrungsmittel warf," wie
es in dem Hilferuf der Moskaner Stadtverordneten heißt, fahren die Spekulanten
auf den entferntesten Dörfern Sibiriens herum, treiben dem Bauer die letzte
Kuh aus dem Stalle unter der Drohung, daß das Militär sie requirieren
werde, falls sie nicht gutwillig verkauft würde.

Das Schlachten von Kälbern ist verboten, um den Nachwuchs des schon
allzusehr gelichteten Viehbestandes zu sichern, aber der "Kälbergeist" fuhrt durch
das russische Dorf. Es ist Sonntag und die Bäuerinnen möchten gern einen
guten Braten essen. Langsam lüftet der Schlächter seine Wagendecke und läßt
die Neugierigen hineinblicken. "Aber das ist doch Kalbfleisch", -- ruft eine
der Unvorsichtigen. Bald wird sie zum Schweigen gebracht. "Nur junges
Rind gibts bei mir" und die Bäuerinnen haben bald den Wagen geleert. --
Venciox Ku88le, venas? vite. --

Eine neue Kriegsanleihe ist in Rußland im Gange. Von den zwanzig
Milliarden Rubeln Kriegsausgaben sind nur 4,6 Milliarden bisher in festen
Anleihen untergebracht und Bar! macht ein neues Experiment, und versucht das
Papier, mit dem das Land überschwemmt ist, einzudämmen und die Ausgaben,
wenn auch nur eines Monats (der Krieg kostet jetzt täglich 40 Millionen Rubel)
festzulegen. Die bisherigen Anleihen waren in dieser und mancher anderen
Beziehung ein totales Fiasko. Statt vom Papiergeld zu entlasten, machten sie
die Ausgabe immer neuer Noten notwendig und Bark erweitert zum dritten
Mal auf Grund des berüchtigten Artikels 87 der Verfassung das Emissions¬
recht der russischen Staatsbank. Am 1. September gab es 7,1 Milliarden
russischen Papiergeldes auf dem Markte. Bald wird es mehr geben, und der
Rubelkurs, dessen Disagio an der Newyorker Börse zur Zeit 41°/" beträgt,
wird weiter fallen. Wie ist denn die Technik der russischen Anleihe? Ganz
einfach. ^ jeder Anleihe wird den russischen Privatbanken aufgepackt. Die
aber hüten sich das Geld etwa aus ihren Depositen zu zahlen. "Sie
lombardieren zu Vorzugsbedingungen die Zertifikate der neuen Anleihe bei der
Staatsbank und bewirken die Zahlungen auf die Anleihe in der Hauptsache aus den
von der letzteren vorgeschossenen Mitteln" ("Roon Ekonomist" Ur. 36). Kraft dieses
Verfahrens konnten die russischen Anleihen den Verkehr nicht um einen einzigen


Venäs? Kussis, venae? vite!

wurden bis auf die Haut durchnäßt und ein Teil von ihnen lief weg. Aber
als sie am Morgen unter dem feinrieselnden Regen zurückkamen, fanden sie
natürlich ihre Plätze besetzt. Am Montag um sieben Uhr war ich neugierig
und ging sehen, was wohl am Laden los war. Ich fand in der Polonäse
über vierhundert Menschen, von denen die Hälfte die ganze Nacht ausgehalten
hatte, und ungefähr fünfzig waren der Rest von der Sonntagspolonäse, die
der Regen auseinandergejagt hatte.....Wie viele Leute müssen mit ihrer
Gesundheit für diese zwei Pfund Fleisch bezahlen. Wie viele alte — und
ihrer waren viele dabei — kürzen ihr Leben um Jahre dadurch ab! —"

Und während das in Moskau passiert, in „dem reichsten Lande der Welt,
das jährlich auf dem Weltmarkt Milliarden Pud Nahrungsmittel warf," wie
es in dem Hilferuf der Moskaner Stadtverordneten heißt, fahren die Spekulanten
auf den entferntesten Dörfern Sibiriens herum, treiben dem Bauer die letzte
Kuh aus dem Stalle unter der Drohung, daß das Militär sie requirieren
werde, falls sie nicht gutwillig verkauft würde.

Das Schlachten von Kälbern ist verboten, um den Nachwuchs des schon
allzusehr gelichteten Viehbestandes zu sichern, aber der „Kälbergeist" fuhrt durch
das russische Dorf. Es ist Sonntag und die Bäuerinnen möchten gern einen
guten Braten essen. Langsam lüftet der Schlächter seine Wagendecke und läßt
die Neugierigen hineinblicken. „Aber das ist doch Kalbfleisch", — ruft eine
der Unvorsichtigen. Bald wird sie zum Schweigen gebracht. „Nur junges
Rind gibts bei mir" und die Bäuerinnen haben bald den Wagen geleert. —
Venciox Ku88le, venas? vite. —

Eine neue Kriegsanleihe ist in Rußland im Gange. Von den zwanzig
Milliarden Rubeln Kriegsausgaben sind nur 4,6 Milliarden bisher in festen
Anleihen untergebracht und Bar! macht ein neues Experiment, und versucht das
Papier, mit dem das Land überschwemmt ist, einzudämmen und die Ausgaben,
wenn auch nur eines Monats (der Krieg kostet jetzt täglich 40 Millionen Rubel)
festzulegen. Die bisherigen Anleihen waren in dieser und mancher anderen
Beziehung ein totales Fiasko. Statt vom Papiergeld zu entlasten, machten sie
die Ausgabe immer neuer Noten notwendig und Bark erweitert zum dritten
Mal auf Grund des berüchtigten Artikels 87 der Verfassung das Emissions¬
recht der russischen Staatsbank. Am 1. September gab es 7,1 Milliarden
russischen Papiergeldes auf dem Markte. Bald wird es mehr geben, und der
Rubelkurs, dessen Disagio an der Newyorker Börse zur Zeit 41°/„ beträgt,
wird weiter fallen. Wie ist denn die Technik der russischen Anleihe? Ganz
einfach. ^ jeder Anleihe wird den russischen Privatbanken aufgepackt. Die
aber hüten sich das Geld etwa aus ihren Depositen zu zahlen. „Sie
lombardieren zu Vorzugsbedingungen die Zertifikate der neuen Anleihe bei der
Staatsbank und bewirken die Zahlungen auf die Anleihe in der Hauptsache aus den
von der letzteren vorgeschossenen Mitteln" („Roon Ekonomist" Ur. 36). Kraft dieses
Verfahrens konnten die russischen Anleihen den Verkehr nicht um einen einzigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/48>, abgerufen am 14.05.2024.