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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als Lebensform

universalistische Denkungsart, wird der deutsche Glaube an "konkrete Allgemein¬
heit", wie Hegel sagt, gewonnen, wenn er nicht schon im Blute steckt.

So nennt denn Kjellen die Staaten (abgesehen von der Bezeichnung:
Rechtssubjekt) "Persönlichkeiten", "Wesen", "geschichtlich gegebene Realitäten",
"sittliche Organisationen" -- und überall werden wir die darin sich aus¬
sprechende Ehrerbietung vor den großen allgemeinen Kräften würdigen und
billigen. Aber Kjellen geht noch weiter, er will den Staaten ein natürliches
Dasein zusprechen, wie den Menschen selbst, er sieht in ihnen "natürliche, lebende
Organismen", "überindividuelle Leben ebenso wirklich wie die Privatindividuen" --
und hier ist der Punkt, wo sich auch die universalistisch gerichteten Geister unter
sich scheiden.

Jellinek, selbst ein Kollektivist, der den Staat als Verbandseinheit (juristisch
und genauer gesprochen als Rechtssubjekt) auffaßt, bekämpft doch mit guten
Gründen Gierkes Lehre von den Staaten als "natürlichen und wirklichen
Lebenseinheiten" ("Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft". XXX. 302),
als real existierenden Organismen transzendenter Art. Wohl könne man. führt
er aus. sich den Staat als "Wesen" vorstellen. Man sei sogar gezwungen, sich
"jede reale Einheit (die der Staat auch für Jellineck ist) denknotwendig zu
substanziieren". Indem wir uns dadurch "einen einheitlichen Träger der Ver¬
bandseinheit schaffen, wenden wir nur eine zur Synthese der Erscheinungen
denknotwendige Kategorie an, die erkenntnistheoretische Berechtigung hat, solange
wir dem durch sie Erkannten keine transzendente Realität zuschreiben."
"Diese als Wesen zu denkenden Einheiten gehören ebenso unserer subjektiven
Welt an wie Farben und Töne." Sie besitzen empirische Realität für unsere
innere Erfahrung ebenso wie die reinen Anschauungen Kants: Raum und Zeit
Aber jenen Synthesen objektive Wahrheit zuzumessen, bedeutet einen "Sprung
vom Empirischen ins Metaphysische." Diese Bedenken kann man auch gegen¬
über Kjellen. der hier ganz in Gierkes Fußstapfen tritt, nur wiederholen. Einen
Beweis vermag natürlich keine Partei zu erbringen. Es handelt sich, wie Max
Weber sehr richtig bemerkt, um "Hypostasierung von Gefühlsinhalten". Welt¬
anschauung spielt, wie Gierke selber zugibt, dabei eine Rolle trotz des einenden
universalistischen Grundgedankens und mit einem "Glaubensbekenntnis" geht
man "der ganzen erkenntnistheoretischen Frage aus dem Wege" (Jellinek).

Ein Beweis läßt sich nicht führen, aber es verrät andererseits auch wenig
geistige Tiefe, wenn man, wie das Oskar Kraus-Prag (in einer Einleitung zu
Benthams "principles ok international lan" in deutscher Übersetzung) getan
hat. die Auffassung vom Staate als einer "selbständigen lebenden Wesenheit"
(Kraus polemisiert gegen Wundt, einen Anhänger des Organismusgedankens)
kurzerhand als "blutleere Ausgeburt einer fiktionsschwangeren Juristenphantasie"
verwirft und bespöttelt. Sofern es sich um die Anwendung jener oben er¬
wähnten zur Synthese der Erscheinungen denknotwendigen Kategorie handelt,
kann von einer "Fiktion" überhaupt nicht die Rede sein, und an dem wunder-


Der Staat als Lebensform

universalistische Denkungsart, wird der deutsche Glaube an „konkrete Allgemein¬
heit", wie Hegel sagt, gewonnen, wenn er nicht schon im Blute steckt.

So nennt denn Kjellen die Staaten (abgesehen von der Bezeichnung:
Rechtssubjekt) „Persönlichkeiten", „Wesen", „geschichtlich gegebene Realitäten",
„sittliche Organisationen" — und überall werden wir die darin sich aus¬
sprechende Ehrerbietung vor den großen allgemeinen Kräften würdigen und
billigen. Aber Kjellen geht noch weiter, er will den Staaten ein natürliches
Dasein zusprechen, wie den Menschen selbst, er sieht in ihnen „natürliche, lebende
Organismen", „überindividuelle Leben ebenso wirklich wie die Privatindividuen" —
und hier ist der Punkt, wo sich auch die universalistisch gerichteten Geister unter
sich scheiden.

