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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Deutsches keben in Riga zu Herders Seit

seine materielle Lage etwas freier, sein Auftreten und Benehmen etwas sicherer
und unbefangener geworden. Aber noch zum Abschied hatte ihn der preußische
Militärstaat an eine drückende Kette erinnert, die er seit langer Zeit mit sich
herumschleppte. Er war in seinem Kantonsbezirk zum Militär eingeschrieben
worden, hatte jahrelang die peinigende Aussicht gehabt, ausgehoben zu werden,
und nun, vor seiner Abreise nach Riga, ließ man ihn den Eid ablegen, er
werde "zurückkehren, wenn er als Soldat requiriert würde". So kann man
es verstehen, daß er später beim Rückblick auf seine Rigaer Zeit die Stadt
anredete:


"Mein zweites holdes Vaterland. . . .
Dein Mutterschoß empfing den Fremdling sanfter
Als sein verjochtes Vaterland! ^.."

Man muß es dem Überschwang des jugendlichen Herder und seinen
schmerzlichen Erfahrungen zugute halten, daß er sich den preußischen Staat
von damals nur unter dem Bilde eines "verjochten" Sklaven vorstellen kann.
Allerdings, es war der Beamten- und Militärstaat Friedrichs des Großen,
der mit bureaukratischer Weisheit zum Wohle der "Untertanen" regierte und
von ihnen vor allen Dingen Gehorsam verlangte! In Riga aber fand
Herder im Gegensatz dazu den Geist der alten hanseatischen Selbständigkeit und
Freiheit, staatsbürgerlichen Gemeinsinn und Bürgerstolz noch durchaus lebendig.

Zwar waren die baltischen Lande nach dem Nordischen Kriege durch den
Frieden von Nystädt (1721) in den Besitz der Russen gekommen. Wer die
Deutschen hatten sich zunächst über die russische Herrschaft durchaus nicht zu be¬
klagen. Sie brachte ihnen nicht nur Frieden und damit die Voraussetzung für
einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern die russische Regierung ließ
auch auf politischem Gebiete den Devtschbalten freien Spielraum zur Betätigung
ihres altgewohnten Bürgersinns. Einem Versprechen Peters des Großen gemäß,
das auch seine Nachfolger innehielten, blieben ihnen ihre altverbrieften Rechte:
Gebrauch der deutschen Sprache. Selbstverwaltung. Rechtspflege durch Einheimische
und nach deutschem Recht, endlich Erhaltung des evangelischen Bekenntnisses.
Nur äußerlich verkörperte die Person eines Generalgouverneurs die russischen
Hoheitsrechte.

So hatte sich auch in Riga die alte hanseatische Freiheit noch erhalten.
Der deutsche Bürger von Riga verwaltete und regierte sein Gemeinwesen selbst.
Die alte Stadtverfassung trug einen ständisch-republikanische" Charakter. Die
Verwaltung lag in den Händen von drei "Ständen": des Rats, der "Großen
Gilde" und der "Kleinen Gilde". Dem Rate gehörten Großkaufleute und Rechts¬
gelehrte an. Die Große Gilde bestand aus Kaufleuten, Goldschmieden, Künstlern
und "Literaten", d. h. Leuten, die eine akademische Bildung genossen hatten.
In der Kleinen Gilde waren die zünftigen Handwerksmeister vertreten*). Diese



") Vgl. B. Tornius, Die baltischen Provinzen. Leipzig und Berlin 1915, S. 68 ff.
(Aus Natur und Geisteswelt. Bd. S42. geb. Pr. 1.26 M.)
Grenzboten I 1917 18
Deutsches keben in Riga zu Herders Seit

seine materielle Lage etwas freier, sein Auftreten und Benehmen etwas sicherer
und unbefangener geworden. Aber noch zum Abschied hatte ihn der preußische
Militärstaat an eine drückende Kette erinnert, die er seit langer Zeit mit sich
herumschleppte. Er war in seinem Kantonsbezirk zum Militär eingeschrieben
worden, hatte jahrelang die peinigende Aussicht gehabt, ausgehoben zu werden,
und nun, vor seiner Abreise nach Riga, ließ man ihn den Eid ablegen, er
werde „zurückkehren, wenn er als Soldat requiriert würde". So kann man
es verstehen, daß er später beim Rückblick auf seine Rigaer Zeit die Stadt
anredete:


„Mein zweites holdes Vaterland. . . .
Dein Mutterschoß empfing den Fremdling sanfter
Als sein verjochtes Vaterland! ^.."

Man muß es dem Überschwang des jugendlichen Herder und seinen
schmerzlichen Erfahrungen zugute halten, daß er sich den preußischen Staat
von damals nur unter dem Bilde eines „verjochten" Sklaven vorstellen kann.
Allerdings, es war der Beamten- und Militärstaat Friedrichs des Großen,
der mit bureaukratischer Weisheit zum Wohle der „Untertanen" regierte und
von ihnen vor allen Dingen Gehorsam verlangte! In Riga aber fand
Herder im Gegensatz dazu den Geist der alten hanseatischen Selbständigkeit und
Freiheit, staatsbürgerlichen Gemeinsinn und Bürgerstolz noch durchaus lebendig.

