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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Poinearö, Frankreich und die Revanche

im Angriff in die Reihen der Gegner ein und suchte sie zu verwirren.
Boulangismus und Anschlag gegen Dreyfuß waren seine wuchtigsten und
gefährlichsten Vorstöße, Zeiten zugleich der schärfsten Agitation gegen
Deutschland.

Sie wurden abgewehrt. Die Revancheidee geriet ins Hintertreffen. Der
Block der Linken tat alles, sie geflissentlich zu entwerten, dieses Ablenkungs¬
mittel gegen antiklerikale Politik unschädlich zu machen. Er griff in das Arsenal
der Gedanken von 1789, die in Frankreich nie ihre Wirkung verfehlen, auch
heute nicht. Er griff aus ihnen vor allem das Ideal der Freiheit heraus,
hielt die freiheitliche Ausgestaltung nach innen dem Lande als Hauptziel des
Staats- und Nationallebens vor, neben dem der Gedanke an Macht nach
außen, an Angriffspolitik gegen andere Völker durchaus zurücktreten mußte, ja
als dem Geiste der Freiheit widersprechend von einem großen Teile seiner
Parteigänger verabscheut wurde. Er war also durchaus innerpolitisch interessiert,
nach außen aus diesem Grunde auch durchaus pazifistisch, dachte mit mehr oder
weniger klarer Logik an friedliche Verständigung zwischen den Nationen, war
mehr oder weniger antinationalistisch, daher Deutschland gegenüber mehr oder
weniger neutral. Ein Combes, ein Waldeck-Rousseau, ein General Andrö
konnten den Revanchegedanken fast vergessen. Sie mußten jeden Versuch ihrer
klerikalen und antidemokratischen Gegner, die Aufmerksamkeit der Geister von
dieser Richtung nach außen abzulenken, bekämpfen, sie mußten deswegen den
Revanchegedanken sogar grundsätzlich als nebensächlich behandeln.

In erbitterten Kämpfen schuf die Linke aus ihrem Ideal Wirklichkeit.
Kämpfen, die zunächst das Land in Anarchie aufzulösen, jedes Gemeinschafts¬
gefühl zu zerstören, den Staat in völlige Ohnmacht und Entkräftung zu stürzen
schienen, die aber schließlich doch zu dem gewünschten Ziel, vor allem,
gewollt oder ungewollt, durch Unterwerfung der stärksten Widerstanvsgruppe
zu großer Stärkung der Staatsmacht führten. Es waren die ersten fünf
Jahre des neuen Jahrhunderts, die Jahre, die teils aus Prinzip teils im
Gefühl der inneren Schwäche die größte Zurückhaltung in der Außenpolitik,
das weiteste Entgegenkommen Deutschland gegenüber und fast allgemeines
Verstummen des Nevanchetamtams brachten und bei uns die Überzeugung von
der friedlichen Grundstimmung des französischen Volkes und der Erledigung
des Vergeltungsgedankens begründeten.

Da kam die Marokkokrise! Mit einem Schlage ändert sich das Bild. Der
alte Nationalismus taucht wieder auf und wächst seit 1905 von Jahr zu Jahr;
die Presse schreit immer lauter gegen Deutschland. Den Höhepunkt bringt das
Dreijahresgesetz. Es zeigt mit größter Schärfe, daß nicht nur gewisse Kreise,
nicht nur die Presse, nicht nur die klerikale und nationale Rechte in Deutschland
den Gegner sahen, sondern daß weite Kreise der antiklerikalen und, wie es
schien, antinationalistischen Linken sich mit ihren ehemaligen Gegnern im anti¬
deutschen Lager wieder zusammengefunden hatten. Und wenn auch bei vielen,


Poinearö, Frankreich und die Revanche

im Angriff in die Reihen der Gegner ein und suchte sie zu verwirren.
Boulangismus und Anschlag gegen Dreyfuß waren seine wuchtigsten und
gefährlichsten Vorstöße, Zeiten zugleich der schärfsten Agitation gegen
Deutschland.

Sie wurden abgewehrt. Die Revancheidee geriet ins Hintertreffen. Der
Block der Linken tat alles, sie geflissentlich zu entwerten, dieses Ablenkungs¬
mittel gegen antiklerikale Politik unschädlich zu machen. Er griff in das Arsenal
der Gedanken von 1789, die in Frankreich nie ihre Wirkung verfehlen, auch
heute nicht. Er griff aus ihnen vor allem das Ideal der Freiheit heraus,
hielt die freiheitliche Ausgestaltung nach innen dem Lande als Hauptziel des
Staats- und Nationallebens vor, neben dem der Gedanke an Macht nach
außen, an Angriffspolitik gegen andere Völker durchaus zurücktreten mußte, ja
als dem Geiste der Freiheit widersprechend von einem großen Teile seiner
Parteigänger verabscheut wurde. Er war also durchaus innerpolitisch interessiert,
nach außen aus diesem Grunde auch durchaus pazifistisch, dachte mit mehr oder
weniger klarer Logik an friedliche Verständigung zwischen den Nationen, war
mehr oder weniger antinationalistisch, daher Deutschland gegenüber mehr oder
weniger neutral. Ein Combes, ein Waldeck-Rousseau, ein General Andrö
konnten den Revanchegedanken fast vergessen. Sie mußten jeden Versuch ihrer
klerikalen und antidemokratischen Gegner, die Aufmerksamkeit der Geister von
dieser Richtung nach außen abzulenken, bekämpfen, sie mußten deswegen den
Revanchegedanken sogar grundsätzlich als nebensächlich behandeln.

In erbitterten Kämpfen schuf die Linke aus ihrem Ideal Wirklichkeit.
Kämpfen, die zunächst das Land in Anarchie aufzulösen, jedes Gemeinschafts¬
gefühl zu zerstören, den Staat in völlige Ohnmacht und Entkräftung zu stürzen
schienen, die aber schließlich doch zu dem gewünschten Ziel, vor allem,
gewollt oder ungewollt, durch Unterwerfung der stärksten Widerstanvsgruppe
zu großer Stärkung der Staatsmacht führten. Es waren die ersten fünf
Jahre des neuen Jahrhunderts, die Jahre, die teils aus Prinzip teils im
Gefühl der inneren Schwäche die größte Zurückhaltung in der Außenpolitik,
das weiteste Entgegenkommen Deutschland gegenüber und fast allgemeines
Verstummen des Nevanchetamtams brachten und bei uns die Überzeugung von
der friedlichen Grundstimmung des französischen Volkes und der Erledigung
des Vergeltungsgedankens begründeten.

Da kam die Marokkokrise! Mit einem Schlage ändert sich das Bild. Der
alte Nationalismus taucht wieder auf und wächst seit 1905 von Jahr zu Jahr;
die Presse schreit immer lauter gegen Deutschland. Den Höhepunkt bringt das
Dreijahresgesetz. Es zeigt mit größter Schärfe, daß nicht nur gewisse Kreise,
nicht nur die Presse, nicht nur die klerikale und nationale Rechte in Deutschland
den Gegner sahen, sondern daß weite Kreise der antiklerikalen und, wie es
schien, antinationalistischen Linken sich mit ihren ehemaligen Gegnern im anti¬
deutschen Lager wieder zusammengefunden hatten. Und wenn auch bei vielen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/80>, abgerufen am 16.06.2024.