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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Eine natürliche Grenze, die sich in den Verkehrsmöglichkeiten nicht besser wieder¬
spiegelt, kann aber offenbar nicht allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Die
italienische Forderung der Alpenwasserscheide als Grenze muß zurückgewiesen
werden.

Die Alpen als ganzes sind schon längst nicht mehr eine einwandfreie natür¬
liche Grenze. Eine naturgegebene Linie innerhalb ihrer Berge, die Wasserscheide,
kann gleichfalls dafür nicht in Betracht kommen. Bei der Suche nach einem
Ersatz aber ist uns eine politische Grenze im Alter von mehreren Jahrhunderten
ein Fingerzeig, die Südgrenze Tirols. Sie lehnt sich nämlich an eine Kette
von Engpässen an. Es finden sich hier am Fuß des Gebirges bessere natürliche
Grenzbedingungen als auf dem Kamm, nämlich Verkehrserschwerung und günstige
Verteidigungsgelegenheit. Und doch muß der Grenzwert auch dieser Linie der
Technik unserer Tage immer mehr weichen, wie er ja auch nicht das Vor¬
dringen der italienischen Sprache gehindert hat. Wir kommen also zu dem
Ergebnis, daß eine natürliche Grenze, die auch nur annähernd den Wert einer
Küstengrenze hätte, in diesen Gebirgsgegenden nicht vorhanden ist. Der nur
bedingte Wert einer Gebirgsgrenze überhaupt und ihre mannigfaltigen Arten
werden an diesem Beispiel deutlich.

Waldgrenzen sind offenbar noch viel weniger widerstandsfähig. Deutsch¬
land war einst ein Waldland. Die gewöhnliche Grenze zwischen deutschen
Stämmen zur Zeit des Tacitus war der Urwald und das Waldgebirge
mäßiger Höhe. Das Grenzkennzeichen der Unbewohntheit finden wir hier also
wieder. Ja es ist bezeichnend, daß Rodung und Besiedelung des Grenzwaldes
verboten war. Ähnliche Verhältnisse finden wir noch heute, z. B. bei primitiven
Völkern in Afrika. Durch absichtliche Verwüstung umgeben sie sich mit breiten
Streifen öden Landes. So entstehen gewissermaßen Inselstaaten. Ihr Flächen¬
raum ist nur annähernd bestimmbar. Je mächtiger der Stamm, um so aus¬
gedehnter die Grenzwildnis. Solche unbewohnten Grenzgebiete, die auch wohl
als neutrales, beiderseits benutztes Jagdgebiet angesehen werden, find ein
natürlicher Festungsgürtel, eine vorzügliche, natürlich-künstliche Grenze. Doch
schon das Wachstum des eigenen Stammes gefährdet ihren Bestand. Über
kurz oder lang müssen sie, sei es von einer Seite aus, sei es von beiden zu¬
gleich, der Kulturarbeit weichen, und damit geht auch hier das Grenzgebiet in
eine Grenzlinie über. Im Gegensatz zum besiedelten Gebirge ist dann aber
dieser Linie jeder Grenzwert genommen, außer dem historischen. Um ein Bei¬
spiel zu erwähnen, so sind die merkwürdigen Sprachgrenzen in Böhmen da¬
durch entstanden, daß Deutsche von Norden, Westen und Süden her die Grenz¬
wälder Jnnerböhmens röteten. Seit der Vernichtung der natürlichen Grenze
stehen nun Deutsche und Tschechen im Kampf.

Sehr nahe steht der Waldgrenze die vielfach mit ihr vereinigte Sumpf-
und Seengrenze. Der moderne Verkehr und die Bodenkultur verwischen auch
sie immer mehr. Die Nachbarstaaten aber vereinigen sich in der Regel, wie


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Eine natürliche Grenze, die sich in den Verkehrsmöglichkeiten nicht besser wieder¬
spiegelt, kann aber offenbar nicht allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Die
italienische Forderung der Alpenwasserscheide als Grenze muß zurückgewiesen
werden.

Die Alpen als ganzes sind schon längst nicht mehr eine einwandfreie natür¬
liche Grenze. Eine naturgegebene Linie innerhalb ihrer Berge, die Wasserscheide,
kann gleichfalls dafür nicht in Betracht kommen. Bei der Suche nach einem
Ersatz aber ist uns eine politische Grenze im Alter von mehreren Jahrhunderten
ein Fingerzeig, die Südgrenze Tirols. Sie lehnt sich nämlich an eine Kette
von Engpässen an. Es finden sich hier am Fuß des Gebirges bessere natürliche
Grenzbedingungen als auf dem Kamm, nämlich Verkehrserschwerung und günstige
Verteidigungsgelegenheit. Und doch muß der Grenzwert auch dieser Linie der
Technik unserer Tage immer mehr weichen, wie er ja auch nicht das Vor¬
dringen der italienischen Sprache gehindert hat. Wir kommen also zu dem
Ergebnis, daß eine natürliche Grenze, die auch nur annähernd den Wert einer
Küstengrenze hätte, in diesen Gebirgsgegenden nicht vorhanden ist. Der nur
bedingte Wert einer Gebirgsgrenze überhaupt und ihre mannigfaltigen Arten
werden an diesem Beispiel deutlich.

