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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

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"Gerade in den Jahren 1871 bis 1873
schnellten die Mietpreise und schnellten
die Preise der Baustellen, der unbebauten
Grundstücke und Häuser gar kolossal em¬
por, -- Ich sollte meinen, die einfache
Tatsache, daß einem zurückkehrenden Krieger
die Miete gesteigert, oder, weil er mit einer
großen Familie gesegnet ist, die Wohnung
gekündigt wird, hat zehnmal mehr aufhetzend
gewirkt, als irgend etwas, was die Sozial¬
demokratie theoretisch oder Praktisch vertreten
hat," So unser allbekannte, kürzlich ver¬
storbene, Volkswirtschaftler, Exzellenz Adolph
Wagner in seiner Schrift: "Wohnungsnot
und städtische Bodenfrage",

Welche Wirkungen diese allgemeine Woh¬
nungsnot, dieser offensichtliche Mißbrauch mit
dem Boden auf das -- namentlich gro߬
städtische -- Volk ausübte, zeigt, neben der Tat¬
sache des Berliner Barrikadenbaues, der Um¬
stand, daß der damalige Berliner sozial¬
demokratische Kandidat 2623 Stimmen erhielt
(Januar 1874), gegen 82 Stimmen im März
1871. Aber nicht nur in Berlin, auch in
anderen Industriezentren waren die Ver¬
hältnisse ähnliche. Der Sieg, den wir er¬
rungen hatten, barg allzuviel Gefahren in
sich, zumal man nicht der sich ergebenden
inneren Zwiespältigkeiten Herr werden konnte.
Machtlos stand man den eingetretenen anor¬
mal-sozialen Verhältnissen gegenüber.

Wie stellte sich die Wissenschaft zu diesen
Schäden? I^ÄiZser tsire, lsisser aller, le
morale va cle lui-nunc, das war das Heil¬
mittel, das die Volkswirtschaftler dem zer¬
klüfteten, kranken sozialen Körper verschrieben,
in dem starken Glauben an die Unumstö߬
lichkeit dieses vor ihr erzeugten Naturrecht¬
dogmas und die kraftaussölmende Wirkung
des (zu stark) verabreichten Gesundungs¬
mittels. Und konnte dieses Prinzip der
Freiheit, des ungehinderten Geschehenlassens
als Organisationsprinzip dienen, wo doch
radikalster Subjektivismus proklamiert wurde?
So herrschte nicht Harmonie der wirtschaft¬
lich-sozialen Interessen, sondern ein wahres
Chaos radikal-doktrinärer Tendenzen, die
im Kapitalismus mit seiner Ausstapelung
kapitalisierter Mengen, mit seiner Spelu-
lationswut gegenüber "dem Fleiß der So¬

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lidität des Schaffens", ihren würdigen Ver¬
treter fanden.

Hand in Hand mit der Wohnungsnot der
siebziger Jahre war eine unverdiente Wert¬
steigerung des Grund und Bodens gegangen,
Wertsteigerungen von 33Vg bis 100 Prozent
waren an der Tagesordnung. So war es
gar nicht Wunders, wenn sich in der Ent¬
wicklung der deutschen Arbeiterbewegung so¬
zialdemokratische Prinzipien einbürgerten, die
die oben erwähnte rapide Stimmensteigerung
bewirkten, "Ist auch nur ein Taler der fran¬
zösischen Milliarden verwandt worden, um
die auf die Straße geworfenen Berliner Ar¬
beiterfamilien unter Dach zu bringen I"
(Engel.) Alle diese inneren Zerwürfnisse
nahmen schließlich noch schärfere Formen an
und lösten Tendenzen aus, die in der Auf¬
lösung der absoluten Monarchie, des feudalen
Grundeigentums gipfelten. Noch ist es leb¬
haft in jedermanns Gedächtnis, als Liebknecht
den Krieg mit dem Zwischenruf: "Kapital¬
interessen!" verwarf und den Boden der
"Unabhängigen Sozialdemokratie" schuf, die
aus den Zweifeln und Verzweiflungen (an
den staatlich unzulänglichen Fürsorgema߬
nahmen) unserer nach dem Kriege heim¬
kehrenden Vaterlandsverteidiger eine staats¬
verneinende Mehrheit emporsprießen sieht.

Diese "unabhängigen sozialdemokratischen"
Gedankengänge müssen in das Reich der Fabel
versetzt werden! Lassen wir an den Bildern
der siebziger Jahre genug sein und die Woh¬
nungskrise unmittelbar nach dem Friedens¬
schluß, wenn unsere Millionen und aber Mil¬
lionen Feldgrauer in ihre bürgerlichen Ver¬
hältnisse zurückströmen, nicht eintreten.

