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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als Lebensform

samen "Erleben" von Staat und Nation namentlich im Anfang des Krieges
prallen die häßlichen Worte des fanatischen Individualisten wirkungslos ab,
höchstens, daß sie ihren Erfinder, der wohl kein "Empfinder" war, bedauern
lassen.

Nicht nur die Weltanschauung, sondern auch die Weltkonstellation
"spielt eine Rolle" -- so müssen wir hinzusetzen, wenn wir unser Problem
genauer betrachten. Was in Zeiten der Ruhe und des Gleichgewichts eine
nüchtern urteilende Erkenntniskritik in das Gebiet der Metaphysik verweisen zu
können glaubt, das wird, wenn Stürme der Zeiten die Völkerpsychen aufwühlen,
zwar gewiß noch nicht zur objektiven Realität außerhalb des Bewußtseins der
Individuen, erfüllt diese aber doch so stark mit der Gewißheit seiner Existenz,
daß der Glaube an die lebendige Wirklichkeit jener transzendenten Mächte einen
kaum zu erschütternden Boden erhält. Mit anderen Worten, die statische und die
dynamische Betrachtung führen zu verschiedenen Resultaten.

In einem ebenso kurzen wie gedankentiefen Kapitel seines Buches vom
"Genius des Krieges" sagt Max Scheler über die "Realität" der Nation: "Eine
erste Erkenntnis, die der Krieg möglich gemacht hat. .. ist die Erkenntnis der
Realität der Nation als geistiger Gesamtperson .. . Im Frieden ist die Nation
für ihre Glieder mehr ein symbolischer Begriff als ein anschauliches, Selbst¬
erlebtes selbstdaseiendes Etwas (Scheler spricht von der gleichsam schlafenden
Nationalpersönlichkeit, ähnlich hat sich Meinecke ausgedrückt); mehr eine kompli¬
zierte Kollektion und Relation (vgl. Jellineks "Rechtssubjekt") als eine Sub-
stanzielle Person. Erst im Kriege wird dieser Begriff mit jener Anschauung
und jenem geheimen Leben erfüllt, die auch noch im Frieden sein, hier nur
für Anschauung und Gefühl unerreichbares Fundament bilden.... Jetzt erst
meinen wir voll das große geistige Wesen zu schauen und zu fühlen, dem wir
alle als seine Glieder angehören und das uns erst jetzt als bloße Glieder
stürmisch zu sich an sein pochendes Herz reißt." In diesen begeisterten Worten
zittert das große Erlebnis der höheren Gemeinschaft nach, wie es eine Welt¬
katastrophe über die Menschen kommen ließ. Es ist ein Sieg universalistischer
Weltanschauung. Auch bei ihren Verneinern! Denn beugt sich nicht ebenso
der individualistisch gerichtete Franzose vor dem gewaltigen Eindruck über¬
individueller Bindungen, nur unter anderem Namen, wenn er das Ideal der
"Nation" über alles erhebt und ,,Ja Trance" ihre Kinder jauchzend in Tod
und Verderben schicken kann? Den Kultus des Staates lehnt Cochin ab ("er
ist unser Beamter, nicht unser Gott"); aber in dem Kultus der Nation findet
auch er den Weg zu "konkreter Allgemeinheit". Hier gelten die sonst denk¬
möglichen Unterschiede zwischen "Staat" und "Nation" für nichts. Deutscher
Staatsmythus, französischer nation-Taumel, österreichische Staatsidee -- sie alle
sind nur individuelle Abwandlungen und Ausdrucksarten ein und derselben
massenpsychologischer Erscheinung, der überwältigenden Idee einer höheren,
realen Lebensgemeinschaft, "Lebensform".


Der Staat als Lebensform

samen „Erleben" von Staat und Nation namentlich im Anfang des Krieges
prallen die häßlichen Worte des fanatischen Individualisten wirkungslos ab,
höchstens, daß sie ihren Erfinder, der wohl kein „Empfinder" war, bedauern
lassen.

Nicht nur die Weltanschauung, sondern auch die Weltkonstellation
„spielt eine Rolle" — so müssen wir hinzusetzen, wenn wir unser Problem
genauer betrachten. Was in Zeiten der Ruhe und des Gleichgewichts eine
nüchtern urteilende Erkenntniskritik in das Gebiet der Metaphysik verweisen zu
können glaubt, das wird, wenn Stürme der Zeiten die Völkerpsychen aufwühlen,
zwar gewiß noch nicht zur objektiven Realität außerhalb des Bewußtseins der
Individuen, erfüllt diese aber doch so stark mit der Gewißheit seiner Existenz,
daß der Glaube an die lebendige Wirklichkeit jener transzendenten Mächte einen
kaum zu erschütternden Boden erhält. Mit anderen Worten, die statische und die
dynamische Betrachtung führen zu verschiedenen Resultaten.

