Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.Demobilisierung der weiblichen industriellen Armee Daß sie bei den Pflichtmitgliedern fünf- bis sechsmal so häufig sind als bei Hinzu kommt der ungünstige Einfluß, den diese Arbeit auf die Kinder selbst Stillhäufigkeit und Stilldauer beeinflussen aber nicht nur die Säuglings- *) Medizinische Statistik. Jena 1906,
Demobilisierung der weiblichen industriellen Armee Daß sie bei den Pflichtmitgliedern fünf- bis sechsmal so häufig sind als bei Hinzu kommt der ungünstige Einfluß, den diese Arbeit auf die Kinder selbst Stillhäufigkeit und Stilldauer beeinflussen aber nicht nur die Säuglings- *) Medizinische Statistik. Jena 1906,
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0141" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333624"/> <fw type="header" place="top"> Demobilisierung der weiblichen industriellen Armee</fw><lb/> <p xml:id="ID_501" prev="#ID_500"> Daß sie bei den Pflichtmitgliedern fünf- bis sechsmal so häufig sind als bei<lb/> den nicht erw erbstätigen freiwillig Versicherten, weist mit Notwendigkeit auf den<lb/> ungünstigen Einfluß der Arbeit hin. Die Zahl der Fehlgeburten bei den Jn-<lb/> dustriearbeiterinnen hat nun in der Kriegszeit in geradezu erschreckendem Maße<lb/> zugenommen, wie der Jahresbericht einer großen Berliner Betriebskrankenkasse<lb/> zeigt. Dabei spielen verbrecherische Eingriffe sicherlich eine große Rolle, aber<lb/> nicht nur, wie man meinen sollte, bei den ledigen, sondern in ungeahntem Maße<lb/> auch bei den verheirateten Arbeiterinnen. So standen bei den verheirateten Mit¬<lb/> gliedern im Jahre 1915 100 zu normaler Zeit erfolgenden Geburtsfällen 47,43<lb/> Fehlgeburten gegenüber und 1916 sogar 64,29! Bei den Ledigen lauten die ent¬<lb/> sprechenden Zahlen 73,36 und 57,61. Hier ist also im letzten Berichtsjahr die<lb/> Zahl der Fehlgeburten sogar geringer gewesen als bei den Ehefrauen. Unter<lb/> Berücksichtigung des Versicherungsverhältnisses ergibt sich, daß bei den erwerbs-<lb/> tätigen Pflichtmitgliedern (ledige und verheiratete zusammengerechnet) daS Ver¬<lb/> hältnis der rechtzeitigen Geburtsfälle zu den Fehlgeburten sich wie 100 : 1901<lb/> stellt. Diese Arbeiterinnenklasse weist also beinahe doppelt soviel Fehlgeburten<lb/> wie Geburten auf. Bei den nicht erwerbstätigen freiwillig Versicherten entsprechen<lb/> dagegen 100 rechtzeitigen nur 4,75 Fehlgeburten, trotzdem in dieser Klasse sich die<lb/> Zahl der ledigen Mütter zu derjenigen der verheirateten wie 2 : 3 verhält, also<lb/> auch hier, wie man meinen sollte, der Anreiz zur Beseitigung der Schwangerschaft<lb/> in ziemlich großem Umfang vorhanden ist. Man könnte geneigt sein, hieraus zu<lb/> schließen, daß bei den Versicherungspflichtigen in erster Linie nicht der freie Wille,<lb/> sondern die anstrengende Arbeit zur Fehlgeburt geführt hat. Aber selbst wenn<lb/> wir das Umgekehrte annehmen wollten, bleibt die entsittlichende Wirkung der<lb/> Erwerbstätigkeit bestehen. Fügen wir noch hinzu, daß von 103 (natürlichen)<lb/> Todesfällen weiblicher Kassenmitglieder 15, das sind 14,56 Prozent im Anschluß<lb/> an eine Fehlgeburt erfolgen, und daß nach ärztlicher Erfahrung viele, Unfrucht¬<lb/> barkeit bedingende Frauenleiber von einer Fehlgeburt ihren Ausgang nehmen, so<lb/> vervollständigt sich damit das Bild von der verheerenden Einwirkung der in¬<lb/> dustriellen Arbeit auf die Geschlechtstätigkeit der Frau.