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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Deutsches Leben in Riga zu Herders Zeit

korporativ-aristokratische Verfassung, die jedem Deutschen in Riga Gelegenheit
gab zur Mitwirkung im Interesse des gemeinsamen Wohles, war es, auf deren
Boden jener Gemeinsinn, jene tätige Anteilnahme am Wohle des Ganzen er¬
wachsen war, welche Herder an der Rigaer Bürgerschaft als etwas ihm ganz
Neues und Ungewohntes bewunderte. Eine sorgfältig abgestufte Verteilung der
Rechte und Pflichten gab jedem Deutschen den Stolz, sich als Bürger zu fühlen,
und altehrwürdige Formen, in denen sich die Bedeutung der Ämter und Staats¬
akte widerspiegelte, brachten diesen Stolz nach außenhin zum Ausdruck.

Der Eintritt in dieses freiheitlich-stolze Bürgertum bedeutete auch sür Herder
eine Befreiung: Befreiung von dem bureaukratischen Drucke des preußischen
Militärstaates nicht nur, sondern auch materielle Freiheit und Sicherheit, denn
seine Stellung gewährleistete ihm ausreichende Einkünfte; endlich Befreiung aller
in ihm schlummernden geistigen Fähigkeiten zu segenbringender Tätigkeit unter
ganz neuen und hohen Gesichspunkten. Er selber gesteht später in Briefen an
seine Braut, daß er "in Livland so frei, so ungebunden gelebt, gelehrt und
gehandelt habe", wie niemals wieder. Dabei scheint es so, als ob ihm bei
näherer Bekanntschaft mit dem Rigaer Stadtstaate gerade an ihm und an der
Hingabe der Bürger für ihn aufgegangen sei, was "Vaterland" und was
"Vaterlandsliebe" bedeute. Im Jahre 1765 wurde in Riga das von frei¬
willigen Abgaben erbaute und kurz vorher von der Kaiserin Katharina bei ihrem
Besuche geweihte Gerichtshaus unter feierlichem Gepränge unter Beteiligung
des Rates und der Gilden sowie der Geistlichkeit in Gebrauch genommen.
Auch in der Domschule wurde bei der Gelegenheit ein Festakt abgehalten, bei
dem Herder nach Angabe seines Freundes, des späteren Bürgermeisters Wilpert,
die Festrede gehalten hat, während Herders Biograph Haym die aus diesem
Anlaß verfaßte Abhandlung: "Haben wir noch jetzt das Publikum und Vater¬
land der Alten?" nur als eine Festschrift ansehen will. Wie dem auch sei:
wenn Herder die Frage, ob wir noch ein Vaterland im Sinne der Alten haben
können, ein Vaterland, dem wir mit voller Hingabe uns widmen können trotz
unserer veränderten politischen Anschauungen und der veränderten Stellung der
Religion zum Staate, wenn er diese Frage im zweiten Teile jener Abhandlung
bejaht, so waren es sicher nicht feine preußischen, sondern seine Rigaer Er¬
fahrungen, die ihn dazu bewogen. Und wenn er am Schlüsse die Hoffnung
ausdrückt, daß es auch einem Fremden möglich sein werde, als Patriot zu
arbeiten und "außer dem Geburtslande ein Vaterland durch Verdienste zu er¬
werben", so geht daraus deutlich hervor, wie sehr Herder sich als Bürger dieses
Gemeinwesens zu fühlen wünschte, das er bewunderte, wie sehr er ein Rigaer
Patriot zu werden wünschte*).



*) Vgl. R. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Berlin 1880.
S- 108 ff., und Herders Hymne "Zur Feyer der Beziehung des neuen Gerichtshauses zu
Riga", die den Schluß der oben im Text erwähnten Abhandlung bildete.
Deutsches Leben in Riga zu Herders Zeit

korporativ-aristokratische Verfassung, die jedem Deutschen in Riga Gelegenheit
gab zur Mitwirkung im Interesse des gemeinsamen Wohles, war es, auf deren
Boden jener Gemeinsinn, jene tätige Anteilnahme am Wohle des Ganzen er¬
wachsen war, welche Herder an der Rigaer Bürgerschaft als etwas ihm ganz
Neues und Ungewohntes bewunderte. Eine sorgfältig abgestufte Verteilung der
Rechte und Pflichten gab jedem Deutschen den Stolz, sich als Bürger zu fühlen,
und altehrwürdige Formen, in denen sich die Bedeutung der Ämter und Staats¬
akte widerspiegelte, brachten diesen Stolz nach außenhin zum Ausdruck.