Nun einige Betrachtungen mehr Psycho¬
logischer Art: Schon vor dem "In Szene
treten" dieses Weltendramas waren in der
Bevölkerung Bewegungen bemerkbar, die von
der Stadt, von dem Elend der Großstadt-
Mietskaserne, nach dem Land, den beschei¬
denen mit Garten versehenen Eigenheimen
drängten. Eine Bewegung, die nur freudig
zu begrüßen war. Unsere Krieger nunmehr,
die den Anschluß mit der Natur wieder¬
gefunden, schließlich auch in der Etappe mit
Garten- und Feldarbeiten beschäftigt wurden,
auch sie werden ein freies Leben inmitten

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„Gerade in den Jahren 1871 bis 1873
schnellten die Mietpreise und schnellten
die Preise der Baustellen, der unbebauten
Grundstücke und Häuser gar kolossal em¬
por, — Ich sollte meinen, die einfache
Tatsache, daß einem zurückkehrenden Krieger
die Miete gesteigert, oder, weil er mit einer
großen Familie gesegnet ist, die Wohnung
gekündigt wird, hat zehnmal mehr aufhetzend
gewirkt, als irgend etwas, was die Sozial¬
demokratie theoretisch oder Praktisch vertreten
hat," So unser allbekannte, kürzlich ver¬
storbene, Volkswirtschaftler, Exzellenz Adolph
Wagner in seiner Schrift: „Wohnungsnot
und städtische Bodenfrage",

Welche Wirkungen diese allgemeine Woh¬
nungsnot, dieser offensichtliche Mißbrauch mit
dem Boden auf das — namentlich gro߬
städtische — Volk ausübte, zeigt, neben der Tat¬
sache des Berliner Barrikadenbaues, der Um¬
stand, daß der damalige Berliner sozial¬
demokratische Kandidat 2623 Stimmen erhielt
(Januar 1874), gegen 82 Stimmen im März
1871. Aber nicht nur in Berlin, auch in
anderen Industriezentren waren die Ver¬
hältnisse ähnliche. Der Sieg, den wir er¬
rungen hatten, barg allzuviel Gefahren in
sich, zumal man nicht der sich ergebenden
inneren Zwiespältigkeiten Herr werden konnte.
Machtlos stand man den eingetretenen anor¬
mal-sozialen Verhältnissen gegenüber.

Wie stellte sich die Wissenschaft zu diesen
Schäden? I^ÄiZser tsire, lsisser aller, le
morale va cle lui-nunc, das war das Heil¬
mittel, das die Volkswirtschaftler dem zer¬
klüfteten, kranken sozialen Körper verschrieben,
in dem starken Glauben an die Unumstö߬
lichkeit dieses vor ihr erzeugten Naturrecht¬
dogmas und die kraftaussölmende Wirkung
des (zu stark) verabreichten Gesundungs¬
mittels. Und konnte dieses Prinzip der
Freiheit, des ungehinderten Geschehenlassens
als Organisationsprinzip dienen, wo doch
radikalster Subjektivismus proklamiert wurde?
So herrschte nicht Harmonie der wirtschaft¬
lich-sozialen Interessen, sondern ein wahres
Chaos radikal-doktrinärer Tendenzen, die
im Kapitalismus mit seiner Ausstapelung
kapitalisierter Mengen, mit seiner Spelu-
lationswut gegenüber „dem Fleiß der So¬

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lidität des Schaffens", ihren würdigen Ver¬
treter fanden.

Hand in Hand mit der Wohnungsnot der
siebziger Jahre war eine unverdiente Wert¬
steigerung des Grund und Bodens gegangen,
Wertsteigerungen von 33Vg bis 100 Prozent
waren an der Tagesordnung. So war es
gar nicht Wunders, wenn sich in der Ent¬
wicklung der deutschen Arbeiterbewegung so¬
zialdemokratische Prinzipien einbürgerten, die
die oben erwähnte rapide Stimmensteigerung
bewirkten, „Ist auch nur ein Taler der fran¬
zösischen Milliarden verwandt worden, um
die auf die Straße geworfenen Berliner Ar¬
beiterfamilien unter Dach zu bringen I"
(Engel.) Alle diese inneren Zerwürfnisse
nahmen schließlich noch schärfere Formen an
und lösten Tendenzen aus, die in der Auf¬
lösung der absoluten Monarchie, des feudalen
Grundeigentums gipfelten. Noch ist es leb¬
haft in jedermanns Gedächtnis, als Liebknecht
den Krieg mit dem Zwischenruf: „Kapital¬
interessen!" verwarf und den Boden der
„Unabhängigen Sozialdemokratie" schuf, die
aus den Zweifeln und Verzweiflungen (an
den staatlich unzulänglichen Fürsorgema߬
nahmen) unserer nach dem Kriege heim¬
kehrenden Vaterlandsverteidiger eine staats¬
verneinende Mehrheit emporsprießen sieht.

Diese „unabhängigen sozialdemokratischen"
Gedankengänge müssen in das Reich der Fabel
versetzt werden! Lassen wir an den Bildern
der siebziger Jahre genug sein und die Woh¬
nungskrise unmittelbar nach dem Friedens¬
schluß, wenn unsere Millionen und aber Mil¬
lionen Feldgrauer in ihre bürgerlichen Ver¬
hältnisse zurückströmen, nicht eintreten.

Nun einige Betrachtungen mehr Psycho¬
logischer Art: Schon vor dem „In Szene
treten" dieses Weltendramas waren in der
Bevölkerung Bewegungen bemerkbar, die von
der Stadt, von dem Elend der Großstadt-
Mietskaserne, nach dem Land, den beschei¬
denen mit Garten versehenen Eigenheimen
drängten. Eine Bewegung, die nur freudig
zu begrüßen war. Unsere Krieger nunmehr,
die den Anschluß mit der Natur wieder¬
gefunden, schließlich auch in der Etappe mit
Garten- und Feldarbeiten beschäftigt wurden,
auch sie werden ein freies Leben inmitten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/272>, abgerufen am 10.06.2024.