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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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langen Frieden nötig haben wie Rußland.*) Wird England wohl anfangen,
einen neuen großartigen Konflikt vorzubereiten, -- und gegen wen? Gegen
seinen Bundesgenossen, der es soeben aus tätlicher Gefahr gerettet und der
von ihm ebenso aus der gleichen Gefahr gerettet wurde?! Alle solche Vor¬
aussetzungen sind für England geradezu beleidigend.(I) England weiß, daß
das heutige Geschlecht des russischen Volkes ganz gut ohne unmittelbare Aus¬
gänge zum Mittelmeere und Persischen Meeresbusen bestehen kann, und daß
Rußland vorläufig keine Vergrößerung seines Gebiets nötig hat. Bei der
gewohnten russischen Bescheidenheit ist Rußland stets bereit, von eigenen Vor¬
teilen zurückzutreten. Aber die künftigen Geschlechter? Kann man wohl dem
künftigen großen Rußland den Ausgang zu den offenen Meeren verschließen,
kann man wohl dem russischen Volke die an seiner heutigen Staatsgrenze ge¬
legenen Wüstengebiete absperren? Das würde eine Vorbereitung zu einem
künftigen neuen großartigen Zusammenstoß bedeuten, wobei für England die
Aussichten auf Erfolg sehr gering sein würden. Und wozu auch? Hat Eng¬
land tatsächlich Alexandrette oder Bender-Abbas nötig? Hat es Armenien
oder das türkische Küstenland am Schwarzen Meere oder Mesopotamien
nötig?**) Die türkische Erbschaft ist groß. England wird seinen Anteil er¬
halten, aber auch Rußland muß seinen Anteil haben. Die Teilung ist keines¬
wegs schwer.

Freilich wird England nicht die russischen Interessen vertreten. Das ist
Sache der russischen Diplomatie. Die russische Diplomatie war in früheren
Zeiten immer bereit, auf russische Interessen zu verzichten. Man braucht
z. B. nur an das Vordringen Rußlands in Zentralasien oder sein Verhältnis
zu Persien zu denken. Wenn Rußland auch jetzt den alten Traditionen folgen
wird, so wird es natürlich keine Vorteile aus dem jetzigen Kriege ziehen.
Schließlich muß man jedoch etwas lernen. Am Ende wird Rußland noch tat¬
sächlich auf den Gedanken kommen, ein unabhängiges oder autonomes Armenien,
Kurdistan, Lasistan usw. zu gründen oder für die Erhaltung der Türkei in
beschnittenem Zustande zu sorgen. Rußland wird vielleicht auf die deutsche
Erbschaft in der Türkei (Rayon der Bagdadbahn) und auf die Ausgünge zum
Mittelmeer und zum Indischen Ozean verzichten. Alles ist möglich. England
aber kommt dabei nicht in Betracht. Es wird uns keine neuen Gebiete und
neue Stützpunkte am Meere aufdrängen.... Daß im mittleren Orient für
uns nicht alles glatt und glücklich von statten geht, zeigt das Verhältnis zu
Persien, welches offenbar feindselig sowohl gegen Nußland wie auch gegen
England gesinnt ist und eine sogenannte Neutralität einnimmt, die für die
Feinde Rußlands sehr günstig erscheint, obgleich es im wesentlichen vollständig
von Rußland und England abhängig ist. Trotzdem sind sowohl die Russen
wie auch die Engländer Persien gegenüber besonders zuvorkommend, unter-




*) Auch wenn es siegreich war?
"*) Man sieht, wohin die russischen Wünsche gehen!
Vencle? Kussie, venZe? vitel

langen Frieden nötig haben wie Rußland.*) Wird England wohl anfangen,
einen neuen großartigen Konflikt vorzubereiten, — und gegen wen? Gegen
seinen Bundesgenossen, der es soeben aus tätlicher Gefahr gerettet und der
von ihm ebenso aus der gleichen Gefahr gerettet wurde?! Alle solche Vor¬
aussetzungen sind für England geradezu beleidigend.(I) England weiß, daß
das heutige Geschlecht des russischen Volkes ganz gut ohne unmittelbare Aus¬
gänge zum Mittelmeere und Persischen Meeresbusen bestehen kann, und daß
Rußland vorläufig keine Vergrößerung seines Gebiets nötig hat. Bei der
gewohnten russischen Bescheidenheit ist Rußland stets bereit, von eigenen Vor¬
teilen zurückzutreten. Aber die künftigen Geschlechter? Kann man wohl dem
künftigen großen Rußland den Ausgang zu den offenen Meeren verschließen,
kann man wohl dem russischen Volke die an seiner heutigen Staatsgrenze ge¬
legenen Wüstengebiete absperren? Das würde eine Vorbereitung zu einem
künftigen neuen großartigen Zusammenstoß bedeuten, wobei für England die
Aussichten auf Erfolg sehr gering sein würden. Und wozu auch? Hat Eng¬
land tatsächlich Alexandrette oder Bender-Abbas nötig? Hat es Armenien
oder das türkische Küstenland am Schwarzen Meere oder Mesopotamien
nötig?**) Die türkische Erbschaft ist groß. England wird seinen Anteil er¬
halten, aber auch Rußland muß seinen Anteil haben. Die Teilung ist keines¬
wegs schwer.

Freilich wird England nicht die russischen Interessen vertreten. Das ist
Sache der russischen Diplomatie. Die russische Diplomatie war in früheren
Zeiten immer bereit, auf russische Interessen zu verzichten. Man braucht
z. B. nur an das Vordringen Rußlands in Zentralasien oder sein Verhältnis
zu Persien zu denken. Wenn Rußland auch jetzt den alten Traditionen folgen
wird, so wird es natürlich keine Vorteile aus dem jetzigen Kriege ziehen.
Schließlich muß man jedoch etwas lernen. Am Ende wird Rußland noch tat¬
sächlich auf den Gedanken kommen, ein unabhängiges oder autonomes Armenien,
Kurdistan, Lasistan usw. zu gründen oder für die Erhaltung der Türkei in
beschnittenem Zustande zu sorgen. Rußland wird vielleicht auf die deutsche
Erbschaft in der Türkei (Rayon der Bagdadbahn) und auf die Ausgünge zum
Mittelmeer und zum Indischen Ozean verzichten. Alles ist möglich. England
aber kommt dabei nicht in Betracht. Es wird uns keine neuen Gebiete und
neue Stützpunkte am Meere aufdrängen.... Daß im mittleren Orient für
uns nicht alles glatt und glücklich von statten geht, zeigt das Verhältnis zu
Persien, welches offenbar feindselig sowohl gegen Nußland wie auch gegen
England gesinnt ist und eine sogenannte Neutralität einnimmt, die für die
Feinde Rußlands sehr günstig erscheint, obgleich es im wesentlichen vollständig
von Rußland und England abhängig ist. Trotzdem sind sowohl die Russen
wie auch die Engländer Persien gegenüber besonders zuvorkommend, unter-




*) Auch wenn es siegreich war?
"*) Man sieht, wohin die russischen Wünsche gehen!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/51>, abgerufen am 31.05.2024.