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Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr.

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Die Verfassung der Sowjetrepublik

selbst die Freiheit von den Keller des absolutistischen Feudalstaates errangen, aber
den Lohnarbeiter, ihren stummen Bundesgenossen, kaltherzig zum Bürger zweiter
Klasse degradierten. Jetzt macht er den stolzen Bürger zum Paria des sozia¬
listischen Gemeinwesens, der keine Waffen tragen darf und vom Wahlrecht gleich
den Irrsinnigen und Verbrechern ausgeschlossen wird. In Strindoergs "Traumspiel"
sagt der Kohlenträger, ein Vertreter jener "gefährlichen Klasse", zu seinem Kollegen:
Wir müssen wohl bald die Schafotte Herrichten und diesen verfaulten Körper operieren.
Die Bolschewisten haben Schafotte hergerichtet und den verfaulten Körper des
heiligen Nußland so gründlich operiert, daß an seinem Auskommen in dieser
sozialistischen Welt gezweifelt werden muß. Man vergegenwärtige sich: ein Krämer,
der für seine guigehenden Heringe und Gurken einen Ladenjüngling anstellt, ver¬
liert das Wahlrecht, da er gemietete Arbeit in Anspruch nimmt, um den flotten
Verkauf durchführen zu können. Ebenso der tüchtige Bauer, der sich einen Knecht
dingt, um intensiver sein Feld zu bestellen und so neben dem eigenen Zuwachs¬
gewinn doch auch die Produktion zu vermehren, also einen Leitsatz des sozialistischen
Evangeliums zu erfüllen. Welch Hohn aus den Begriff des arbeitenden Volkes,
wenn die Trägheit und Untüchtigkeit durch gesteigerte politische Rechte förmlich
sanktioniert wird! Man schreibt die freie Entwicklung jeder einzelnen Persön¬
lichkeit als stolzen Wahlspruch auf dos Banner der sozialistischen Republik und
erstickt in Wirklichkeit jeden Fortschritt. Mit Recht ist gesagt worden, daß eine
ungeheure Hungersnot über Rußland kommen würde, wenn jeder Bürger der
Republik den Ehrgeiz hätte, das Wahlrecht zu erwerben. Denn dann müßten
die Vertreter von Handel und Industrie, die auf Mietlinge angewiesenen Hotel¬
inhaber und hundert andere Kategorien des öffentlichen Werte- und Kräfteuinsatzes
ihren Beruf an den Nagel hängen. Die freie sozialistische Gesellschaft soll erreicht
werden, indem zunächst einmal der "Massenterror gegen die Bourgeoisie" (Lenin)
und nicht nur gegen diese proklamiert wird. Die Gleichheit und Gerechtigkeit der
Zukunft durch die ärgste Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gegenwart. Das
unterste wird zu oberst gedreht und das oberste zu unterst. In Moskau und
Petersburg hat jeder Arbeiter Anspruch auf zweieinhalbmal so viel Lebensmittel
als der Bourgeois, Damen der Gesellschaft aber verkaufen in den Straßen der
Hauptstadt selbstbereitete Kuchen, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Wieder¬
holt ist erklärt worden, außer dem Anrecht auf einen Spaten und für Greise
Aufenthalt in einem Armenhause habe niemand einen Anspruch, denn sonst könne
die Gleichheit aller nicht durchgeführt werden.

Die Neuerer handeln nach den Rezepten der Homöopathie, aber sie reichen
das Gegengift in so großen Mengen, daß nicht Heilung, sondern größerer Schade
als zuvor die Folge ist.. Dabei glauben sie vielleicht, mit ihrer Eisenbartkur
während einer Übergangszeit auskommen zu können. Die Diktatur des Proletariats
soll sich ja nach Art einer Erziehung von selbst überflüssig machen. Aber abgesehen
davon, daß die Verfassung mit keinem Worte das absurde Wahlrecht als provisorisch be¬
zeichnet, noch niemals in der Geschichte hat der Terror den Weg zurückgefunden, nach
ven er die Gewalten der Tiefe entfesselte. Er erstickte im eigenen Blute. Von allen
Seiten zieht sich das Unwetter gegen die Bolschewiki zusammen. Schon die Außen-
sowjets parieren nicht. Ans den Kreisen der sozialdemokratischen und der sozial-
revolutionären Partei erhebt sich schärfster Protest gegen die zügellose Tyrannei, die
den Teufel des Zarismus durch den Beelzebub der Anarchie zu vertreiben sucht.
Dazu die Gefahren der auswärtigen Lage! Je mehr sich die jetzigen Regierenden
Großrußlanvs ihrer Ohnmacht bewußt werden, desto verzweifelter suchen sie ihr
Heil in verschärften Schrecken. Das Ende aber kann nicht lange auf sich warten lassen.

Die Verfassung vom 11. Juli 1918 wird nie zu wirklichem Leben erwachen.
Trotz idealen Willens, denen man ihnen nicht abstreiten wird, haben die Bolsche¬
wisten ihre eigenen Theorien gründlich aä absuräum geführt, und die leiden¬
schaftslos urteilende Geschichte schreibt auch über ihr Werk wie über alle ähn¬
D lichen Bestrebungen seit Platos Zeiten das eine Wort: Utopie.




Die Verfassung der Sowjetrepublik

selbst die Freiheit von den Keller des absolutistischen Feudalstaates errangen, aber
den Lohnarbeiter, ihren stummen Bundesgenossen, kaltherzig zum Bürger zweiter
Klasse degradierten. Jetzt macht er den stolzen Bürger zum Paria des sozia¬
listischen Gemeinwesens, der keine Waffen tragen darf und vom Wahlrecht gleich
den Irrsinnigen und Verbrechern ausgeschlossen wird. In Strindoergs „Traumspiel"
sagt der Kohlenträger, ein Vertreter jener „gefährlichen Klasse", zu seinem Kollegen:
Wir müssen wohl bald die Schafotte Herrichten und diesen verfaulten Körper operieren.
Die Bolschewisten haben Schafotte hergerichtet und den verfaulten Körper des
heiligen Nußland so gründlich operiert, daß an seinem Auskommen in dieser
sozialistischen Welt gezweifelt werden muß. Man vergegenwärtige sich: ein Krämer,
der für seine guigehenden Heringe und Gurken einen Ladenjüngling anstellt, ver¬
liert das Wahlrecht, da er gemietete Arbeit in Anspruch nimmt, um den flotten
Verkauf durchführen zu können. Ebenso der tüchtige Bauer, der sich einen Knecht
dingt, um intensiver sein Feld zu bestellen und so neben dem eigenen Zuwachs¬
gewinn doch auch die Produktion zu vermehren, also einen Leitsatz des sozialistischen
Evangeliums zu erfüllen. Welch Hohn aus den Begriff des arbeitenden Volkes,
wenn die Trägheit und Untüchtigkeit durch gesteigerte politische Rechte förmlich
sanktioniert wird! Man schreibt die freie Entwicklung jeder einzelnen Persön¬
lichkeit als stolzen Wahlspruch auf dos Banner der sozialistischen Republik und
erstickt in Wirklichkeit jeden Fortschritt. Mit Recht ist gesagt worden, daß eine
ungeheure Hungersnot über Rußland kommen würde, wenn jeder Bürger der
Republik den Ehrgeiz hätte, das Wahlrecht zu erwerben. Denn dann müßten
die Vertreter von Handel und Industrie, die auf Mietlinge angewiesenen Hotel¬
inhaber und hundert andere Kategorien des öffentlichen Werte- und Kräfteuinsatzes
ihren Beruf an den Nagel hängen. Die freie sozialistische Gesellschaft soll erreicht
werden, indem zunächst einmal der „Massenterror gegen die Bourgeoisie" (Lenin)
und nicht nur gegen diese proklamiert wird. Die Gleichheit und Gerechtigkeit der
Zukunft durch die ärgste Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gegenwart. Das
unterste wird zu oberst gedreht und das oberste zu unterst. In Moskau und
Petersburg hat jeder Arbeiter Anspruch auf zweieinhalbmal so viel Lebensmittel
als der Bourgeois, Damen der Gesellschaft aber verkaufen in den Straßen der
Hauptstadt selbstbereitete Kuchen, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Wieder¬
holt ist erklärt worden, außer dem Anrecht auf einen Spaten und für Greise
Aufenthalt in einem Armenhause habe niemand einen Anspruch, denn sonst könne
die Gleichheit aller nicht durchgeführt werden.

Die Neuerer handeln nach den Rezepten der Homöopathie, aber sie reichen
das Gegengift in so großen Mengen, daß nicht Heilung, sondern größerer Schade
als zuvor die Folge ist.. Dabei glauben sie vielleicht, mit ihrer Eisenbartkur
während einer Übergangszeit auskommen zu können. Die Diktatur des Proletariats
soll sich ja nach Art einer Erziehung von selbst überflüssig machen. Aber abgesehen
davon, daß die Verfassung mit keinem Worte das absurde Wahlrecht als provisorisch be¬
zeichnet, noch niemals in der Geschichte hat der Terror den Weg zurückgefunden, nach
ven er die Gewalten der Tiefe entfesselte. Er erstickte im eigenen Blute. Von allen
Seiten zieht sich das Unwetter gegen die Bolschewiki zusammen. Schon die Außen-
sowjets parieren nicht. Ans den Kreisen der sozialdemokratischen und der sozial-
revolutionären Partei erhebt sich schärfster Protest gegen die zügellose Tyrannei, die
den Teufel des Zarismus durch den Beelzebub der Anarchie zu vertreiben sucht.
Dazu die Gefahren der auswärtigen Lage! Je mehr sich die jetzigen Regierenden
Großrußlanvs ihrer Ohnmacht bewußt werden, desto verzweifelter suchen sie ihr
Heil in verschärften Schrecken. Das Ende aber kann nicht lange auf sich warten lassen.

Die Verfassung vom 11. Juli 1918 wird nie zu wirklichem Leben erwachen.
Trotz idealen Willens, denen man ihnen nicht abstreiten wird, haben die Bolsche¬
wisten ihre eigenen Theorien gründlich aä absuräum geführt, und die leiden¬
schaftslos urteilende Geschichte schreibt auch über ihr Werk wie über alle ähn¬
D lichen Bestrebungen seit Platos Zeiten das eine Wort: Utopie.




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[0206] Die Verfassung der Sowjetrepublik selbst die Freiheit von den Keller des absolutistischen Feudalstaates errangen, aber den Lohnarbeiter, ihren stummen Bundesgenossen, kaltherzig zum Bürger zweiter Klasse degradierten. Jetzt macht er den stolzen Bürger zum Paria des sozia¬ listischen Gemeinwesens, der keine Waffen tragen darf und vom Wahlrecht gleich den Irrsinnigen und Verbrechern ausgeschlossen wird. In Strindoergs „Traumspiel" sagt der Kohlenträger, ein Vertreter jener „gefährlichen Klasse", zu seinem Kollegen: Wir müssen wohl bald die Schafotte Herrichten und diesen verfaulten Körper operieren. Die Bolschewisten haben Schafotte hergerichtet und den verfaulten Körper des heiligen Nußland so gründlich operiert, daß an seinem Auskommen in dieser sozialistischen Welt gezweifelt werden muß. Man vergegenwärtige sich: ein Krämer, der für seine guigehenden Heringe und Gurken einen Ladenjüngling anstellt, ver¬ liert das Wahlrecht, da er gemietete Arbeit in Anspruch nimmt, um den flotten Verkauf durchführen zu können. Ebenso der tüchtige Bauer, der sich einen Knecht dingt, um intensiver sein Feld zu bestellen und so neben dem eigenen Zuwachs¬ gewinn doch auch die Produktion zu vermehren, also einen Leitsatz des sozialistischen Evangeliums zu erfüllen. Welch Hohn aus den Begriff des arbeitenden Volkes, wenn die Trägheit und Untüchtigkeit durch gesteigerte politische Rechte förmlich sanktioniert wird! Man schreibt die freie Entwicklung jeder einzelnen Persön¬ lichkeit als stolzen Wahlspruch auf dos Banner der sozialistischen Republik und erstickt in Wirklichkeit jeden Fortschritt. Mit Recht ist gesagt worden, daß eine ungeheure Hungersnot über Rußland kommen würde, wenn jeder Bürger der Republik den Ehrgeiz hätte, das Wahlrecht zu erwerben. Denn dann müßten die Vertreter von Handel und Industrie, die auf Mietlinge angewiesenen Hotel¬ inhaber und hundert andere Kategorien des öffentlichen Werte- und Kräfteuinsatzes ihren Beruf an den Nagel hängen. Die freie sozialistische Gesellschaft soll erreicht werden, indem zunächst einmal der „Massenterror gegen die Bourgeoisie" (Lenin) und nicht nur gegen diese proklamiert wird. Die Gleichheit und Gerechtigkeit der Zukunft durch die ärgste Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gegenwart. Das unterste wird zu oberst gedreht und das oberste zu unterst. In Moskau und Petersburg hat jeder Arbeiter Anspruch auf zweieinhalbmal so viel Lebensmittel als der Bourgeois, Damen der Gesellschaft aber verkaufen in den Straßen der Hauptstadt selbstbereitete Kuchen, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Wieder¬ holt ist erklärt worden, außer dem Anrecht auf einen Spaten und für Greise Aufenthalt in einem Armenhause habe niemand einen Anspruch, denn sonst könne die Gleichheit aller nicht durchgeführt werden. Die Neuerer handeln nach den Rezepten der Homöopathie, aber sie reichen das Gegengift in so großen Mengen, daß nicht Heilung, sondern größerer Schade als zuvor die Folge ist.. Dabei glauben sie vielleicht, mit ihrer Eisenbartkur während einer Übergangszeit auskommen zu können. Die Diktatur des Proletariats soll sich ja nach Art einer Erziehung von selbst überflüssig machen. Aber abgesehen davon, daß die Verfassung mit keinem Worte das absurde Wahlrecht als provisorisch be¬ zeichnet, noch niemals in der Geschichte hat der Terror den Weg zurückgefunden, nach ven er die Gewalten der Tiefe entfesselte. Er erstickte im eigenen Blute. Von allen Seiten zieht sich das Unwetter gegen die Bolschewiki zusammen. Schon die Außen- sowjets parieren nicht. Ans den Kreisen der sozialdemokratischen und der sozial- revolutionären Partei erhebt sich schärfster Protest gegen die zügellose Tyrannei, die den Teufel des Zarismus durch den Beelzebub der Anarchie zu vertreiben sucht. Dazu die Gefahren der auswärtigen Lage! Je mehr sich die jetzigen Regierenden Großrußlanvs ihrer Ohnmacht bewußt werden, desto verzweifelter suchen sie ihr Heil in verschärften Schrecken. Das Ende aber kann nicht lange auf sich warten lassen. Die Verfassung vom 11. Juli 1918 wird nie zu wirklichem Leben erwachen. Trotz idealen Willens, denen man ihnen nicht abstreiten wird, haben die Bolsche¬ wisten ihre eigenen Theorien gründlich aä absuräum geführt, und die leiden¬ schaftslos urteilende Geschichte schreibt auch über ihr Werk wie über alle ähn¬ D lichen Bestrebungen seit Platos Zeiten das eine Wort: Utopie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333844/206>, abgerufen am 22.05.2024.