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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Hohe, vereiste und zerklüftete Gebirge gelten als gute natürliche Grenzen.
Je wilder und einsamer, je unerschlossener, um so besser eignen sie sich dazu.
Wie die Küsten erschweren sie den Angriff und erleichtern die Abwehr, machen
auch wohl den Kampf geradezu unmöglich. Auch sie bilden den wenigstens
teilweise" Abschluß eines einheitlichen Lebens- d. h. Verkehrsgebietes durch
einen Streifen unbewohnten Landes. Aber gerade dieser Zustand ändert sich
im Laufe der Jahrhunderte. Mit zunehmender Besiedlung des Vorlandes, mit
dem steigenden Wert des Bodens arbeiten sich Mönche und Bauern die Hänge
und Täter empor, hinauf bis zum Kamm und zur Paßhöhe. Ja oft folgen
sie darüber hinaus dem Händler bis dahin, wo vom jenseitigen Fuß der
Berge ihnen Mitbewerber entgegentreten. Durch diesen Vorgang aber verliert
das Gebirge an Grenzwert. Das ursprünglich breite und einsame Grenz¬
gebiet geht allmählich über in eine Grenzlinie, und das um so vollständiger,
je zugänglicher und bewohnbarer das Gebirge ist, und je mehr die Verkehrs¬
technik fortschreitet. Die so entstandene Linie innerhalb des Gebirges aber
liegt nun nicht ohne weiteres fest. Im friedlichen oder blutigen Wettkampf
wird sie hin und her geschoben. Der Grenzstreit hat begonnen.

Aber auch wenn die Siedler von beiden Seiten nicht bis zur Fühlung
sich nähern, so entsteht doch mit der Zeit und fortschreitender Landeskenntnis
das Verlangen nach Ersatz des unbestimmten Grenzgebietes durch die Grenz¬
linie. Und hier hat sich denn schon früh der Begriff der Wasserscheide als
Helfer eingestellt. Durch ihn kann jederzeit in jedem Gebirge -- und wir
sprechen nur von Gebirgswasserscheiden -- eine ziemlich genaue Linie auf¬
gefunden werden, welche verspricht, beide Teile zu ihrem Recht kommen zu
lassen. Sie kann von fern her vertragsmäßig festgelegt werden und gilt auch
heute noch völkerrechtlich im Zweifelsfall als Grenze. So sehen wir denn diese
Linie mit dem Anspruch auftreten, eine allgemein gültige Entscheidung in Ge-
birgsgrenzfragen zu sein.

Neben der Eigenschaft dieser Linie, eindeutig zu sein und in der Regel
annähernd zu halbieren, gilt es nun aber, noch eins hervorzuheben, was ihr
vor allem zu ihrer Bedeutung verholfen hat. Sie fällt meist zusammen mit
dem Gebirgsteil. der der höchste und am schwersten zugängliche ist, der viel¬
leicht wenig oder gar nicht besiedelt ist. Hier stößt jener oben beschriebene
Prozeß gegenseitiger Annäherung auf die stärksten Hindernisse. Es gibt
jedoch sehr gewichtige Ausnahmen. Die Alpen sind leichter von Norden nach
Süden zu überschreiten, als in umgekehrter Richtung. Es kann hier nicht er¬
örtert werden, wie das mit dem südlichen Steilabfall des Gebirges und seiner
eiszeitlichen Ausräumung durch die Gletscher zusammenhängt. Eine sehr lesens¬
werte Schrift hat kürzlich der Berliner Geograph Albrecht Penck über "die öster¬
reichische Alpengrenze" veröffentlicht. Wir stellen hier nur fest, daß die Völker des
nördlichen Alpenvorlandes sich über die Wasserscheide hinweg nach Süden ausge¬
breitet haben. Ihre "Paß-Staaten" schoben sich bis zum Südrand desGebirges vor.


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Hohe, vereiste und zerklüftete Gebirge gelten als gute natürliche Grenzen.
Je wilder und einsamer, je unerschlossener, um so besser eignen sie sich dazu.
Wie die Küsten erschweren sie den Angriff und erleichtern die Abwehr, machen
auch wohl den Kampf geradezu unmöglich. Auch sie bilden den wenigstens
teilweise» Abschluß eines einheitlichen Lebens- d. h. Verkehrsgebietes durch
einen Streifen unbewohnten Landes. Aber gerade dieser Zustand ändert sich
im Laufe der Jahrhunderte. Mit zunehmender Besiedlung des Vorlandes, mit
dem steigenden Wert des Bodens arbeiten sich Mönche und Bauern die Hänge
und Täter empor, hinauf bis zum Kamm und zur Paßhöhe. Ja oft folgen
sie darüber hinaus dem Händler bis dahin, wo vom jenseitigen Fuß der
Berge ihnen Mitbewerber entgegentreten. Durch diesen Vorgang aber verliert
das Gebirge an Grenzwert. Das ursprünglich breite und einsame Grenz¬
gebiet geht allmählich über in eine Grenzlinie, und das um so vollständiger,
je zugänglicher und bewohnbarer das Gebirge ist, und je mehr die Verkehrs¬
technik fortschreitet. Die so entstandene Linie innerhalb des Gebirges aber
liegt nun nicht ohne weiteres fest. Im friedlichen oder blutigen Wettkampf
wird sie hin und her geschoben. Der Grenzstreit hat begonnen.