Jellinek, selbst ein Kollektivist, der den Staat als Verbandseinheit (juristisch
und genauer gesprochen als Rechtssubjekt) auffaßt, bekämpft doch mit guten
Gründen Gierkes Lehre von den Staaten als „natürlichen und wirklichen
Lebenseinheiten" („Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft". XXX. 302),
als real existierenden Organismen transzendenter Art. Wohl könne man. führt
er aus. sich den Staat als „Wesen" vorstellen. Man sei sogar gezwungen, sich
„jede reale Einheit (die der Staat auch für Jellineck ist) denknotwendig zu
substanziieren". Indem wir uns dadurch „einen einheitlichen Träger der Ver¬
bandseinheit schaffen, wenden wir nur eine zur Synthese der Erscheinungen
denknotwendige Kategorie an, die erkenntnistheoretische Berechtigung hat, solange
wir dem durch sie Erkannten keine transzendente Realität zuschreiben."
„Diese als Wesen zu denkenden Einheiten gehören ebenso unserer subjektiven
Welt an wie Farben und Töne." Sie besitzen empirische Realität für unsere
innere Erfahrung ebenso wie die reinen Anschauungen Kants: Raum und Zeit
Aber jenen Synthesen objektive Wahrheit zuzumessen, bedeutet einen „Sprung
vom Empirischen ins Metaphysische." Diese Bedenken kann man auch gegen¬
über Kjellen. der hier ganz in Gierkes Fußstapfen tritt, nur wiederholen. Einen
Beweis vermag natürlich keine Partei zu erbringen. Es handelt sich, wie Max
Weber sehr richtig bemerkt, um „Hypostasierung von Gefühlsinhalten". Welt¬
anschauung spielt, wie Gierke selber zugibt, dabei eine Rolle trotz des einenden
universalistischen Grundgedankens und mit einem „Glaubensbekenntnis" geht
man „der ganzen erkenntnistheoretischen Frage aus dem Wege" (Jellinek).

Ein Beweis läßt sich nicht führen, aber es verrät andererseits auch wenig
geistige Tiefe, wenn man, wie das Oskar Kraus-Prag (in einer Einleitung zu
Benthams «principles ok international lan" in deutscher Übersetzung) getan
hat. die Auffassung vom Staate als einer „selbständigen lebenden Wesenheit"
(Kraus polemisiert gegen Wundt, einen Anhänger des Organismusgedankens)
kurzerhand als „blutleere Ausgeburt einer fiktionsschwangeren Juristenphantasie"
verwirft und bespöttelt. Sofern es sich um die Anwendung jener oben er¬
wähnten zur Synthese der Erscheinungen denknotwendigen Kategorie handelt,
kann von einer „Fiktion" überhaupt nicht die Rede sein, und an dem wunder-


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[0265] Der Staat als Lebensform universalistische Denkungsart, wird der deutsche Glaube an „konkrete Allgemein¬ heit", wie Hegel sagt, gewonnen, wenn er nicht schon im Blute steckt. So nennt denn Kjellen die Staaten (abgesehen von der Bezeichnung: Rechtssubjekt) „Persönlichkeiten", „Wesen", „geschichtlich gegebene Realitäten", „sittliche Organisationen" — und überall werden wir die darin sich aus¬ sprechende Ehrerbietung vor den großen allgemeinen Kräften würdigen und billigen. Aber Kjellen geht noch weiter, er will den Staaten ein natürliches Dasein zusprechen, wie den Menschen selbst, er sieht in ihnen „natürliche, lebende Organismen", „überindividuelle Leben ebenso wirklich wie die Privatindividuen" — und hier ist der Punkt, wo sich auch die universalistisch gerichteten Geister unter sich scheiden. Jellinek, selbst ein Kollektivist, der den Staat als Verbandseinheit (juristisch und genauer gesprochen als Rechtssubjekt) auffaßt, bekämpft doch mit guten Gründen Gierkes Lehre von den Staaten als „natürlichen und wirklichen Lebenseinheiten" („Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft". XXX. 302), als real existierenden Organismen transzendenter Art. Wohl könne man. führt er aus. sich den Staat als „Wesen" vorstellen. Man sei sogar gezwungen, sich „jede reale Einheit (die der Staat auch für Jellineck ist) denknotwendig zu substanziieren". Indem wir uns dadurch „einen einheitlichen Träger der Ver¬ bandseinheit schaffen, wenden wir nur eine zur Synthese der Erscheinungen denknotwendige Kategorie an, die erkenntnistheoretische Berechtigung hat, solange wir dem durch sie Erkannten keine transzendente Realität zuschreiben." „Diese als Wesen zu denkenden Einheiten gehören ebenso unserer subjektiven Welt an wie Farben und Töne." Sie besitzen empirische Realität für unsere innere Erfahrung ebenso wie die reinen Anschauungen Kants: Raum und Zeit Aber jenen Synthesen objektive Wahrheit zuzumessen, bedeutet einen „Sprung vom Empirischen ins Metaphysische." Diese Bedenken kann man auch gegen¬ über Kjellen. der hier ganz in Gierkes Fußstapfen tritt, nur wiederholen. Einen Beweis vermag natürlich keine Partei zu erbringen. Es handelt sich, wie Max Weber sehr richtig bemerkt, um „Hypostasierung von Gefühlsinhalten". Welt¬ anschauung spielt, wie Gierke selber zugibt, dabei eine Rolle trotz des einenden universalistischen Grundgedankens und mit einem „Glaubensbekenntnis" geht man „der ganzen erkenntnistheoretischen Frage aus dem Wege" (Jellinek). Ein Beweis läßt sich nicht führen, aber es verrät andererseits auch wenig geistige Tiefe, wenn man, wie das Oskar Kraus-Prag (in einer Einleitung zu Benthams «principles ok international lan" in deutscher Übersetzung) getan hat. die Auffassung vom Staate als einer „selbständigen lebenden Wesenheit" (Kraus polemisiert gegen Wundt, einen Anhänger des Organismusgedankens) kurzerhand als „blutleere Ausgeburt einer fiktionsschwangeren Juristenphantasie" verwirft und bespöttelt. Sofern es sich um die Anwendung jener oben er¬ wähnten zur Synthese der Erscheinungen denknotwendigen Kategorie handelt, kann von einer „Fiktion" überhaupt nicht die Rede sein, und an dem wunder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/265>, abgerufen am 17.06.2024.