In einem ebenso kurzen wie gedankentiefen Kapitel seines Buches vom
„Genius des Krieges" sagt Max Scheler über die „Realität" der Nation: „Eine
erste Erkenntnis, die der Krieg möglich gemacht hat. .. ist die Erkenntnis der
Realität der Nation als geistiger Gesamtperson .. . Im Frieden ist die Nation
für ihre Glieder mehr ein symbolischer Begriff als ein anschauliches, Selbst¬
erlebtes selbstdaseiendes Etwas (Scheler spricht von der gleichsam schlafenden
Nationalpersönlichkeit, ähnlich hat sich Meinecke ausgedrückt); mehr eine kompli¬
zierte Kollektion und Relation (vgl. Jellineks „Rechtssubjekt") als eine Sub-
stanzielle Person. Erst im Kriege wird dieser Begriff mit jener Anschauung
und jenem geheimen Leben erfüllt, die auch noch im Frieden sein, hier nur
für Anschauung und Gefühl unerreichbares Fundament bilden.... Jetzt erst
meinen wir voll das große geistige Wesen zu schauen und zu fühlen, dem wir
alle als seine Glieder angehören und das uns erst jetzt als bloße Glieder
stürmisch zu sich an sein pochendes Herz reißt." In diesen begeisterten Worten
zittert das große Erlebnis der höheren Gemeinschaft nach, wie es eine Welt¬
katastrophe über die Menschen kommen ließ. Es ist ein Sieg universalistischer
Weltanschauung. Auch bei ihren Verneinern! Denn beugt sich nicht ebenso
der individualistisch gerichtete Franzose vor dem gewaltigen Eindruck über¬
individueller Bindungen, nur unter anderem Namen, wenn er das Ideal der
„Nation" über alles erhebt und ,,Ja Trance" ihre Kinder jauchzend in Tod
und Verderben schicken kann? Den Kultus des Staates lehnt Cochin ab („er
ist unser Beamter, nicht unser Gott"); aber in dem Kultus der Nation findet
auch er den Weg zu „konkreter Allgemeinheit". Hier gelten die sonst denk¬
möglichen Unterschiede zwischen „Staat" und „Nation" für nichts. Deutscher
Staatsmythus, französischer nation-Taumel, österreichische Staatsidee — sie alle
sind nur individuelle Abwandlungen und Ausdrucksarten ein und derselben
massenpsychologischer Erscheinung, der überwältigenden Idee einer höheren,
realen Lebensgemeinschaft, „Lebensform".


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[0266] Der Staat als Lebensform samen „Erleben" von Staat und Nation namentlich im Anfang des Krieges prallen die häßlichen Worte des fanatischen Individualisten wirkungslos ab, höchstens, daß sie ihren Erfinder, der wohl kein „Empfinder" war, bedauern lassen. Nicht nur die Weltanschauung, sondern auch die Weltkonstellation „spielt eine Rolle" — so müssen wir hinzusetzen, wenn wir unser Problem genauer betrachten. Was in Zeiten der Ruhe und des Gleichgewichts eine nüchtern urteilende Erkenntniskritik in das Gebiet der Metaphysik verweisen zu können glaubt, das wird, wenn Stürme der Zeiten die Völkerpsychen aufwühlen, zwar gewiß noch nicht zur objektiven Realität außerhalb des Bewußtseins der Individuen, erfüllt diese aber doch so stark mit der Gewißheit seiner Existenz, daß der Glaube an die lebendige Wirklichkeit jener transzendenten Mächte einen kaum zu erschütternden Boden erhält. Mit anderen Worten, die statische und die dynamische Betrachtung führen zu verschiedenen Resultaten. In einem ebenso kurzen wie gedankentiefen Kapitel seines Buches vom „Genius des Krieges" sagt Max Scheler über die „Realität" der Nation: „Eine erste Erkenntnis, die der Krieg möglich gemacht hat. .. ist die Erkenntnis der Realität der Nation als geistiger Gesamtperson .. . Im Frieden ist die Nation für ihre Glieder mehr ein symbolischer Begriff als ein anschauliches, Selbst¬ erlebtes selbstdaseiendes Etwas (Scheler spricht von der gleichsam schlafenden Nationalpersönlichkeit, ähnlich hat sich Meinecke ausgedrückt); mehr eine kompli¬ zierte Kollektion und Relation (vgl. Jellineks „Rechtssubjekt") als eine Sub- stanzielle Person. Erst im Kriege wird dieser Begriff mit jener Anschauung und jenem geheimen Leben erfüllt, die auch noch im Frieden sein, hier nur für Anschauung und Gefühl unerreichbares Fundament bilden.... Jetzt erst meinen wir voll das große geistige Wesen zu schauen und zu fühlen, dem wir alle als seine Glieder angehören und das uns erst jetzt als bloße Glieder stürmisch zu sich an sein pochendes Herz reißt." In diesen begeisterten Worten zittert das große Erlebnis der höheren Gemeinschaft nach, wie es eine Welt¬ katastrophe über die Menschen kommen ließ. Es ist ein Sieg universalistischer Weltanschauung. Auch bei ihren Verneinern! Denn beugt sich nicht ebenso der individualistisch gerichtete Franzose vor dem gewaltigen Eindruck über¬ individueller Bindungen, nur unter anderem Namen, wenn er das Ideal der „Nation" über alles erhebt und ,,Ja Trance" ihre Kinder jauchzend in Tod und Verderben schicken kann? Den Kultus des Staates lehnt Cochin ab („er ist unser Beamter, nicht unser Gott"); aber in dem Kultus der Nation findet auch er den Weg zu „konkreter Allgemeinheit". Hier gelten die sonst denk¬ möglichen Unterschiede zwischen „Staat" und „Nation" für nichts. Deutscher Staatsmythus, französischer nation-Taumel, österreichische Staatsidee — sie alle sind nur individuelle Abwandlungen und Ausdrucksarten ein und derselben massenpsychologischer Erscheinung, der überwältigenden Idee einer höheren, realen Lebensgemeinschaft, „Lebensform".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/266>, abgerufen am 27.05.2024.