Waldgrenzen sind offenbar noch viel weniger widerstandsfähig. Deutsch¬
land war einst ein Waldland. Die gewöhnliche Grenze zwischen deutschen
Stämmen zur Zeit des Tacitus war der Urwald und das Waldgebirge
mäßiger Höhe. Das Grenzkennzeichen der Unbewohntheit finden wir hier also
wieder. Ja es ist bezeichnend, daß Rodung und Besiedelung des Grenzwaldes
verboten war. Ähnliche Verhältnisse finden wir noch heute, z. B. bei primitiven
Völkern in Afrika. Durch absichtliche Verwüstung umgeben sie sich mit breiten
Streifen öden Landes. So entstehen gewissermaßen Inselstaaten. Ihr Flächen¬
raum ist nur annähernd bestimmbar. Je mächtiger der Stamm, um so aus¬
gedehnter die Grenzwildnis. Solche unbewohnten Grenzgebiete, die auch wohl
als neutrales, beiderseits benutztes Jagdgebiet angesehen werden, find ein
natürlicher Festungsgürtel, eine vorzügliche, natürlich-künstliche Grenze. Doch
schon das Wachstum des eigenen Stammes gefährdet ihren Bestand. Über
kurz oder lang müssen sie, sei es von einer Seite aus, sei es von beiden zu¬
gleich, der Kulturarbeit weichen, und damit geht auch hier das Grenzgebiet in
eine Grenzlinie über. Im Gegensatz zum besiedelten Gebirge ist dann aber
dieser Linie jeder Grenzwert genommen, außer dem historischen. Um ein Bei¬
spiel zu erwähnen, so sind die merkwürdigen Sprachgrenzen in Böhmen da¬
durch entstanden, daß Deutsche von Norden, Westen und Süden her die Grenz¬
wälder Jnnerböhmens röteten. Seit der Vernichtung der natürlichen Grenze
stehen nun Deutsche und Tschechen im Kampf.

Sehr nahe steht der Waldgrenze die vielfach mit ihr vereinigte Sumpf-
und Seengrenze. Der moderne Verkehr und die Bodenkultur verwischen auch
sie immer mehr. Die Nachbarstaaten aber vereinigen sich in der Regel, wie


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[0213] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen Eine natürliche Grenze, die sich in den Verkehrsmöglichkeiten nicht besser wieder¬ spiegelt, kann aber offenbar nicht allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Die italienische Forderung der Alpenwasserscheide als Grenze muß zurückgewiesen werden. Die Alpen als ganzes sind schon längst nicht mehr eine einwandfreie natür¬ liche Grenze. Eine naturgegebene Linie innerhalb ihrer Berge, die Wasserscheide, kann gleichfalls dafür nicht in Betracht kommen. Bei der Suche nach einem Ersatz aber ist uns eine politische Grenze im Alter von mehreren Jahrhunderten ein Fingerzeig, die Südgrenze Tirols. Sie lehnt sich nämlich an eine Kette von Engpässen an. Es finden sich hier am Fuß des Gebirges bessere natürliche Grenzbedingungen als auf dem Kamm, nämlich Verkehrserschwerung und günstige Verteidigungsgelegenheit. Und doch muß der Grenzwert auch dieser Linie der Technik unserer Tage immer mehr weichen, wie er ja auch nicht das Vor¬ dringen der italienischen Sprache gehindert hat. Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß eine natürliche Grenze, die auch nur annähernd den Wert einer Küstengrenze hätte, in diesen Gebirgsgegenden nicht vorhanden ist. Der nur bedingte Wert einer Gebirgsgrenze überhaupt und ihre mannigfaltigen Arten werden an diesem Beispiel deutlich. Waldgrenzen sind offenbar noch viel weniger widerstandsfähig. Deutsch¬ land war einst ein Waldland. Die gewöhnliche Grenze zwischen deutschen Stämmen zur Zeit des Tacitus war der Urwald und das Waldgebirge mäßiger Höhe. Das Grenzkennzeichen der Unbewohntheit finden wir hier also wieder. Ja es ist bezeichnend, daß Rodung und Besiedelung des Grenzwaldes verboten war. Ähnliche Verhältnisse finden wir noch heute, z. B. bei primitiven Völkern in Afrika. Durch absichtliche Verwüstung umgeben sie sich mit breiten Streifen öden Landes. So entstehen gewissermaßen Inselstaaten. Ihr Flächen¬ raum ist nur annähernd bestimmbar. Je mächtiger der Stamm, um so aus¬ gedehnter die Grenzwildnis. Solche unbewohnten Grenzgebiete, die auch wohl als neutrales, beiderseits benutztes Jagdgebiet angesehen werden, find ein natürlicher Festungsgürtel, eine vorzügliche, natürlich-künstliche Grenze. Doch schon das Wachstum des eigenen Stammes gefährdet ihren Bestand. Über kurz oder lang müssen sie, sei es von einer Seite aus, sei es von beiden zu¬ gleich, der Kulturarbeit weichen, und damit geht auch hier das Grenzgebiet in eine Grenzlinie über. Im Gegensatz zum besiedelten Gebirge ist dann aber dieser Linie jeder Grenzwert genommen, außer dem historischen. Um ein Bei¬ spiel zu erwähnen, so sind die merkwürdigen Sprachgrenzen in Böhmen da¬ durch entstanden, daß Deutsche von Norden, Westen und Süden her die Grenz¬ wälder Jnnerböhmens röteten. Seit der Vernichtung der natürlichen Grenze stehen nun Deutsche und Tschechen im Kampf. Sehr nahe steht der Waldgrenze die vielfach mit ihr vereinigte Sumpf- und Seengrenze. Der moderne Verkehr und die Bodenkultur verwischen auch sie immer mehr. Die Nachbarstaaten aber vereinigen sich in der Regel, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/213>, abgerufen am 17.06.2024.