Aber auch wenn die Siedler von beiden Seiten nicht bis zur Fühlung
sich nähern, so entsteht doch mit der Zeit und fortschreitender Landeskenntnis
das Verlangen nach Ersatz des unbestimmten Grenzgebietes durch die Grenz¬
linie. Und hier hat sich denn schon früh der Begriff der Wasserscheide als
Helfer eingestellt. Durch ihn kann jederzeit in jedem Gebirge — und wir
sprechen nur von Gebirgswasserscheiden — eine ziemlich genaue Linie auf¬
gefunden werden, welche verspricht, beide Teile zu ihrem Recht kommen zu
lassen. Sie kann von fern her vertragsmäßig festgelegt werden und gilt auch
heute noch völkerrechtlich im Zweifelsfall als Grenze. So sehen wir denn diese
Linie mit dem Anspruch auftreten, eine allgemein gültige Entscheidung in Ge-
birgsgrenzfragen zu sein.

Neben der Eigenschaft dieser Linie, eindeutig zu sein und in der Regel
annähernd zu halbieren, gilt es nun aber, noch eins hervorzuheben, was ihr
vor allem zu ihrer Bedeutung verholfen hat. Sie fällt meist zusammen mit
dem Gebirgsteil. der der höchste und am schwersten zugängliche ist, der viel¬
leicht wenig oder gar nicht besiedelt ist. Hier stößt jener oben beschriebene
Prozeß gegenseitiger Annäherung auf die stärksten Hindernisse. Es gibt
jedoch sehr gewichtige Ausnahmen. Die Alpen sind leichter von Norden nach
Süden zu überschreiten, als in umgekehrter Richtung. Es kann hier nicht er¬
örtert werden, wie das mit dem südlichen Steilabfall des Gebirges und seiner
eiszeitlichen Ausräumung durch die Gletscher zusammenhängt. Eine sehr lesens¬
werte Schrift hat kürzlich der Berliner Geograph Albrecht Penck über „die öster¬
reichische Alpengrenze" veröffentlicht. Wir stellen hier nur fest, daß die Völker des
nördlichen Alpenvorlandes sich über die Wasserscheide hinweg nach Süden ausge¬
breitet haben. Ihre „Paß-Staaten" schoben sich bis zum Südrand desGebirges vor.


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[0212] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen Hohe, vereiste und zerklüftete Gebirge gelten als gute natürliche Grenzen. Je wilder und einsamer, je unerschlossener, um so besser eignen sie sich dazu. Wie die Küsten erschweren sie den Angriff und erleichtern die Abwehr, machen auch wohl den Kampf geradezu unmöglich. Auch sie bilden den wenigstens teilweise» Abschluß eines einheitlichen Lebens- d. h. Verkehrsgebietes durch einen Streifen unbewohnten Landes. Aber gerade dieser Zustand ändert sich im Laufe der Jahrhunderte. Mit zunehmender Besiedlung des Vorlandes, mit dem steigenden Wert des Bodens arbeiten sich Mönche und Bauern die Hänge und Täter empor, hinauf bis zum Kamm und zur Paßhöhe. Ja oft folgen sie darüber hinaus dem Händler bis dahin, wo vom jenseitigen Fuß der Berge ihnen Mitbewerber entgegentreten. Durch diesen Vorgang aber verliert das Gebirge an Grenzwert. Das ursprünglich breite und einsame Grenz¬ gebiet geht allmählich über in eine Grenzlinie, und das um so vollständiger, je zugänglicher und bewohnbarer das Gebirge ist, und je mehr die Verkehrs¬ technik fortschreitet. Die so entstandene Linie innerhalb des Gebirges aber liegt nun nicht ohne weiteres fest. Im friedlichen oder blutigen Wettkampf wird sie hin und her geschoben. Der Grenzstreit hat begonnen. Aber auch wenn die Siedler von beiden Seiten nicht bis zur Fühlung sich nähern, so entsteht doch mit der Zeit und fortschreitender Landeskenntnis das Verlangen nach Ersatz des unbestimmten Grenzgebietes durch die Grenz¬ linie. Und hier hat sich denn schon früh der Begriff der Wasserscheide als Helfer eingestellt. Durch ihn kann jederzeit in jedem Gebirge — und wir sprechen nur von Gebirgswasserscheiden — eine ziemlich genaue Linie auf¬ gefunden werden, welche verspricht, beide Teile zu ihrem Recht kommen zu lassen. Sie kann von fern her vertragsmäßig festgelegt werden und gilt auch heute noch völkerrechtlich im Zweifelsfall als Grenze. So sehen wir denn diese Linie mit dem Anspruch auftreten, eine allgemein gültige Entscheidung in Ge- birgsgrenzfragen zu sein. Neben der Eigenschaft dieser Linie, eindeutig zu sein und in der Regel annähernd zu halbieren, gilt es nun aber, noch eins hervorzuheben, was ihr vor allem zu ihrer Bedeutung verholfen hat. Sie fällt meist zusammen mit dem Gebirgsteil. der der höchste und am schwersten zugängliche ist, der viel¬ leicht wenig oder gar nicht besiedelt ist. Hier stößt jener oben beschriebene Prozeß gegenseitiger Annäherung auf die stärksten Hindernisse. Es gibt jedoch sehr gewichtige Ausnahmen. Die Alpen sind leichter von Norden nach Süden zu überschreiten, als in umgekehrter Richtung. Es kann hier nicht er¬ örtert werden, wie das mit dem südlichen Steilabfall des Gebirges und seiner eiszeitlichen Ausräumung durch die Gletscher zusammenhängt. Eine sehr lesens¬ werte Schrift hat kürzlich der Berliner Geograph Albrecht Penck über „die öster¬ reichische Alpengrenze" veröffentlicht. Wir stellen hier nur fest, daß die Völker des nördlichen Alpenvorlandes sich über die Wasserscheide hinweg nach Süden ausge¬ breitet haben. Ihre „Paß-Staaten" schoben sich bis zum Südrand desGebirges vor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/212>, abgerufen am 26.05.2024.