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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

eine dünne Decke lateinischer Gslehrtenpocsie
ohne Leben aus der Tiefe.

Sonst haben Zeiten religiöser Vertiefung
fast regelmäßig auch eine Blüte der Kunst
und Literatur cheraufgoführt. Auf die klunia-
censische Klosterreform ist mit den Kreuzzügen
die Blütezeit unserer mittelalterlichen Dichtung
gefolgt, auf Mystik und Franz bon Assise die
Renaissance, auf den Pietisn'ins des achtzehnten
Jahrhunderts die Blüte unseres klassischen
Zeitalters. Aber die Reformation ist für die
weiten Kreise des deutschen Bürgertums kein
religiöses Erlebnis gewesen. Die Glaubens-
kümpfe haben wonige Führer in ihrem Ge¬
wissen ausgefochten -- die Masse war wesent¬
lich verstandesmäßig erregt im Kampf um
kirchliche, Politische und soziale Machtfragen,
ihr Anteil erschöpft sich im Ansturm auf
äußerliche Einrichtungen und Mißbräuche,
So konnte die Reformation für kirchliche und
gesellige Kultur, für Haus und Schule, Staat
und Lebensführung von grundlegender Be¬
deutung werden, eine neue Weltbetrachtung
konnte sie dem Gemüt und der Phantasie
der Vielen nicht bringen, und darum versagte
sie als Grundlage und Ausgangspunkt einer
neuen Kunst und Literatur.

Dagegen hat die Reformation die Talente
stofflich in ihre Bahnen gedrängt. Die Lyrik
wird zum Kirchenlied, es regt sich eine
Gelegenheitsdichtung, die Luthers Werk feiert
oder schmäht, seine Gegner bekämpft oder
unterstützt. Im deutschen und lateinischen
Prosagespräch richtet die Satire den Lichtkegel
ihres Witzes auf bestimmte Zeitereignisse und
Persönlichkeiten, das Schauspiel wird zum
protestantischen Tendenzdrama oder rückt in
Schulaufführungen biblische Stoffe dem Ver¬
ständnis der^ Laien eindringlich nahe. Auf
allen diesen Gebieten leihen die kirchlichen
und religiösen Gedanken auch dem literarischen
Leben Stoff und Charakter, ohne es doch
innerlich umbilden und seinen mittelalterlichen
Geist im Tiefsten überwinden zu können.

Die bedeutsamen Anstöße, die das geistige
Leben Deutschlands von reformatorischer
Seite erhält, dankt es nicht so sehr dem
geschichtlichen Ereignis der Reformation, als
der Genialität des Reformators. Luther hat

[Spaltenumbruch]

als Mann der Tat für Literatur als solche
nicht sonderlich viel übrig gehabt. Im
Schauspiel sieht er das Mittel zum Zweck,
das Lied ist ihm vor allem Bestandteil des
Gottesdienstes, Die Verfasser der Dunkel¬
männerbriefe nennt er Komödianten, die
Dichtungen der Alten wertet er nach ihrem
erziehlichen Inhalt und von allen Künsten
liegt ihm nur die Musik unmittelbar am
Herzen. Aber wo er im Rahmen seiner
eigentlichen Zwecke der Dichtung bedarf, da
meistert er sie mit einem in seiner phantasie¬
armen Zeit erstaunlichen Reichtum an Phan¬
tasie. In seinem Kirchenlied ersteht den
gottbegeisterten Sängern des Alten Testaments
ein Jünger, der in freier Kraft den Psal-
misten fast überfliegt. Seine Bibelübersetzung
erfaßt Geist und Sinn der alten Texte mit
einer Kraft innerlichster Einfühlung und Prägt
sie aus mit einer Sprachgewalt, daß allein
schon der Gewinn, den die nationale Prosa
durch das einzigartigeWerk erfuhr, sie zur litera¬
rischen Großtat stempelt. Der Stilist Luther
führt hier die reine Linie fort, die von den
südwestdeutschen Mystikern des vierzehnten
Jahrhunderts angehoben war. Seinerseits
bestimmt er stilistisches Empfinden und Können
der Mitwelt wie der Folgezeit so nachdrücklich,
wie kein Deutscher vor oder nach ihm. Als
Borbild und gelesenster Schriftsteller hilft er
am gewaltigsten Stoff der neuhochdeutschen
Schriftsprache den entscheidenden Schritt zur
Einheit und Festigung tun und bestimmt auf
weit hinaus den protestantischen Charakter
der neueren deutschen Literatur, in der sein
Geist triebkrüftig fortlebt, wie er die deutsche
Bildung innerlichst durchdrungen hat.

Der Vortrag, mit dem Paul Merker die
400. Wiederkehr des Reformationstags in
Leipzig gefeiert hat*), führt diese Gedanken
schlicht und ansprechend aus, zugleich mit
der geschlossenen Kraft, deren eine Vor¬
stellungsreihe bedarf, die der hergebrachten
Meinung in wesentlichen Punkten widersprechen
Alfred Götze muß.

[Ende Spaltensatz]




Allen Manuskripten ist Porto hmMzlifügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden unir.




"Reformation und Literatur". Ein
Vorirag von Paul Merker. Weimar, Hermann
Böhlcius Nachfolger, 1918. 46 S. 8°. M. S.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

eine dünne Decke lateinischer Gslehrtenpocsie
ohne Leben aus der Tiefe.

Sonst haben Zeiten religiöser Vertiefung
fast regelmäßig auch eine Blüte der Kunst
und Literatur cheraufgoführt. Auf die klunia-
censische Klosterreform ist mit den Kreuzzügen
die Blütezeit unserer mittelalterlichen Dichtung
gefolgt, auf Mystik und Franz bon Assise die
Renaissance, auf den Pietisn'ins des achtzehnten
Jahrhunderts die Blüte unseres klassischen
Zeitalters. Aber die Reformation ist für die
weiten Kreise des deutschen Bürgertums kein
religiöses Erlebnis gewesen. Die Glaubens-
kümpfe haben wonige Führer in ihrem Ge¬
wissen ausgefochten — die Masse war wesent¬
lich verstandesmäßig erregt im Kampf um
kirchliche, Politische und soziale Machtfragen,
ihr Anteil erschöpft sich im Ansturm auf
äußerliche Einrichtungen und Mißbräuche,
So konnte die Reformation für kirchliche und
gesellige Kultur, für Haus und Schule, Staat
und Lebensführung von grundlegender Be¬
deutung werden, eine neue Weltbetrachtung
konnte sie dem Gemüt und der Phantasie
der Vielen nicht bringen, und darum versagte
sie als Grundlage und Ausgangspunkt einer
neuen Kunst und Literatur.

Dagegen hat die Reformation die Talente
stofflich in ihre Bahnen gedrängt. Die Lyrik
wird zum Kirchenlied, es regt sich eine
Gelegenheitsdichtung, die Luthers Werk feiert
oder schmäht, seine Gegner bekämpft oder
unterstützt. Im deutschen und lateinischen
Prosagespräch richtet die Satire den Lichtkegel
ihres Witzes auf bestimmte Zeitereignisse und
Persönlichkeiten, das Schauspiel wird zum
protestantischen Tendenzdrama oder rückt in
Schulaufführungen biblische Stoffe dem Ver¬
ständnis der^ Laien eindringlich nahe. Auf
allen diesen Gebieten leihen die kirchlichen
und religiösen Gedanken auch dem literarischen
Leben Stoff und Charakter, ohne es doch
innerlich umbilden und seinen mittelalterlichen
Geist im Tiefsten überwinden zu können.

Die bedeutsamen Anstöße, die das geistige
Leben Deutschlands von reformatorischer
Seite erhält, dankt es nicht so sehr dem
geschichtlichen Ereignis der Reformation, als
der Genialität des Reformators. Luther hat

[Spaltenumbruch]

als Mann der Tat für Literatur als solche
nicht sonderlich viel übrig gehabt. Im
Schauspiel sieht er das Mittel zum Zweck,
das Lied ist ihm vor allem Bestandteil des
Gottesdienstes, Die Verfasser der Dunkel¬
männerbriefe nennt er Komödianten, die
Dichtungen der Alten wertet er nach ihrem
erziehlichen Inhalt und von allen Künsten
liegt ihm nur die Musik unmittelbar am
Herzen. Aber wo er im Rahmen seiner
eigentlichen Zwecke der Dichtung bedarf, da
meistert er sie mit einem in seiner phantasie¬
armen Zeit erstaunlichen Reichtum an Phan¬
tasie. In seinem Kirchenlied ersteht den
gottbegeisterten Sängern des Alten Testaments
ein Jünger, der in freier Kraft den Psal-
misten fast überfliegt. Seine Bibelübersetzung
erfaßt Geist und Sinn der alten Texte mit
einer Kraft innerlichster Einfühlung und Prägt
sie aus mit einer Sprachgewalt, daß allein
schon der Gewinn, den die nationale Prosa
durch das einzigartigeWerk erfuhr, sie zur litera¬
rischen Großtat stempelt. Der Stilist Luther
führt hier die reine Linie fort, die von den
südwestdeutschen Mystikern des vierzehnten
Jahrhunderts angehoben war. Seinerseits
bestimmt er stilistisches Empfinden und Können
der Mitwelt wie der Folgezeit so nachdrücklich,
wie kein Deutscher vor oder nach ihm. Als
Borbild und gelesenster Schriftsteller hilft er
am gewaltigsten Stoff der neuhochdeutschen
Schriftsprache den entscheidenden Schritt zur
Einheit und Festigung tun und bestimmt auf
weit hinaus den protestantischen Charakter
der neueren deutschen Literatur, in der sein
Geist triebkrüftig fortlebt, wie er die deutsche
Bildung innerlichst durchdrungen hat.

Der Vortrag, mit dem Paul Merker die
400. Wiederkehr des Reformationstags in
Leipzig gefeiert hat*), führt diese Gedanken
schlicht und ansprechend aus, zugleich mit
der geschlossenen Kraft, deren eine Vor¬
stellungsreihe bedarf, die der hergebrachten
Meinung in wesentlichen Punkten widersprechen
Alfred Götze muß.

[Ende Spaltensatz]




Allen Manuskripten ist Porto hmMzlifügen, da andernfalls Sei Ablehnung eine Rücksendung
nicht verbürgt werden unir.




„Reformation und Literatur". Ein
Vorirag von Paul Merker. Weimar, Hermann
Böhlcius Nachfolger, 1918. 46 S. 8°. M. S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333482/204>, abgerufen am 16.06.2024.