Der Eintritt in dieses freiheitlich-stolze Bürgertum bedeutete auch sür Herder
eine Befreiung: Befreiung von dem bureaukratischen Drucke des preußischen
Militärstaates nicht nur, sondern auch materielle Freiheit und Sicherheit, denn
seine Stellung gewährleistete ihm ausreichende Einkünfte; endlich Befreiung aller
in ihm schlummernden geistigen Fähigkeiten zu segenbringender Tätigkeit unter
ganz neuen und hohen Gesichspunkten. Er selber gesteht später in Briefen an
seine Braut, daß er „in Livland so frei, so ungebunden gelebt, gelehrt und
gehandelt habe", wie niemals wieder. Dabei scheint es so, als ob ihm bei
näherer Bekanntschaft mit dem Rigaer Stadtstaate gerade an ihm und an der
Hingabe der Bürger für ihn aufgegangen sei, was „Vaterland" und was
„Vaterlandsliebe" bedeute. Im Jahre 1765 wurde in Riga das von frei¬
willigen Abgaben erbaute und kurz vorher von der Kaiserin Katharina bei ihrem
Besuche geweihte Gerichtshaus unter feierlichem Gepränge unter Beteiligung
des Rates und der Gilden sowie der Geistlichkeit in Gebrauch genommen.
Auch in der Domschule wurde bei der Gelegenheit ein Festakt abgehalten, bei
dem Herder nach Angabe seines Freundes, des späteren Bürgermeisters Wilpert,
die Festrede gehalten hat, während Herders Biograph Haym die aus diesem
Anlaß verfaßte Abhandlung: „Haben wir noch jetzt das Publikum und Vater¬
land der Alten?" nur als eine Festschrift ansehen will. Wie dem auch sei:
wenn Herder die Frage, ob wir noch ein Vaterland im Sinne der Alten haben
können, ein Vaterland, dem wir mit voller Hingabe uns widmen können trotz
unserer veränderten politischen Anschauungen und der veränderten Stellung der
Religion zum Staate, wenn er diese Frage im zweiten Teile jener Abhandlung
bejaht, so waren es sicher nicht feine preußischen, sondern seine Rigaer Er¬
fahrungen, die ihn dazu bewogen. Und wenn er am Schlüsse die Hoffnung
ausdrückt, daß es auch einem Fremden möglich sein werde, als Patriot zu
arbeiten und „außer dem Geburtslande ein Vaterland durch Verdienste zu er¬
werben", so geht daraus deutlich hervor, wie sehr Herder sich als Bürger dieses
Gemeinwesens zu fühlen wünschte, das er bewunderte, wie sehr er ein Rigaer
Patriot zu werden wünschte*).



*) Vgl. R. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Berlin 1880.
S- 108 ff., und Herders Hymne „Zur Feyer der Beziehung des neuen Gerichtshauses zu
Riga", die den Schluß der oben im Text erwähnten Abhandlung bildete.
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[0286] Deutsches Leben in Riga zu Herders Zeit korporativ-aristokratische Verfassung, die jedem Deutschen in Riga Gelegenheit gab zur Mitwirkung im Interesse des gemeinsamen Wohles, war es, auf deren Boden jener Gemeinsinn, jene tätige Anteilnahme am Wohle des Ganzen er¬ wachsen war, welche Herder an der Rigaer Bürgerschaft als etwas ihm ganz Neues und Ungewohntes bewunderte. Eine sorgfältig abgestufte Verteilung der Rechte und Pflichten gab jedem Deutschen den Stolz, sich als Bürger zu fühlen, und altehrwürdige Formen, in denen sich die Bedeutung der Ämter und Staats¬ akte widerspiegelte, brachten diesen Stolz nach außenhin zum Ausdruck. Der Eintritt in dieses freiheitlich-stolze Bürgertum bedeutete auch sür Herder eine Befreiung: Befreiung von dem bureaukratischen Drucke des preußischen Militärstaates nicht nur, sondern auch materielle Freiheit und Sicherheit, denn seine Stellung gewährleistete ihm ausreichende Einkünfte; endlich Befreiung aller in ihm schlummernden geistigen Fähigkeiten zu segenbringender Tätigkeit unter ganz neuen und hohen Gesichspunkten. Er selber gesteht später in Briefen an seine Braut, daß er „in Livland so frei, so ungebunden gelebt, gelehrt und gehandelt habe", wie niemals wieder. Dabei scheint es so, als ob ihm bei näherer Bekanntschaft mit dem Rigaer Stadtstaate gerade an ihm und an der Hingabe der Bürger für ihn aufgegangen sei, was „Vaterland" und was „Vaterlandsliebe" bedeute. Im Jahre 1765 wurde in Riga das von frei¬ willigen Abgaben erbaute und kurz vorher von der Kaiserin Katharina bei ihrem Besuche geweihte Gerichtshaus unter feierlichem Gepränge unter Beteiligung des Rates und der Gilden sowie der Geistlichkeit in Gebrauch genommen. Auch in der Domschule wurde bei der Gelegenheit ein Festakt abgehalten, bei dem Herder nach Angabe seines Freundes, des späteren Bürgermeisters Wilpert, die Festrede gehalten hat, während Herders Biograph Haym die aus diesem Anlaß verfaßte Abhandlung: „Haben wir noch jetzt das Publikum und Vater¬ land der Alten?" nur als eine Festschrift ansehen will. Wie dem auch sei: wenn Herder die Frage, ob wir noch ein Vaterland im Sinne der Alten haben können, ein Vaterland, dem wir mit voller Hingabe uns widmen können trotz unserer veränderten politischen Anschauungen und der veränderten Stellung der Religion zum Staate, wenn er diese Frage im zweiten Teile jener Abhandlung bejaht, so waren es sicher nicht feine preußischen, sondern seine Rigaer Er¬ fahrungen, die ihn dazu bewogen. Und wenn er am Schlüsse die Hoffnung ausdrückt, daß es auch einem Fremden möglich sein werde, als Patriot zu arbeiten und „außer dem Geburtslande ein Vaterland durch Verdienste zu er¬ werben", so geht daraus deutlich hervor, wie sehr Herder sich als Bürger dieses Gemeinwesens zu fühlen wünschte, das er bewunderte, wie sehr er ein Rigaer Patriot zu werden wünschte*). *) Vgl. R. Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Berlin 1880. S- 108 ff., und Herders Hymne „Zur Feyer der Beziehung des neuen Gerichtshauses zu Riga", die den Schluß der oben im Text erwähnten Abhandlung bildete.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/286>, abgerufen am 17.06.2024.