</p><lb/> <p xml:id="ID_502"> Hinzu kommt der ungünstige Einfluß, den diese Arbeit auf die Kinder selbst<lb/> ausübt. Das Gewicht der Neugeborenen ist erfahrungsgemäß für deren weitere<lb/> Entwicklung von Bedeutung. Dasselbe hängt in erheblichem Maße ab von der<lb/> Schonzeit, welche die Mutter vor der Entbindung genießt. Die Fabrikarbeiterin<lb/> kann aber im Höchstfall nur 14 Tage vor der Geburt auf Grund der Gesetzgebung<lb/> Arbeitsruhe beanspruchen. Ihre Kinder zeigen dementsprechend ein verhältnis¬<lb/> mäßig geringes Geburtsgewicht und entbehren damit einen gewissen Schutz nament¬<lb/> lich in den stark bedrohten ersten Lebensmonaten. Ihre Gefährdung erhöht sich<lb/> ouch den Mangel an natürlicher Nahrung; denn die tagsüber außer dem Hause<lb/> tätige Mutter ist in den seltensten Fällen in der Lage, ihrer Stillpflicht im vollen,<lb/> natürlichen Umfange nachzukommen. So kommt es, daß in dem stark industriellen<lb/> Königreich Sachsen die Säuglingssterblichkeit viel höher ist, als in Ländern mit<lb/> geringerer weiblicher Jndustriearbeit und daß sie, wie Prinzing") gezeigt hat, in<lb/> den verschiedenen Amtshauptmannschaften mit der Zahl der arbeitenden Frauen<lb/> ansteigt. So betrug sie, um nur ein Beispiel herauszugreifen, im Durchschnitt<lb/> der Jahre 1890 bis 1895 in der A. H. Kmnenz, wo nur 43,6 von tausend Frauen<lb/> w Fabriken beschäftigt waren, 21,7 Prozent: in der A. H. Zwicken dagegen bei<lb/> 186.3 vom Tausend Fabrikarbeiterinnen 29,9 Prozent. Aus Plauen wurde seinerzeit<lb/> berichtet, daß, während die Gesamtsterblichkeit erheblich abnahm, die Säuglings-<lb/> sterblichkeit mit der Zunahme der Fabriken stieg.</p><lb/> <p xml:id="ID_503" next="#ID_504"> Stillhäufigkeit und Stilldauer beeinflussen aber nicht nur die Säuglings-<lb/> sterblichkeit, sondern auch die weitere körperliche Entwicklung der Kinder. Mangel<lb/> an natürlicher Nahrung im Säuglingsalter begünstigt die Entwicklung der Rachitis<lb/> (sogenannte englische Krankheit); und diese sich vorwiegend am Knochensystem ab-</p><lb/> <note xml:id="FID_20" place="foot"> *) Medizinische Statistik. Jena 1906,</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0141]
Demobilisierung der weiblichen industriellen Armee
Daß sie bei den Pflichtmitgliedern fünf- bis sechsmal so häufig sind als bei
den nicht erw erbstätigen freiwillig Versicherten, weist mit Notwendigkeit auf den
ungünstigen Einfluß der Arbeit hin. Die Zahl der Fehlgeburten bei den Jn-
dustriearbeiterinnen hat nun in der Kriegszeit in geradezu erschreckendem Maße
zugenommen, wie der Jahresbericht einer großen Berliner Betriebskrankenkasse
zeigt. Dabei spielen verbrecherische Eingriffe sicherlich eine große Rolle, aber
nicht nur, wie man meinen sollte, bei den ledigen, sondern in ungeahntem Maße
auch bei den verheirateten Arbeiterinnen. So standen bei den verheirateten Mit¬
gliedern im Jahre 1915 100 zu normaler Zeit erfolgenden Geburtsfällen 47,43
Fehlgeburten gegenüber und 1916 sogar 64,29! Bei den Ledigen lauten die ent¬
sprechenden Zahlen 73,36 und 57,61. Hier ist also im letzten Berichtsjahr die
Zahl der Fehlgeburten sogar geringer gewesen als bei den Ehefrauen. Unter
Berücksichtigung des Versicherungsverhältnisses ergibt sich, daß bei den erwerbs-
