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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Erdkunde in den höheren Schulen

Bevor die Schulerdkunde imstande sein wird, selbst nur den bescheidensten
Erwartungen nach dieser Richtung gerecht zu werden, sind mancherlei Hemmnisse
zu überwinden.

Ist die Erdkunde eine ganz besonders "komplexe" Wissenschaft, so folgt
daraus für einen gedeihlichen Schulunterricht, daß zu einer vollen Auswirknng
ihrer Bildungsmöglichkeiten der Schüler ein nicht zu gering bemessenes Wissen
aus den wichtigeren Hilfswissenschaften bereits sein eigen nennen muß, wenn
anders der Erdkundenunterricht auf ihnen wirklich aufbauen soll. Praktisch
gesprochen ist also, -- selbst abgesehen von der nötigen geistigen Reife, -- erst die
Oberstufe der geeignete Platz, um den geographischen Unterricht zum befriedigenden
Abschluß zu bringen.

Heute sind wir von der Verwirklichung dieser auf zwingenden Gründen
beruhenden Erkenntnis noch ziemlich weit entfernt. Zwar schreiben die amtlichen
Lehrpläne "länderkundliche Wiederholungen im Anschluß an den Geschichts¬
unterricht" auf der Oberstufe vor; zwar werden den Oberklassen der Ober"
realschulen für eine (I) erdkundliche Wochenstunde verhältnismäßig umfangreiche
Lehraufgaben gestellt, so u. a. "die Grundzüge der allgemeinen Erdkunde,
gelegentlich auch einiges aus der Völkerkunde." Aber man kann sich bei näherer
Prüfung dem Eindruck nicht entziehen, daß dieser Unterricht allein schon wegen
seines allzu bescheidenen äußeren Umfanges, gleichsam in der Luft schwebt --
dies um so mehr, wenn er von Tertia (oder doch Untersekunda) an auf
einem großen Teil der höheren Lehranstalten nur mit einer Wochenstunde
betrieben wird.

Fast noch schwerwiegender will ein anderer Umstand erscheinen. Wie aus
Statistiker der letzten 15 Jahre unzweideutig hervorgeht, ist der Anteil der
nicht fachmännisch vorgebildeten Lehrer der Erdkunde an der Gesamtzahl der
Lehrer dieses Faches ein unerwartet hoher, obwohl geprüfte Fachlehrer der
Erdkunde im allgemeinen weit mehr als unbedingt nötig vorhanden sind.
Nach zuverlässigen Angaben aus dem Schuljahr 1907/08, -- neuere Zahlen
liegen mir nicht vor -- die sich auf verschiedene deutsche Landesteile (Berlin,
Königreich Sachsen, Elsaß-Lothringen) beziehen, wurde unser Fach zu etwa
40--50 Prozent und darüber von Nicht-Geographen unterrichtet Leider ist es
immer noch, im Widerspruch zu den ausdrücklichen amtlichen Bestimmungen,
melerorten "Brauch", erdkundliche Lehrstunden womöglich ohne Rücksicht darauf,
ob der betreffende Nichtfachmann sich einarbeiten kann oder will, als "Füll¬
stunden" zwecks Erreichung der erforderlichen Stundenzahl unter die Mitglieder
eines Lehrerkollegiums zu verteilen I!

Ich will auf die naheliegenden Folgen für den wissenschaftlichen Ernst der
Schularbeit und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit nicht eingehen. Das Gesagte
dürfte auch dem Fernerstehenden verständlich machen, weswegen der bisherige
erdkundliche Schulunterricht die auf ihn gestellten Erwartungen in der Regel
überhaupt nicht erfüllen konnte. Damit ist meines Erachtens zugleich der


Erdkunde in den höheren Schulen

Bevor die Schulerdkunde imstande sein wird, selbst nur den bescheidensten
Erwartungen nach dieser Richtung gerecht zu werden, sind mancherlei Hemmnisse
zu überwinden.

Ist die Erdkunde eine ganz besonders „komplexe" Wissenschaft, so folgt
daraus für einen gedeihlichen Schulunterricht, daß zu einer vollen Auswirknng
ihrer Bildungsmöglichkeiten der Schüler ein nicht zu gering bemessenes Wissen
aus den wichtigeren Hilfswissenschaften bereits sein eigen nennen muß, wenn
anders der Erdkundenunterricht auf ihnen wirklich aufbauen soll. Praktisch
gesprochen ist also, — selbst abgesehen von der nötigen geistigen Reife, — erst die
Oberstufe der geeignete Platz, um den geographischen Unterricht zum befriedigenden
Abschluß zu bringen.

Heute sind wir von der Verwirklichung dieser auf zwingenden Gründen
beruhenden Erkenntnis noch ziemlich weit entfernt. Zwar schreiben die amtlichen
Lehrpläne „länderkundliche Wiederholungen im Anschluß an den Geschichts¬
unterricht" auf der Oberstufe vor; zwar werden den Oberklassen der Ober«
realschulen für eine (I) erdkundliche Wochenstunde verhältnismäßig umfangreiche
Lehraufgaben gestellt, so u. a. „die Grundzüge der allgemeinen Erdkunde,
gelegentlich auch einiges aus der Völkerkunde." Aber man kann sich bei näherer
Prüfung dem Eindruck nicht entziehen, daß dieser Unterricht allein schon wegen
seines allzu bescheidenen äußeren Umfanges, gleichsam in der Luft schwebt —
dies um so mehr, wenn er von Tertia (oder doch Untersekunda) an auf
einem großen Teil der höheren Lehranstalten nur mit einer Wochenstunde
betrieben wird.

