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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Verein-ü Kussie, vencle? vite!

müssen diejenigen Gesetze, die die schwachen Elemente den stärkeren grätenlos
ausliefern, abgeschafft werden."*)

Das ist keine Schamade mehr, das ist eine Fanfare, und wie es in
Moskau ist, so ist es in Tambow, in Nischny, in Saratow und sogar im
kornreichen Süden, in Jekaterinoslaw. Und während dort die Mengen hungern,
halten in den großen Mühlen die Spekulanten das Mehl zurück, in Erwartung
der kommenden höheren Preise, über die ganz Nußland -- mit Ausnahme der
Bobrinskyleute in Aufregung geraten ist.

"Wir sind alle, so erklärte ein Olschläger in Nowotscherko.öl, abgefeimte
Spekulanten, nicht feste Preise (der russische Ausdruck für Höchstpreise) sind
für uns nötig, sondern feste Gefängniswände. Setzt uns alle hinter Schloß
und Riegel und haltet uns dort möglichst lange Zeit fest, wir werden dann
schon eine Taxe ausarbeiten, die sowohl für uns wie für die Bevölkerung an¬
gemessen ist." --

In Moskau stehen die Fleischpolonäsen von früh bis abend und von
abend bis früh, schlimmer, weit schlimmer, als es bei uns jemals der Fall
war. Ich entnehme der "Njetsch" vom 19. September folgende Beschreibung:

"Von Freitag vier Uhr stand die Polonäse. Um elf Uhr abends kam be¬
rittene Schutzmannschaft und jagte sie auseinander. Mancher verlor dabei im
Getümmel seinen Schal, sein Tuch, seine Schlüssel. So erzählte man wenigstens
am nächsten Morgen. Um drei Uhr Nachts, also vier Stunden nach dem
Auseinanderjagen fingen wiederum Frauen an, sich dem Laden zu nähern.
Zuerst schüchtern, dann dreister, begannen sie die Polonäse zu bilden, die um
sieben Uhr morgens, als sich endlich der begehrte Schlächterladen öffnete, be¬
trächtliche Dimensionen angenommen hatte. Über die Größe der Polonäse
kann man danach urteilen, daß die von sechs Uhr früh Stehenden erst um
drei Uhr nachmittags ihre zwei Pfund Fleisch erhielten. Am Sonnabend war
der Laden bis um acht Uhr abends geöffnet, aber beim Zuschließen bildete
sich schon wieder eine neue Polonäse, die die Nacht über wuchs. In dieser
Nacht wurde niemand weggejagt. Um sieben Uhr Sonntags wurde der
Laden geöffnet, und als er um acht Uhr abends geschlossen wurde, da schrien
über hundert Menschen, daß es sür sie nicht gelangt hatte und sie blieben die
folgende Nacht über in der Polonäse stehen. In der Nacht fiel ein heftiger
Regen und die Temperatur ging bis auf vier Grad herunter. Die Leute



") Aus diesen Zeilen spricht die ganze Gefahr, die Rußland droht, falls es nicht gelingt,
der gegenwärtigen Desorganisation Herr zu werden. Die Regierung hat bisher alles bekämpft,
was nur entfernt an Liberalismus, Semstwo usw. erinnerte, und dadurch eines der Ventile
geschlossen, aus dem der Dampf hätte abströmen können. Vielleicht bedeutet die Ernennung
Protopopows, der den Semstwooktovristen nahe steht, einen Versuch, einzulenken. Es scheint
mir, daß sie aus innerpolitischen Gesichtspunkten zu erklären ist, wenngleich manche Beobachter
aus der Freundschaft Protopopows mit Miljukow auf ein Siegen des Einflusses von England
schließen.
3*
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müssen diejenigen Gesetze, die die schwachen Elemente den stärkeren grätenlos
ausliefern, abgeschafft werden."*)

Das ist keine Schamade mehr, das ist eine Fanfare, und wie es in
Moskau ist, so ist es in Tambow, in Nischny, in Saratow und sogar im
kornreichen Süden, in Jekaterinoslaw. Und während dort die Mengen hungern,
halten in den großen Mühlen die Spekulanten das Mehl zurück, in Erwartung
der kommenden höheren Preise, über die ganz Nußland — mit Ausnahme der
Bobrinskyleute in Aufregung geraten ist.

„Wir sind alle, so erklärte ein Olschläger in Nowotscherko.öl, abgefeimte
Spekulanten, nicht feste Preise (der russische Ausdruck für Höchstpreise) sind
für uns nötig, sondern feste Gefängniswände. Setzt uns alle hinter Schloß
und Riegel und haltet uns dort möglichst lange Zeit fest, wir werden dann
schon eine Taxe ausarbeiten, die sowohl für uns wie für die Bevölkerung an¬
gemessen ist." —

In Moskau stehen die Fleischpolonäsen von früh bis abend und von
abend bis früh, schlimmer, weit schlimmer, als es bei uns jemals der Fall
war. Ich entnehme der „Njetsch" vom 19. September folgende Beschreibung:

„Von Freitag vier Uhr stand die Polonäse. Um elf Uhr abends kam be¬
rittene Schutzmannschaft und jagte sie auseinander. Mancher verlor dabei im
Getümmel seinen Schal, sein Tuch, seine Schlüssel. So erzählte man wenigstens
am nächsten Morgen. Um drei Uhr Nachts, also vier Stunden nach dem
Auseinanderjagen fingen wiederum Frauen an, sich dem Laden zu nähern.
Zuerst schüchtern, dann dreister, begannen sie die Polonäse zu bilden, die um
sieben Uhr morgens, als sich endlich der begehrte Schlächterladen öffnete, be¬
trächtliche Dimensionen angenommen hatte. Über die Größe der Polonäse
kann man danach urteilen, daß die von sechs Uhr früh Stehenden erst um
drei Uhr nachmittags ihre zwei Pfund Fleisch erhielten. Am Sonnabend war
der Laden bis um acht Uhr abends geöffnet, aber beim Zuschließen bildete
sich schon wieder eine neue Polonäse, die die Nacht über wuchs. In dieser
Nacht wurde niemand weggejagt. Um sieben Uhr Sonntags wurde der
Laden geöffnet, und als er um acht Uhr abends geschlossen wurde, da schrien
über hundert Menschen, daß es sür sie nicht gelangt hatte und sie blieben die
folgende Nacht über in der Polonäse stehen. In der Nacht fiel ein heftiger
Regen und die Temperatur ging bis auf vier Grad herunter. Die Leute



") Aus diesen Zeilen spricht die ganze Gefahr, die Rußland droht, falls es nicht gelingt,
der gegenwärtigen Desorganisation Herr zu werden. Die Regierung hat bisher alles bekämpft,
was nur entfernt an Liberalismus, Semstwo usw. erinnerte, und dadurch eines der Ventile
geschlossen, aus dem der Dampf hätte abströmen können. Vielleicht bedeutet die Ernennung
Protopopows, der den Semstwooktovristen nahe steht, einen Versuch, einzulenken. Es scheint
mir, daß sie aus innerpolitischen Gesichtspunkten zu erklären ist, wenngleich manche Beobachter
aus der Freundschaft Protopopows mit Miljukow auf ein Siegen des Einflusses von England
schließen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/47>, abgerufen am 13.05.2024.