tätigen Pflichtmitgliedern (ledige und verheiratete zusammengerechnet) daS Ver¬
hältnis der rechtzeitigen Geburtsfälle zu den Fehlgeburten sich wie 100 : 1901
stellt. Diese Arbeiterinnenklasse weist also beinahe doppelt soviel Fehlgeburten
wie Geburten auf. Bei den nicht erwerbstätigen freiwillig Versicherten entsprechen
dagegen 100 rechtzeitigen nur 4,75 Fehlgeburten, trotzdem in dieser Klasse sich die
Zahl der ledigen Mütter zu derjenigen der verheirateten wie 2 : 3 verhält, also
auch hier, wie man meinen sollte, der Anreiz zur Beseitigung der Schwangerschaft
in ziemlich großem Umfang vorhanden ist. Man könnte geneigt sein, hieraus zu
schließen, daß bei den Versicherungspflichtigen in erster Linie nicht der freie Wille,
sondern die anstrengende Arbeit zur Fehlgeburt geführt hat. Aber selbst wenn
wir das Umgekehrte annehmen wollten, bleibt die entsittlichende Wirkung der
Erwerbstätigkeit bestehen. Fügen wir noch hinzu, daß von 103 (natürlichen)
Todesfällen weiblicher Kassenmitglieder 15, das sind 14,56 Prozent im Anschluß
an eine Fehlgeburt erfolgen, und daß nach ärztlicher Erfahrung viele, Unfrucht¬
barkeit bedingende Frauenleiber von einer Fehlgeburt ihren Ausgang nehmen, so
vervollständigt sich damit das Bild von der verheerenden Einwirkung der in¬
dustriellen Arbeit auf die Geschlechtstätigkeit der Frau.
Hinzu kommt der ungünstige Einfluß, den diese Arbeit auf die Kinder selbst
ausübt. Das Gewicht der Neugeborenen ist erfahrungsgemäß für deren weitere
Entwicklung von Bedeutung. Dasselbe hängt in erheblichem Maße ab von der
Schonzeit, welche die Mutter vor der Entbindung genießt. Die Fabrikarbeiterin
kann aber im Höchstfall nur 14 Tage vor der Geburt auf Grund der Gesetzgebung
Arbeitsruhe beanspruchen. Ihre Kinder zeigen dementsprechend ein verhältnis¬
mäßig geringes Geburtsgewicht und entbehren damit einen gewissen Schutz nament¬
lich in den stark bedrohten ersten Lebensmonaten. Ihre Gefährdung erhöht sich
ouch den Mangel an natürlicher Nahrung; denn die tagsüber außer dem Hause
tätige Mutter ist in den seltensten Fällen in der Lage, ihrer Stillpflicht im vollen,
natürlichen Umfange nachzukommen. So kommt es, daß in dem stark industriellen
Königreich Sachsen die Säuglingssterblichkeit viel höher ist, als in Ländern mit
geringerer weiblicher Jndustriearbeit und daß sie, wie Prinzing") gezeigt hat, in
den verschiedenen Amtshauptmannschaften mit der Zahl der arbeitenden Frauen
ansteigt. So betrug sie, um nur ein Beispiel herauszugreifen, im Durchschnitt
der Jahre 1890 bis 1895 in der A. H. Kmnenz, wo nur 43,6 von tausend Frauen
w Fabriken beschäftigt waren, 21,7 Prozent: in der A. H. Zwicken dagegen bei
186.3 vom Tausend Fabrikarbeiterinnen 29,9 Prozent. Aus Plauen wurde seinerzeit
berichtet, daß, während die Gesamtsterblichkeit erheblich abnahm, die Säuglings-
sterblichkeit mit der Zunahme der Fabriken stieg.
Stillhäufigkeit und Stilldauer beeinflussen aber nicht nur die Säuglings-
sterblichkeit, sondern auch die weitere körperliche Entwicklung der Kinder. Mangel
an natürlicher Nahrung im Säuglingsalter begünstigt die Entwicklung der Rachitis
(sogenannte englische Krankheit); und diese sich vorwiegend am Knochensystem ab-
*) Medizinische Statistik. Jena 1906,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |