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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

lieren, wird die Wählerschaft unbeschadet ihrer
vollkommenen Wahlrechtsgleichheit in drei
Bildungsklassen eingeteilt, und es wird ver¬
langt, daß die zum Wahlerfolge nötigen
Stimmen sich auf alle Klassen proportional
der Wählsrzahl verteilen, überschüssige Stim¬
men der Gewählten, ebenso alle Stimmen
Nichtgewählter können nach besonderen Vor¬
schriften innerhalb der Klassen auf Parteifreunde
übertragen werden, die ihrer bedürfen.

Der Vorschlag sucht den Gleichheitsgrund¬
satz in der denkbar vollkommensten Weise zu
verwirklichen, wie sich darin zeigt, daß die
durch die Gewählten vertretenen Wähler¬
gruppen nicht nur zahlenmäßig gleich stark,
sondern auch aus Angehörigen der verschie¬
denen Bildungsstufen gleichartig zusammen¬
gesetzt sind. Die Klasseneinteilung hat hier
nur den Zweck, die sozialen Schichten zu
sondern, um sie um so gleichmäßiger mitein-
ander vermischen zu können. Trotz dieser
sorgfältig durchgeführten Gleichheit, oder viel¬
mehr gerade deshalb ist das kontingentierte
Wahlrecht frei von jeder demokratisierenden
Wirkung. Dies erklärt sich daraus, daß der
Gleichheitsgrundsatz hier nur auf tatsächlich
gleiche Einheiten, nämlich aus die gleichartig
gemischten Wählergruppen angewandt erscheint,
womit ihm seine demokratische Bedeutung
genommen Wird; ferner daraus, daß von
dem demokratischen Mehrheitsprinzip über¬
haupt keine Anwendung gemacht wird, weder
im Verhältnis zwischen den Parteien noch
innerhalb dieser in? Verhältnis der Klassen
zueinander. Den Vorteil davon hat haupt¬
sächlich das überall in der Minderheit be¬
findliche gebildete Bürgertum, dem mit der
Kontingentierung ein selbständiger Einfluß
bei allen Wahlen gesichert wird. Der All¬
gemeinheit bietet der Vorschlag alle Vorteile
des Verhältniswahlrechts, ohne doch mit den
Mängeln der bekannten Listenwahlsysteme
behaftet zu sein. Mit der Beseitigung des
Mehrheitsprinzips und mit der Kontingen¬
tierung wird nicht nur den Parteikämpfen
ihre Schärfe genommen, sondern auch allem
Klassenkampf ein Ende gemacht, da ja bei
dem vorgeschlagenen Wahlverfahren die Be¬
werber genötigt sind, sich um die Gunst aller
Wählerklassen gleichmäßig zu bemühen.

[Spaltenumbruch]
Gerhard Hauptmann, "Der Ketzer von
Soana". S. Fischer, Verlag, Berlin 1918.
Geh. 4 M., geb. 6 M.

Ein Gedicht von dionysischer Schönheit
hat uns Hauptmann in seinem Ketzer von
Soana beschert. Der Vorwurf dieses Werks,
ist nichts als die Zeichnung des mit wach¬
sendem Staunen erfaßten Einsseins von
Natur und Seele, nichts als die dichterische
Verklärung alter metaphysischer Lehren, ein
brausender Lobgesnng auf das Thema: "Es
werde"! Es handelt sich um das Erwachen
eines jungen Priesters inmitten der lenzfrohen
Natur an den südlichen Hängen der Alpen
zum Leben in der Natur und zur Liebe:-
drängender Lebenswille überall, in ihm und
um ihn. Hnuptmann liegt nicht viel an dem
Gerüst der Dichtung, er rührte an das Myste¬
rium des Lebens, wo es sich am deutlichsten
von den Satzungen der Menschen abhebt.
Mit einem Schrei "des Glücks reißt der Faden
der Erzählung, die die Geschichte einer Be¬
kehrung ist: "die zeugende Macht ist die
höchste' Macht, die zeugende Macht ist die
schaffende Macht, Zeugen und Schaffen ist
das gleiche". Dies Bekenntnis erscheint uns
in der Reinheit künstlerischen Schauens und
es ist getragen von dem ganzen Zauber
Hauptmannscher Sprachkunst. Wer mag da
lehrhaft den Finger heben und zu dem
Rausch naivster Lebensbejahung den Kopf
schütteln? Freilich, Zeugen und Schaffen
weisen über sich selbst hinaus und das Ge¬
wordene wirkt schließlich als daS ewig Seiende,
als die Idee. Aber hier handelt es sich nicht
darum, eine philosophische Lehrmeinung zu
begründen. Wer die meisterhafte Erzählung
liest, schweige mit dem Dichter in des Lebens
schaffender Fülle. Mehr denn je ist unsere
Seele aufgetan für die Offenbarung des
Willens zum Leben und zur Macht. Deshalb
grüßen wir den Ketzer von Soana als seinen
Priester. Hauptmann aber ist uns dch ihn
ur
M. A. aufs neue wert geworden.

Reformation und Literatur.

Das litera¬
rische Leben Deutschlands hat durch die Refor¬
mation, die so vielen Zweigen der deutschen
Kultur eine neue Blüte gebracht hat, keinen Auf¬
schwung genommen. Unser Volk ist in das
Zeitalter der Reformation eingetreten mit einer
nüchternen literarischen Alltagskunst ohne hö¬
here Ziele, mit Meistergesang, Fastnachtspiel ^
und bürgerlichem Schauspiel, mit Satirik,
Sittcngedicht und gereimter Zeitung. Einzig
die Gattung des Volkslieds stand in unbe¬
stritten hoher Blüte. Nach den Jahrzehnten
der Reformation finden wir diese Blüte ver¬
welkt, den Tiefstand der übrigen Gattungen
aber unverändert: derber Inhalt bei roher
Form, unter zahllosen Reimereien kaum ein
bleibendes Kunstwerk, nüchterne Alltagslite¬
ratur bei der Masse des Volks und darüber

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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lieren, wird die Wählerschaft unbeschadet ihrer
vollkommenen Wahlrechtsgleichheit in drei
Bildungsklassen eingeteilt, und es wird ver¬
langt, daß die zum Wahlerfolge nötigen
Stimmen sich auf alle Klassen proportional
der Wählsrzahl verteilen, überschüssige Stim¬
men der Gewählten, ebenso alle Stimmen
Nichtgewählter können nach besonderen Vor¬
schriften innerhalb der Klassen auf Parteifreunde
übertragen werden, die ihrer bedürfen.

Der Vorschlag sucht den Gleichheitsgrund¬
satz in der denkbar vollkommensten Weise zu
verwirklichen, wie sich darin zeigt, daß die
durch die Gewählten vertretenen Wähler¬
gruppen nicht nur zahlenmäßig gleich stark,
sondern auch aus Angehörigen der verschie¬
denen Bildungsstufen gleichartig zusammen¬
gesetzt sind. Die Klasseneinteilung hat hier
nur den Zweck, die sozialen Schichten zu
sondern, um sie um so gleichmäßiger mitein-
ander vermischen zu können. Trotz dieser
sorgfältig durchgeführten Gleichheit, oder viel¬
mehr gerade deshalb ist das kontingentierte
Wahlrecht frei von jeder demokratisierenden
Wirkung. Dies erklärt sich daraus, daß der
Gleichheitsgrundsatz hier nur auf tatsächlich
gleiche Einheiten, nämlich aus die gleichartig
gemischten Wählergruppen angewandt erscheint,
womit ihm seine demokratische Bedeutung
genommen Wird; ferner daraus, daß von
dem demokratischen Mehrheitsprinzip über¬
haupt keine Anwendung gemacht wird, weder
im Verhältnis zwischen den Parteien noch
innerhalb dieser in? Verhältnis der Klassen
zueinander. Den Vorteil davon hat haupt¬
sächlich das überall in der Minderheit be¬
findliche gebildete Bürgertum, dem mit der
Kontingentierung ein selbständiger Einfluß
bei allen Wahlen gesichert wird. Der All¬
gemeinheit bietet der Vorschlag alle Vorteile
des Verhältniswahlrechts, ohne doch mit den
Mängeln der bekannten Listenwahlsysteme
behaftet zu sein. Mit der Beseitigung des
Mehrheitsprinzips und mit der Kontingen¬
tierung wird nicht nur den Parteikämpfen
ihre Schärfe genommen, sondern auch allem
Klassenkampf ein Ende gemacht, da ja bei
dem vorgeschlagenen Wahlverfahren die Be¬
werber genötigt sind, sich um die Gunst aller
Wählerklassen gleichmäßig zu bemühen.

[Spaltenumbruch]
Gerhard Hauptmann, „Der Ketzer von
Soana". S. Fischer, Verlag, Berlin 1918.
Geh. 4 M., geb. 6 M.

Ein Gedicht von dionysischer Schönheit
hat uns Hauptmann in seinem Ketzer von
Soana beschert. Der Vorwurf dieses Werks,
ist nichts als die Zeichnung des mit wach¬
sendem Staunen erfaßten Einsseins von
Natur und Seele, nichts als die dichterische
Verklärung alter metaphysischer Lehren, ein
brausender Lobgesnng auf das Thema: „Es
werde"! Es handelt sich um das Erwachen
eines jungen Priesters inmitten der lenzfrohen
Natur an den südlichen Hängen der Alpen
zum Leben in der Natur und zur Liebe:-
drängender Lebenswille überall, in ihm und
um ihn. Hnuptmann liegt nicht viel an dem
Gerüst der Dichtung, er rührte an das Myste¬
rium des Lebens, wo es sich am deutlichsten
von den Satzungen der Menschen abhebt.
Mit einem Schrei "des Glücks reißt der Faden
der Erzählung, die die Geschichte einer Be¬
kehrung ist: „die zeugende Macht ist die
höchste' Macht, die zeugende Macht ist die
schaffende Macht, Zeugen und Schaffen ist
das gleiche". Dies Bekenntnis erscheint uns
in der Reinheit künstlerischen Schauens und
es ist getragen von dem ganzen Zauber
Hauptmannscher Sprachkunst. Wer mag da
lehrhaft den Finger heben und zu dem
Rausch naivster Lebensbejahung den Kopf
schütteln? Freilich, Zeugen und Schaffen
weisen über sich selbst hinaus und das Ge¬
wordene wirkt schließlich als daS ewig Seiende,
als die Idee. Aber hier handelt es sich nicht
darum, eine philosophische Lehrmeinung zu
begründen. Wer die meisterhafte Erzählung
liest, schweige mit dem Dichter in des Lebens
schaffender Fülle. Mehr denn je ist unsere
Seele aufgetan für die Offenbarung des
Willens zum Leben und zur Macht. Deshalb
grüßen wir den Ketzer von Soana als seinen
Priester. Hauptmann aber ist uns dch ihn
ur
M. A. aufs neue wert geworden.

Reformation und Literatur.

Das litera¬
rische Leben Deutschlands hat durch die Refor¬
mation, die so vielen Zweigen der deutschen
Kultur eine neue Blüte gebracht hat, keinen Auf¬
schwung genommen. Unser Volk ist in das
Zeitalter der Reformation eingetreten mit einer
nüchternen literarischen Alltagskunst ohne hö¬
here Ziele, mit Meistergesang, Fastnachtspiel ^
und bürgerlichem Schauspiel, mit Satirik,
Sittcngedicht und gereimter Zeitung. Einzig
die Gattung des Volkslieds stand in unbe¬
stritten hoher Blüte. Nach den Jahrzehnten
der Reformation finden wir diese Blüte ver¬
welkt, den Tiefstand der übrigen Gattungen
aber unverändert: derber Inhalt bei roher
Form, unter zahllosen Reimereien kaum ein
bleibendes Kunstwerk, nüchterne Alltagslite¬
ratur bei der Masse des Volks und darüber

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[0203] Maßgebliches und Unmaßgebliches lieren, wird die Wählerschaft unbeschadet ihrer vollkommenen Wahlrechtsgleichheit in drei Bildungsklassen eingeteilt, und es wird ver¬ langt, daß die zum Wahlerfolge nötigen Stimmen sich auf alle Klassen proportional der Wählsrzahl verteilen, überschüssige Stim¬ men der Gewählten, ebenso alle Stimmen Nichtgewählter können nach besonderen Vor¬ schriften innerhalb der Klassen auf Parteifreunde übertragen werden, die ihrer bedürfen. Der Vorschlag sucht den Gleichheitsgrund¬ satz in der denkbar vollkommensten Weise zu verwirklichen, wie sich darin zeigt, daß die durch die Gewählten vertretenen Wähler¬ gruppen nicht nur zahlenmäßig gleich stark, sondern auch aus Angehörigen der verschie¬ denen Bildungsstufen gleichartig zusammen¬ gesetzt sind. Die Klasseneinteilung hat hier nur den Zweck, die sozialen Schichten zu sondern, um sie um so gleichmäßiger mitein- ander vermischen zu können. Trotz dieser sorgfältig durchgeführten Gleichheit, oder viel¬ mehr gerade deshalb ist das kontingentierte Wahlrecht frei von jeder demokratisierenden Wirkung. Dies erklärt sich daraus, daß der Gleichheitsgrundsatz hier nur auf tatsächlich gleiche Einheiten, nämlich aus die gleichartig gemischten Wählergruppen angewandt erscheint, womit ihm seine demokratische Bedeutung genommen Wird; ferner daraus, daß von dem demokratischen Mehrheitsprinzip über¬ haupt keine Anwendung gemacht wird, weder im Verhältnis zwischen den Parteien noch innerhalb dieser in? Verhältnis der Klassen zueinander. Den Vorteil davon hat haupt¬ sächlich das überall in der Minderheit be¬ findliche gebildete Bürgertum, dem mit der Kontingentierung ein selbständiger Einfluß bei allen Wahlen gesichert wird. Der All¬ gemeinheit bietet der Vorschlag alle Vorteile des Verhältniswahlrechts, ohne doch mit den Mängeln der bekannten Listenwahlsysteme behaftet zu sein. Mit der Beseitigung des Mehrheitsprinzips und mit der Kontingen¬ tierung wird nicht nur den Parteikämpfen ihre Schärfe genommen, sondern auch allem Klassenkampf ein Ende gemacht, da ja bei dem vorgeschlagenen Wahlverfahren die Be¬ werber genötigt sind, sich um die Gunst aller Wählerklassen gleichmäßig zu bemühen. Gerhard Hauptmann, „Der Ketzer von Soana". S. Fischer, Verlag, Berlin 1918. Geh. 4 M., geb. 6 M. Ein Gedicht von dionysischer Schönheit hat uns Hauptmann in seinem Ketzer von Soana beschert. Der Vorwurf dieses Werks, ist nichts als die Zeichnung des mit wach¬ sendem Staunen erfaßten Einsseins von Natur und Seele, nichts als die dichterische Verklärung alter metaphysischer Lehren, ein brausender Lobgesnng auf das Thema: „Es werde"! Es handelt sich um das Erwachen eines jungen Priesters inmitten der lenzfrohen Natur an den südlichen Hängen der Alpen zum Leben in der Natur und zur Liebe:- drängender Lebenswille überall, in ihm und um ihn. Hnuptmann liegt nicht viel an dem Gerüst der Dichtung, er rührte an das Myste¬ rium des Lebens, wo es sich am deutlichsten von den Satzungen der Menschen abhebt. Mit einem Schrei "des Glücks reißt der Faden der Erzählung, die die Geschichte einer Be¬ kehrung ist: „die zeugende Macht ist die höchste' Macht, die zeugende Macht ist die schaffende Macht, Zeugen und Schaffen ist das gleiche". Dies Bekenntnis erscheint uns in der Reinheit künstlerischen Schauens und es ist getragen von dem ganzen Zauber Hauptmannscher Sprachkunst. Wer mag da lehrhaft den Finger heben und zu dem Rausch naivster Lebensbejahung den Kopf schütteln? Freilich, Zeugen und Schaffen weisen über sich selbst hinaus und das Ge¬ wordene wirkt schließlich als daS ewig Seiende, als die Idee. Aber hier handelt es sich nicht darum, eine philosophische Lehrmeinung zu begründen. Wer die meisterhafte Erzählung liest, schweige mit dem Dichter in des Lebens schaffender Fülle. Mehr denn je ist unsere Seele aufgetan für die Offenbarung des Willens zum Leben und zur Macht. Deshalb grüßen wir den Ketzer von Soana als seinen Priester. Hauptmann aber ist uns dch ihn ur M. A. aufs neue wert geworden. Reformation und Literatur. Das litera¬ rische Leben Deutschlands hat durch die Refor¬ mation, die so vielen Zweigen der deutschen Kultur eine neue Blüte gebracht hat, keinen Auf¬ schwung genommen. Unser Volk ist in das Zeitalter der Reformation eingetreten mit einer nüchternen literarischen Alltagskunst ohne hö¬ here Ziele, mit Meistergesang, Fastnachtspiel ^ und bürgerlichem Schauspiel, mit Satirik, Sittcngedicht und gereimter Zeitung. Einzig die Gattung des Volkslieds stand in unbe¬ stritten hoher Blüte. Nach den Jahrzehnten der Reformation finden wir diese Blüte ver¬ welkt, den Tiefstand der übrigen Gattungen aber unverändert: derber Inhalt bei roher Form, unter zahllosen Reimereien kaum ein bleibendes Kunstwerk, nüchterne Alltagslite¬ ratur bei der Masse des Volks und darüber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/203>, abgerufen am 24.05.2024.