Fast noch schwerwiegender will ein anderer Umstand erscheinen. Wie aus
Statistiker der letzten 15 Jahre unzweideutig hervorgeht, ist der Anteil der
nicht fachmännisch vorgebildeten Lehrer der Erdkunde an der Gesamtzahl der
Lehrer dieses Faches ein unerwartet hoher, obwohl geprüfte Fachlehrer der
Erdkunde im allgemeinen weit mehr als unbedingt nötig vorhanden sind.
Nach zuverlässigen Angaben aus dem Schuljahr 1907/08, — neuere Zahlen
liegen mir nicht vor — die sich auf verschiedene deutsche Landesteile (Berlin,
Königreich Sachsen, Elsaß-Lothringen) beziehen, wurde unser Fach zu etwa
40—50 Prozent und darüber von Nicht-Geographen unterrichtet Leider ist es
immer noch, im Widerspruch zu den ausdrücklichen amtlichen Bestimmungen,
melerorten „Brauch", erdkundliche Lehrstunden womöglich ohne Rücksicht darauf,
ob der betreffende Nichtfachmann sich einarbeiten kann oder will, als „Füll¬
stunden" zwecks Erreichung der erforderlichen Stundenzahl unter die Mitglieder
eines Lehrerkollegiums zu verteilen I!

Ich will auf die naheliegenden Folgen für den wissenschaftlichen Ernst der
Schularbeit und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit nicht eingehen. Das Gesagte
dürfte auch dem Fernerstehenden verständlich machen, weswegen der bisherige
erdkundliche Schulunterricht die auf ihn gestellten Erwartungen in der Regel
überhaupt nicht erfüllen konnte. Damit ist meines Erachtens zugleich der


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[0060] Erdkunde in den höheren Schulen Bevor die Schulerdkunde imstande sein wird, selbst nur den bescheidensten Erwartungen nach dieser Richtung gerecht zu werden, sind mancherlei Hemmnisse zu überwinden. Ist die Erdkunde eine ganz besonders „komplexe" Wissenschaft, so folgt daraus für einen gedeihlichen Schulunterricht, daß zu einer vollen Auswirknng ihrer Bildungsmöglichkeiten der Schüler ein nicht zu gering bemessenes Wissen aus den wichtigeren Hilfswissenschaften bereits sein eigen nennen muß, wenn anders der Erdkundenunterricht auf ihnen wirklich aufbauen soll. Praktisch gesprochen ist also, — selbst abgesehen von der nötigen geistigen Reife, — erst die Oberstufe der geeignete Platz, um den geographischen Unterricht zum befriedigenden Abschluß zu bringen. Heute sind wir von der Verwirklichung dieser auf zwingenden Gründen beruhenden Erkenntnis noch ziemlich weit entfernt. Zwar schreiben die amtlichen Lehrpläne „länderkundliche Wiederholungen im Anschluß an den Geschichts¬ unterricht" auf der Oberstufe vor; zwar werden den Oberklassen der Ober« realschulen für eine (I) erdkundliche Wochenstunde verhältnismäßig umfangreiche Lehraufgaben gestellt, so u. a. „die Grundzüge der allgemeinen Erdkunde, gelegentlich auch einiges aus der Völkerkunde." Aber man kann sich bei näherer Prüfung dem Eindruck nicht entziehen, daß dieser Unterricht allein schon wegen seines allzu bescheidenen äußeren Umfanges, gleichsam in der Luft schwebt — dies um so mehr, wenn er von Tertia (oder doch Untersekunda) an auf einem großen Teil der höheren Lehranstalten nur mit einer Wochenstunde betrieben wird. Fast noch schwerwiegender will ein anderer Umstand erscheinen. Wie aus Statistiker der letzten 15 Jahre unzweideutig hervorgeht, ist der Anteil der nicht fachmännisch vorgebildeten Lehrer der Erdkunde an der Gesamtzahl der Lehrer dieses Faches ein unerwartet hoher, obwohl geprüfte Fachlehrer der Erdkunde im allgemeinen weit mehr als unbedingt nötig vorhanden sind. Nach zuverlässigen Angaben aus dem Schuljahr 1907/08, — neuere Zahlen liegen mir nicht vor — die sich auf verschiedene deutsche Landesteile (Berlin, Königreich Sachsen, Elsaß-Lothringen) beziehen, wurde unser Fach zu etwa 40—50 Prozent und darüber von Nicht-Geographen unterrichtet Leider ist es immer noch, im Widerspruch zu den ausdrücklichen amtlichen Bestimmungen, melerorten „Brauch", erdkundliche Lehrstunden womöglich ohne Rücksicht darauf, ob der betreffende Nichtfachmann sich einarbeiten kann oder will, als „Füll¬ stunden" zwecks Erreichung der erforderlichen Stundenzahl unter die Mitglieder eines Lehrerkollegiums zu verteilen I! Ich will auf die naheliegenden Folgen für den wissenschaftlichen Ernst der Schularbeit und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit nicht eingehen. Das Gesagte dürfte auch dem Fernerstehenden verständlich machen, weswegen der bisherige erdkundliche Schulunterricht die auf ihn gestellten Erwartungen in der Regel überhaupt nicht erfüllen konnte. Damit ist meines Erachtens zugleich der

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/60>, abgerufen am 06.06.2024.