Zwar waren die baltischen Lande nach dem Nordischen Kriege durch den
Frieden von Nystädt (1721) in den Besitz der Russen gekommen. Wer die
Deutschen hatten sich zunächst über die russische Herrschaft durchaus nicht zu be¬
klagen. Sie brachte ihnen nicht nur Frieden und damit die Voraussetzung für
einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern die russische Regierung ließ
auch auf politischem Gebiete den Devtschbalten freien Spielraum zur Betätigung
ihres altgewohnten Bürgersinns. Einem Versprechen Peters des Großen gemäß,
das auch seine Nachfolger innehielten, blieben ihnen ihre altverbrieften Rechte:
Gebrauch der deutschen Sprache. Selbstverwaltung. Rechtspflege durch Einheimische
und nach deutschem Recht, endlich Erhaltung des evangelischen Bekenntnisses.
Nur äußerlich verkörperte die Person eines Generalgouverneurs die russischen
Hoheitsrechte.

So hatte sich auch in Riga die alte hanseatische Freiheit noch erhalten.
Der deutsche Bürger von Riga verwaltete und regierte sein Gemeinwesen selbst.
Die alte Stadtverfassung trug einen ständisch-republikanische» Charakter. Die
Verwaltung lag in den Händen von drei „Ständen": des Rats, der „Großen
Gilde" und der „Kleinen Gilde". Dem Rate gehörten Großkaufleute und Rechts¬
gelehrte an. Die Große Gilde bestand aus Kaufleuten, Goldschmieden, Künstlern
und „Literaten", d. h. Leuten, die eine akademische Bildung genossen hatten.
In der Kleinen Gilde waren die zünftigen Handwerksmeister vertreten*). Diese



») Vgl. B. Tornius, Die baltischen Provinzen. Leipzig und Berlin 1915, S. 68 ff.
(Aus Natur und Geisteswelt. Bd. S42. geb. Pr. 1.26 M.)
Grenzboten I 1917 18
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[0285] Deutsches keben in Riga zu Herders Seit seine materielle Lage etwas freier, sein Auftreten und Benehmen etwas sicherer und unbefangener geworden. Aber noch zum Abschied hatte ihn der preußische Militärstaat an eine drückende Kette erinnert, die er seit langer Zeit mit sich herumschleppte. Er war in seinem Kantonsbezirk zum Militär eingeschrieben worden, hatte jahrelang die peinigende Aussicht gehabt, ausgehoben zu werden, und nun, vor seiner Abreise nach Riga, ließ man ihn den Eid ablegen, er werde „zurückkehren, wenn er als Soldat requiriert würde". So kann man es verstehen, daß er später beim Rückblick auf seine Rigaer Zeit die Stadt anredete: „Mein zweites holdes Vaterland. . . . Dein Mutterschoß empfing den Fremdling sanfter Als sein verjochtes Vaterland! ^.." Man muß es dem Überschwang des jugendlichen Herder und seinen schmerzlichen Erfahrungen zugute halten, daß er sich den preußischen Staat von damals nur unter dem Bilde eines „verjochten" Sklaven vorstellen kann. Allerdings, es war der Beamten- und Militärstaat Friedrichs des Großen, der mit bureaukratischer Weisheit zum Wohle der „Untertanen" regierte und von ihnen vor allen Dingen Gehorsam verlangte! In Riga aber fand Herder im Gegensatz dazu den Geist der alten hanseatischen Selbständigkeit und Freiheit, staatsbürgerlichen Gemeinsinn und Bürgerstolz noch durchaus lebendig. Zwar waren die baltischen Lande nach dem Nordischen Kriege durch den Frieden von Nystädt (1721) in den Besitz der Russen gekommen. Wer die Deutschen hatten sich zunächst über die russische Herrschaft durchaus nicht zu be¬ klagen. Sie brachte ihnen nicht nur Frieden und damit die Voraussetzung für einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern die russische Regierung ließ auch auf politischem Gebiete den Devtschbalten freien Spielraum zur Betätigung ihres altgewohnten Bürgersinns. Einem Versprechen Peters des Großen gemäß, das auch seine Nachfolger innehielten, blieben ihnen ihre altverbrieften Rechte: Gebrauch der deutschen Sprache. Selbstverwaltung. Rechtspflege durch Einheimische und nach deutschem Recht, endlich Erhaltung des evangelischen Bekenntnisses. Nur äußerlich verkörperte die Person eines Generalgouverneurs die russischen Hoheitsrechte. So hatte sich auch in Riga die alte hanseatische Freiheit noch erhalten. Der deutsche Bürger von Riga verwaltete und regierte sein Gemeinwesen selbst. Die alte Stadtverfassung trug einen ständisch-republikanische» Charakter. Die Verwaltung lag in den Händen von drei „Ständen": des Rats, der „Großen Gilde" und der „Kleinen Gilde". Dem Rate gehörten Großkaufleute und Rechts¬ gelehrte an. Die Große Gilde bestand aus Kaufleuten, Goldschmieden, Künstlern und „Literaten", d. h. Leuten, die eine akademische Bildung genossen hatten. In der Kleinen Gilde waren die zünftigen Handwerksmeister vertreten*). Diese ») Vgl. B. Tornius, Die baltischen Provinzen. Leipzig und Berlin 1915, S. 68 ff. (Aus Natur und Geisteswelt. Bd. S42. geb. Pr. 1.26 M.) Grenzboten I 1917 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/285>, abgerufen am 26.05.2024.